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Küss den...Fisch! Der mächtige Neptun kennt keine Gnade – zur Huldigung  müssen die Täuflinge auf die Knie fallen.

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch Tag 10: „Werft die Sau über Bord!“

Auf der „Sea Cloud II“ spitzen sich die Ereignisse am achten Tag auf See zu: Nicht nur der Herrscher der Meere kommt mit Gemahlin und Hofstaat an Bord. Am Abend entern auch noch Piraten den Windjammer, um den Fischen ein elendes Schwein zum Fraß vorzuwerfen. 

Der erste tropische Tag unserer Crossing! Es wird an Bord immer schwüler. 26 Grad Celsius sind es am Morgen, die Luftfeuchtigkeit steigt und steigt. Fliegende Fische weichen dem Rumpf der „Sea Cloud II“ aus, die mit 12,8 Knoten in Richtung Karibik dieselt. Einige Fische segeln bis zu 30 Meter weit, ehe sie schließlich in einem der Wellenkämme wieder versinken. „Kommen die auch an Bord?“, fragt eine Reisende. „Nein“, sagt einer der vielen Repeater, der Wiederholungsreisenden, „es sind ja fliegende Fische und keine Helicopter-Fische – die Bordwände sind zu hoch für die.“

Ein Wunder, dass der Nikolaus heute Nacht an Bord kommen konnte: Anders als die „Sea Cloud“ hat die „Sea Cloud II“ ja keinen Schornstein, durch den er kommen könnte, sondern einen Auspuff. Und der liegt angesichts der rollenden Bewegungen des Schiffes immer mal wieder unter Wasser.

Der Mann in Rot platzierte Süd- und andere Früchte (gut gegen Skorbut!) sowie Kosmetikartikel in die am vergangenen Abend herausgestellten Schuhe. Ein Passagier hatte es sogar mit Sandalen versucht und auch Glück gehabt. Der Nikolaus muss beim Kapitän eine Ausnahmegenehmigung eingeholt haben, denn Stiefel hat auf diese Reise gewiss niemand mitgenommen.

Luis, unser mitreisender Mexikaner aus München mit dem fast Schweizer-deutschen Akzent, ist am vergangenen Abend wieder umgezogen – samt Panamahut und Baskenmütze. Er kann mit dem Kopf nur in Fahrtrichtung schlafen. Das hatte gleich nach der ersten Nacht zu einem Kabinenwechsel geführt. Seit wir unter Motor fahren, ist der sensible Weltreisende jedoch auch mit dieser neuen Kabine über Kreuz. Nun hat er die nächste ausprobiert – heute morgen sah er ausgeschlafen aus, scheint also die richtige zu sein. Damit hat Luis seinen Platz unter Deck gefunden. Das wünschen Luis die Mitreisenden. Das hofft zumal Hotelmanager Michael Frauendorfer – Luis' Umzugswünsche begannen etwas an seinen Nerven zu zerren.

Ein banger Vormittag an Bord: Die Begegnung mit dem König steht kurz bevor

Nach einer Woche an Bord ist es Zeit, Prophylaxe gegen einen möglichen Schiffskoller zu betreiben. Das Zaubermittel heißt: Lachen. Ursa, die auch ohne Animation über beide Backen strahlt – sie ist unsere Wellnessfee und Beauty-Queen – sieht dem weiteren Verlauf des Tages allerdings eher mit einem weinenden Auge entgegen. Zwar ist sie zum ersten Mal während einer Atlantiküberquerung an Bord. Und das heißt: Sie muss sich eine Taufe durch Neptun, den Herrscher der Meere, und seiner Gemahlin Thetis gefallen lassen, die mit Hofstaat an Bord gekommen sind.

Aber sie ist nicht scharf darauf, dass auf ihrem Kopf rohe Eier zerschlagen werden und als Vegetarierin möchte sie natürlich nicht mit einem toten Fisch geschlagen werden. Das ist nachvollziehbar, das kann ich verstehen, wäre da nicht auch die andere Seite. Denn das Vergnügen der Atlantiktaufe ist vor allem auf Seiten der Zuschauer. Auch das Lachen in der Schadenfreude befreit. Wobei: Auf der „Sea Cloud“, der 81 Jahre Windjammer-Lady, ging es in der Rückbetrachtung im vergangenen Jahr noch härter zur Sache.

Kurz hatte Ursa überlegt, ob ein Entkommen auch ohne einen Sprung in den Atlantik möglich sei und sich von mir die Bilder von der Neptuntaufe im Vorjahr zeigen lassen, die ich noch auf dem Laptop hatte. Auch Marlies aus Berlin, die die Transatlantikreise mit ihrem Mann Helmuth auf der letztjährigen Tagesspiegel-Weihnachtsauktion ersteigert hatte, riss angesichts des Bildmaterials die Augen weit auf. „Das soll ich mitmachen!?“, rieft sie aus, entsetzt: „Nö, das mach' ich nicht. Ich sehe zu, dass ich wieder von der Liste komme.“

Sie entschwand vom Lido-Deck in Richtung Rezeption. Dort stellte sich heraus: Es gibt keine Liste. Die Teilnahme ist freiwillig. Für die Passagiere allemal, doch auch Mitglieder der Crew werden verschont. Ursa sagt: „Ich kann umschalten, ich bin dabei, ohne dabei zu sein.“ Der neue Bordpianist Helge Herr hatte sich kurz vor der Zeremonie in seiner Kabine eingeschlossen. Auch er ist eigentlich fällig auf dieser Fahrt. Es war also ein banger Vormittag für einige an Bord: Auch die Erste Offizierin Kathryn Whittaker und die Dritte Offizierin Ioana Eremia dürften dem feuchten Treiben mit gemischten Gefühlen entgegengesehen haben.

„Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“

Noch ist die Sache nicht gegessen. Der Festschmaus mit dem flambierten Ferkel soll an diesem Abend ein jähes Ende finden.
Noch ist die Sache nicht gegessen. Der Festschmaus mit dem flambierten Ferkel soll an diesem Abend ein jähes Ende finden.

© Reinhart Bünger

Schließlich war es so weit: Neptun und Ehefrau Thetis rückten um 14 Uhr über das Promenadendeck an. Ihr grell geschminkter Hofstaat wurde vom verkleideten Bootsmann Mamikon Akopyan angeführt. Er hatte beim Einheizen mit der „Flüstertüte“ mächtig Spaß. Das Königspaar wurde von zwei Passagieren gespielt und beide schlugen an Bord eine ganz große Welle: Schließlich übergab ihnen Kapitän Evgeny Nemerzhitskiy kampflos sein Schiff.

Der Wellengang in den letzten Tagen war ja wirklich auch nicht ohne. Man muss Neptun nicht weiter reizen. Rund zwei Dutzend Reisende aus Reihen der Mannschaft und der Passagiere mussten sich vor den Beiden hinknien – die Hände eingeklemmt in ein Folterbrett. Von wegen fünf-Sterne-Schiff, das war einmal. Nun wurden sie mit einem toten Fisch (einem Lachs?) geschlagen, während andere aus dem Hofstaat ihnen mit groben Bürsten die Füße kitzelten. Sie mussten Neptun und Thetis die nach Fisch stinkenden Füße küssen. Ein Wellental der Gefühle und Gerüche.

Bei der dritten Offizierin Ioana Eremia war nicht auszumachen, wo das Lachen aufhörte und das erschreckte Schreien anfing. Dem Fischimbiss vorausgegangen war eine Kombüsen-Nummer: Eier wurden auf dem Kopf der Täuflinge zerschlagen, anschließend mussten sich die Deliquenten einige Suppenlöffel verdorbener Brühe gefallen lassen, die über ihnen ausgeschüttet wurden.

Station drei war dann der auf der „Sea Cloud“ gefürchtete „Waterboarding“-Schlauch, der auf der „Sea Cloud II“ aber nicht vom Hofstaat des Herrscher der Meere zugehalten wurde: So konnten die armen Täuflinge recht schnell durchrutschen, um sich dann aus einem C-Rohr mit Wasser bespritzen zu lassen. Einige schnappten wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft, während die Zuschauer auf der Brücke applaudierten – als wär's der erste Rang.

Die nächste Station: Doc Viktor verabreicht mit Patty Witzigmann als Nebendarstellerin in der Rolle einer Krankenschwester eine Spritze in die geöffneten Münder der Täuflinge. Es kann Meerwasser gewesen sein, muss aber nicht. Zu schlechter Letzt wurden die Untertanen in ein Becken mit Wasser geworfen – zur äußeren Reinigung. Die innere dauert angesichts der traumatischen Erlebnisse an.

Ein Kuss führt ins totale Desaster

Nach einer Stunde war alles vorbei, das heißt: fast alles. Die Duschen der „Sea Cloud II“ liefen nämlich auf Hochtouren, um den Fischgeruch aus den Haaren zu bekommen. Selten lag vor dem Abendessen so viel Parfum in der Luft der Kabinengänge. Das Schlimmste ist überstanden, wir können zum gemütlichen Teil übergehen. So dachten die meisten.

Doch weit gefehlt. Das „Piratengrillfest an Deck“ hatte es in sich. Mannschaft, Hotel- und Kreuzfahrtpersonal hatten sich mit Augenklappen und Degen zurecht gemacht; die Lido Bar war festlich geschmückt. Mit schwarzen Luftballons und dem Piratenzeichen. Die Passagiere fühlten sich heute den ganzen Tag über wie Zuschauer, die in der Kulisse eines Schauspiels unterwegs waren. Doch ein Knapp und es war geschehen: Das Schiff hatte sich kräftig nach Backbord gelegt, das eben flambierte Ferkel mit ihm.

Was dann passierte, war nur noch physikalische Gesetzmäßigkeit. Kurz: Es kam eins zum anderen und das Ferkel küsste den Schiffsparkettboden der Lido Bar. „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst, meine Herrn“, sang ich leise vor mich hin. Doch das letzte Wort sollte der Küchenchef haben. Caspar Meurer entschied: „Werft die Sau über Bord.“ Einige Passagiere wären am liebsten hinterher gesprungen, um das arme Schwein zu retten.

Zu spät, es war dem Untergang geweiht. Es sank in Neptuns Reich. „Nur in den Kochsendungen gibt es immer ein zweites Schwein“, sinnierte ein Mitreisender. Doch das hier ist ja das wirkliche Leben und so waren auch die Grillwürstchen gerade recht. US-Reisender Nick beschloss den Abend mit den Worten:„Anyway. It's been a wonderful day, like passing the equator.“

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