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Reisetagebuch Tag 12: Wenn der Wind schießt: Aus Kreuzfahrtgästen werden Seefahrer

Von langen Nächten und vollen Segeln, Liebesglück und Zahnschmerzen, Enten an Deck und einer vorbei fliegenden Raumstation.

Tag 12, Dienstag, 13. Dezember 2011

Spruch des Tages:„Unter den leichten Sommerweinen ist ja eigentlich der Cognac der beliebteste.“ (Passagier Niels zur Wahl des Tischweins zum Lunch.)

8:30 Uhr
Heute mussten wir mal ein wenig länger schlafen, denn gestern wurde bis in die Nacht hinein die rasante Fahrt der „Sea Cloud“ gefeiert. Bartender und „Sea-Cloud“-Legende Bebot Roldan – der Philippiner ist seit 1982 an Bord – sorgte dafür, dass die Flüssigkeitszufuhr auch nach 1 Uhr nachts nicht abriss. Zu diesem Zeitpunkt rauschte das Schiff immer noch unter vollen Segeln durch die Nacht. Unser Fernweh hatte an Deck Anker geworfen.

9:10 Uhr
Beim Frühstück freuen sich die Bordärzte Angelika und Heiko darüber, dass in der vergangenen Nacht auch die Tanzeinlagen auf den schwankenden Planken glatt gingen. „Wenn an Bord bei solchem Seegang getanzt wird, weiß man nie, wie es endet. Aber man weiß, wie es oft schon geendet hat“, sagt Heiko, der Segelmacher gelernt hat und Kardioanästhesist ist (das sind die „Weißkittel“, die vor der Narkose das letzte Wort zur Herz-OP sprechen). Er holt sich am Büfett noch einen Nachschlag: „Ich glaub’, ich lasse mir demnächst mal ’ne Magenvergrößerung machen“, sagt der 47-jährige Notfallmediziner. Die Bordärzte können ihren Patienten auf der „Sea Cloud“ übrigens das derzeit wohl schönste Wartezimmer der Welt anbieten: mit freiem Blick auf den blauen Atlantik, auf dem sich weiß-blau-türkisfarbene Schaumkronen kräuseln.
A propos Kronen. Einige Zahnprobleme können auch auf dem Segel-Oldtimer „Sea Cloud“ bewältigt werden. „Kronen und Füllungen können wir wieder so ankleben, damit es ein paar Tage hält“, sagt Angelika. Auch sie ist Kardioanästhesistin und Notfallmedizinerin. Bei Zahnwurzelentzündungen und wenig Land in Sicht hilft indessen nur die Zange  – oder eine Ferndiagnose aus Cuxhaven. Dort sind über ein Notfalltelefon Fachärzte rund um die Uhr für Schiffsbesatzungen ansprechbar. Jeder Passagier ist schließlich ein potenzieller Patient. Und so sehen die Bordärzte ihre Mitreisenden auf der „Sea Cloud“ mit ganz anderen Augen, wenn sie im Abfahrtshafen an Bord gehen.
Manja aus Münster setzt sich zu uns. Ihr Partner hat sie in der vergangenen Nacht aus dem Tiefschlaf geholt. „Was ist das für eine Randale da draußen?“, hatte er gefragt und sogar das Bett abgerückt, um den Geräuschen auf die Spur zu kommen. Es waren beileibe nicht die Feiernden auf dem Promenadendeck, die ihn aufgeschreckt hatten. Auch die Maschine war nicht der Grund des Übels, denn die lief in dieser Nacht mal wieder nicht, weil es tüchtig Wind gab. Es waren die Propellerschrauben, die sich bei stärkerem Seegang mit dem Heck aus dem Meer heben. Sie drehen sich dann in der Luft weiter, weil sie nicht festgestellt sind, weil das die Fahrt des Schiffes um einen Knoten verlangsamen würde. Beim Wiedereintauchen mit dem Heck in die See machen die Propeller dann allerdings ein ziemlich lautes Geräusch.

Das wird hier also jetzt mehr und mehr zu einer echten Seefahrt. Wir Passagiere laufen längst wie die Crewmitglieder breitbeinig über Deck. Inzwischen schaukelt es den gesamten Tag. Neptuns Atem geht kräftig und gleichmäßig. Herrlich. Können ruhig noch ein, zwei Windstärken mehr werden. Wir segeln 3500 Meter über Grund: Von uns aus könnten sie noch ein paar weitere Masten an Deck stellen. „So eine stürmische Überfahrt haben wir noch nicht erlebt, Erich“, sagt Lektorin Heidemarin Übelacker-Bröring zu ihrem Mann.

9:30 Uhr
Vor dem Bartresen auf dem „Lidodeck“  heißt es zu diesem Zeitpunkt immer „Bühne frei“ für den 1. Offizier Christian Haas. Ob das Briefing über die aktuellen Reisedaten heute endlich in die lang erwartete, für Sonntag angekündigte und mehrfach verschobene „nautische Plauderstunde“ über das „Segeln im Allgemeinen und Rahsegeln im Besonderen“ mündet? Nein, es gibt wieder nur das Briefing. Schade eigentlich. Wo wir doch so schön segeln, hätten wir gern mal gewusst, wie viele Segel und Masten auf einem Schiff wie diesem eigentlich Platz haben, ohne sich gegenseitig in der Funktion zu behindern. Wenn der Kapitän mal zu sehen ist, werden wir ihn fragen.

In der Spitze fahren wir jetzt 13 Knoten, nachts waren es zeitweise 14 – das ist für ein Schiff wie dieses eine Spitzengeschwindigkeit. Und so bekam es der Kapitän gegen 7 Uhr fast schon mit der Angst zu tun, als sich eine Regenfront näherte. „Da schießt der Wind gerne mal aus“, erklärt Haas und meint unberechenbare Windböen. Also wurde für kurze Zeit die Maschine der „Sea Cloud“ gestartet, um schnell auf Wetterkapriolen reagieren zu können: „Safety is our first priority on this flight“, sagt Haas.

Sternstunde auf dem Vordeck.

10:30 Uhr
Jetzt wird’s ein wenig butterfahrtmäßig: Gabi Eidam stellt die Touren von Sea Cloud Cruises für 2012 vor. Aber das interessiert ja auch viele: Azoren, Madeira, östliches und westliches Mittelmeer und der karibische Raum. „Wir wollen Sie in Ihre eigene Welt entführen“, sagt die Kreuzfahrtdirektorin etwas sybillinisch, zeigt jedoch tolle Landschaftsaufnahmen. Sie meint wohl unsere äußere Welt, nicht die innere. Mit Hilfe der Schiffe könnten neue Horizonte entwickelt werden. In der Tat: „Sea Cloud“ und „Sea Cloud II“ kommen mit ihrem vergleichsweise geringen Tiefgang auch dort hin, wo große Kreuzfahrtschiffe auf Grund laufen würden. Das gehört zu ihren Alleinstellungsmerkmalen. Schön und stilvoll sind sie obendrein.

11:15 Uhr
Termin für eine kleine Online-Recherche. Mal sehen, was es Neues in der Heimat gibt. Berlin: 0 Grad, Himmel hilf! Können wir nicht die Fahrt etwas verlängern? Immerhin steht die Internetverbindung. Radio-Offizier Dejan Orelj kann eben doch zaubern: Wir sind tatsächlich mitten auf dem Atlantik und bei diesem Wellengang online. Man darf staunen. Auch Mitsurfer Gordon ist glücklich, er sitzt schon seit einer Stunde vor seinem Notebook. Was er nur treibt?

Seine Frau kommt und fragt nebenbei die Kreuzfahrtdirektorin schon mal nach einer Kabine für die nächste Überfahrt. Kleiner Tipp: Das schönste Seegefühl vermitteln die Kabinen 14 bis 17 – das sind die ehemaligen Offizierskabinen auf dem Promenadendeck. Sie sind zwar winzig und haben Doppelstockbetten. Man kann ihre Türen jedoch nachts offen stehen lassen und ist so der See ganz nahe. „Willst Du nicht auch mit an Deck kommen, Gordon?“ – „Nein, danke“, knurrt der, „einer muss ja das Geld für die nächste Reise verdienen.“

12:30 Uhr
Lunchtime. Es sollen nicht schon wieder Teller zu Bruch gehen. Deshalb müssen wir heute leider drinnen bleiben, im Restaurant. Doch das Essen holen wir uns auf Seemannsbeinen draußen von Deck. Es gibt Ente mit Rotkohl und Klößen. Brust oder Keule? Vom Feinsten!

An Tisch vier ist die Stimmung bereits mächtig aufgekratzt. „Dann wollen wir uns mal eine zur Brust nehmen“, sagt Jens und meint nicht seine Susanne, sondern eine Flasche Champagner, die zur Feier des Tages geköpft wird. Beide feiern heute ihren 15. Hochzeitstag. Sie haben sich erst beide unabhängig voneinander in die „Sea Cloud“ verliebt, dann an Bord ineinander. Jens war auf einem Törn, den er eigentlich mit seiner Frau machten wollte. Doch die wurde schwer krank, die Reise abgesagt. Jens wurde Witwer und holte die Reise mit seinem Sohn nach – auch um Abschied zu nehmen. Für das gleiche Jahr – es war 1991 – buchten Vater und Sohn noch die Silvesterreise mit der „Sea Cloud“.

Dort lernte Jens die damals 21-jährige Susanne kennen, stilecht an der Reling. Das war in St. John's, Antigua. Das Ziel, dem wir entgegeneilen, war der Ausgangspunkt ihrer ersten gemeinsamen Traumreise durch die Karibik. Beim Kennenlernen sollte es noch besser kommen: Susannes Großvater hatte am Bau der „Sea Cloud“ in Kiel mitgearbeitet. Sie lief als „Hussar“ im April 1931 vom Stapel; Susannes Großvater väterlicherseits war als Schiffszimmermann auf der Germaniawerft tätig. „Für uns ist es das schönste Kreuzfahrtschiff der Welt“, sagen beide. Kann man verstehen.

14:15 Uhr
Höchste Zeit, in die Funkbude zu gehen. Dejan Orelj, der Radio-Offizier, bringt täglich über eine Satellitenverbindung das Bildmaterial für die Tagesspiegel-Onlineseiten auf den Weg. Doch die Aufgabe muss heute ein wenig zurückstehen. Gordon’s Frau hat ein dringendes Anliegen: „We have no light in cabin 13, the whole floor has no electricity.“ Wir wollen mal nicht hoffen, dass auf dem Oldtimer nun auch noch die Funkgeräte ausfallen. Na ja, wäre nicht sooo schlimm, es gibt ja Sextanten an Bord. Und, ganz entscheidend, Offiziere, die sie bedienen können.

Dejan Orelj, offiziell ETO (Electronic Technical Officer), ist ganz entspannt. Er kennt das schon. Stromausfall? Kein Problem: „I come with you.“ Er zwinkert mit den Augen: „Da sind wahrscheinlich wieder zu viele Haartrockner gleichzeitig eingeschaltet“, sagt er. Vermutlich wird nur ein Kippschalter wieder hochgeklappt. Kennen wir ja von zu Hause.

16 Uhr
Der „Chef de Cuisine“ kredenzt auf dem Promenadendeck Eiskaffee. Lecker, schön kühl. Die Temperaturen sind ja auch ganz ordentlich gestiegen, die Luft wird feuchter. Die Tropen nahen.

Und wieder gehen ungewollt einige Teller über Bord. „Die fliegen ja wie Frisbee-Scheiben“, wundert sich eine Mitreisende. Teller abstellen auf der Reling sollte wirklich verboten werden.

„Guck mal, Erich“, sagt Heidemarie Übelacker-Bröring zu ihrem Mann, „die sind ganz nass geworden.“

Durch die Fensterscheiben des Restaurants hat sie gesehen, dass auf der Backbordseite ein Brecher über Deck rauschte und einigen Mitreisenden zu einer unverhofften Dusche verhalf. Nix weiter passiert, aber tropfnass stehen sie nun da.

17:56 Uhr
Erich Übelacker, unser Lektor, ist nervös. Sehr nervös. Um 18:05 Uhr soll die Internationale Raumstation (ISS) unseren Kurs kreuzen und tatsächlich am Himmel zu sehen sein. Die Sonne ist um 17:24 Uhr schlafen gegangen. Der langjährige Leiter des Planetariums in Hamburg sucht den Himmel ab, sieht auch dorthin, wo die ISS eigentlich gar nicht hingehört. „Sie müsste 77 Grad hoch zu sehen sein, aber man kann nie wissen.“ Die ISS sei „nicht so hell wie die Venus, aber heller als Jupiter.“

32 Augenpaare richten sich auf dem Vordeck gen Himmel. Auch die Crew schaut nach oben. Normalerweise dürfen wir das Vordeck gar nicht betreten, es ist der Mannschaft vorbehalten. „Don’t kill me.“ Erich Übelacker hat jetzt richtig Angst, dass er Termin und Position eventuell durcheinander gebracht hat. Doch dann brandet Applaus auf. Alles in Ordnung, die ISS ist auf ihrer Umlaufbahn und nur lächerliche 400 Kilometer entfernt von uns klar zu erkennen. Dann wandert sie mit uns weiter in Richtung Heck. Und dann ganz plötzlich – ist sie weg.

0:00 Uhr
Es brist ganz schön auf. Das Barpersonal soll von der Brücke Order bekommen haben, alles festzuzurren für einen aufziehenden Sturm. Es rollen vom Heck kommend große Wellen durch das Schiff. Angeblich hat unser Kapitän mit ehemaligen „Sea Cloud“-Kapitänen eine Wette laufen, wer prozentual die meisten Meilen auf der Atlantik-Überquerung unter Segeln macht. Wir laufen fast unter Vollzeug. Wette hin oder her – vielleicht hätten wir doch die Segelfläche reduzieren sollen...

Reisekoordination

Koordinaten Tag 12, Dienstag, 13. Dezember 2011

Position um 8 Uhr morgens:

19 Grad, 48 Minuten nördlicher Breite,

43 Grad, 43 Minuten westlicher Länge

Wassertiefe: zirka 3500 Meter

Außentemperatur: 25 Grad Celsius

Wassertemperatur: 26 Grad Celsius

Luftdruck 1015 Hektopascal

Fahrtgeschwindigkeit aktuell unter Segeln: 13 Knoten

(alle Rahsegel gesetzt, auch nachts mit Vorstengestagsegel, Besan und Besantopsegel)

Nachtfahrt ohne Motorunterstützung

Gesegelte Entfernung von Montag, 12.12.2011 (8 Uhr)

bis Dienstag, 13.12.2011 (8 Uhr): 211 Seemeilen

Windstärke 5 unverändert aus östlicher Richtung

Entfernung bis zum Fahrtziel St. John's (Antigua): 1060 Seemeilen (=Reststrecke).

Zurückgelegte Gesamtstrecke: 2245 Seemeilen

Kurs 240 Grad

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