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Reisetagebuch Tag 13: Der Fluch der Karibik: Im Ostwind dem Westwind entgegen

Aal zum Frühstück, schlechte Nachrichten vom Kapitän, Operation „Segel einholen“, mal wieder viel Seemannsgarn und auch erste Gefühle von Abschied. Das Bordtagebuch von Reinhart Bünger

Tag 13, Mittwoch, 14. Dezember 2011

7:30 Uhr
Henrike gehört immer mit zu den Ersten und den Letzten, die an Deck zu sehen sind. Sie schaut sich die Sonnenaufgänge an und geht nach den Sonnenuntergängen noch lange nicht schlafen. Wie macht sie das nur? Vielleicht liegt es an der guten Verpflegung. Heute Morgen zweifelt sie aber ein wenig, ob die Geschmacksrichtung stimmt: Zum Frühstück gibt es Aal. Unter anderem, natürlich. „Verträgt man das auf nüchternen Magen?“, fragt sie etwas unsicher in die Runde. „Kommt auf Deinen Magen an, Henrike“, lautet die wohlmeinende Antwort.

Wird schon schief gehen. Einfach mal probieren. Der Aal muss ja frisch sein. ;) Wir sind schließlich inmitten der Sargassosee, einem Meeresgebiet östlich von Florida und südlich der Bermuda-Inseln, wo der Amerikanische Aal und der Europäische Aal laichen. Von hier aus finden die geschlüpften Jungtiere auf wundersame Weise den Weg in die Seen und Flüsse ihrer jeweiligen Kontinente. Allerdings hat niemand den Smutje angeln sehen.

9:30 Uhr
Oh, ein ungewohntes Gesicht beim täglichen Briefing. Neben dem 1. Offizier Christian Haas steht Kapitän Wladimir Pushkarew auf dem Lido-Deck. Die Passagiere sehen es mit Freude. Denn der Präsentation der Reisedaten folgt ein nautisches Viertelstündchen. Der Kapitän hat etwas mitzuteilen: Vor uns liegt eine Kaltfront. Der Wind dürfte mit 15 Knoten wehen, allerdings aus West. Ein Frontalangriff. Da müssen wir durch. Das geht aber nicht unter Segeln.

Nicht, weil die durch den zu erwartenden Regen ziemlich nass werden, sondern weil voraussichtlich irgendwann in den kommenden 18 bis 24 Stunden auch eine Weile gar kein mehr Wind wehen wird. Und wenn der dann zurückkommt, wissen wir noch nicht aus welcher Richtung. Er könnte aus Nord kommen. Dann gibt es Kreuzseen –  und das wäre richtig schlecht. Auf jeden Fall steht morgen in der Frühe schwerer Regen an. Später können auch nordöstliche Winde wehen.

Wer will das schon definitiv vorhersagen? Also erst einmal runter mit den „Lappen“ und zwar vor dem Sonnenuntergang um 17:43 Uhr. Um 17 Uhr soll die Operation „Segel einholen“ beginnen. Bis dahin bleibt es auf jeden Fall noch schön. Leider sind die Wellen immer noch drei Meter hoch – zu viel, um einfach mal schwimmen zu gehen, sagt der Kapitän. Man könne sicher in die See springen, nur zurück sei dann schwierig. Auch mit einer schnellen Zodiac-Fahrt um die „Sea Cloud“ wird es dieses Mal wohl nichts. Immerhin: Es gibt ja Postkarten an Bord.

Das schlechte Wetter wollen wir schnell hinter uns lassen und dann zum Endspurt ansetzen. Aus der Runde der Passagiere kommt der viel beklatschte Vorschlag, auf den Anspruch einer Fünf-Sterne-Küche für ein, zwei Tage zu verzichten und mittags Lunchpakete auszugeben. „Sicher könnten wir noch mal brassen und die Lee-Reling mal sauberspülen – und Sandwiches essen, doch der Kapitän trifft die Entscheidungen, nach der Maßgabe ,Safety First’ “, sagt der 1. Offizier. Wladimir Pushkarew will den Vorschlag überdenken.

10:15 Uhr
Günter, unser 86-jähriger Oldtimer, ist wegen des geplanten Einholens der Segel schon ganz aufgeregt. Er trägt rund um die Uhr ein kleines Fotoalbum bei sich und zeigt es jedem gerne: Günter mit seiner viel jüngeren Frau, Günter mit seinen Söhnen, Günter vor zwei Jahren hoch oben auf den Rahen beim Segeleinholen auf dem Großsegler „Kruzenshtern,“ Günter mit..... Doch halt! „Kruzenshtern“? Das war doch gleich...? „Ja, das ist die Ex-,Padua’ von den sogenannten Flying-P-Linern der Reederei Laeisz in Hamburg“, sagt Günter, „das Schwesterschiff der ,Pamir’, die in den fünfziger Jahren im Hurrikan gesunken ist.“

Wir sind sprachlos. „Und dort auf der ,Kruzenshtern’, holst Du die Segel ein, Günter?“ Es wäre nichts weiter dabei, wenn man das gelernt habe, meint das ehemalige Mitglied der deutschen Kriegsmarine. Bis 1939 war die „Padua“ in der Weizenfahrt eingesetzt und kam 1946 unter sowjetische Flagge. Heute kann man gegen Geld und Arbeitseinsatz mitfahren. Die „Kruzenshtern“ ist durchaus mit der „Sea Cloud“ vergleichbar, wenn auch nicht in allen Punkten.

Doch die Größe stimmt schon mal, so in etwa: Verdrängung rund 3000 Tonnen, 114 Meter lang, 3400 Quadratmeter Segelfläche. Auch die „Kruzenshtern“ ist ein majestätisches Schiff. „Aber bei weitem nicht so luxuriös wie die ,Sea Cloud’ “, erzählt Günter. Man kann als „Trainee“ mitfahren und muss mit Hand anlegen. Die Unterbringung ist schlicht: Etagenkojen in Divisionsräumen mit acht bis zwanzig Kojen. Männlein und Weiblein bunt gemischt. Nichts für Schnarcher, beziehungsweise schnarchempfindsame Gemüter.

Krimi-Dinner auf der Sea Cloud: Trinkt aus Piraten Yo-ho...

11:30 Uhr
Alles läuft heute auf 17 Uhr zu. Auch der Kapitän. Er inspiziert schon mal das Deck und gleitet mit seinen Augen an den Seilen auf und ab. „Käpt’n, wir hätten da noch mal eine Frage.“  „Fragen Sie“, antwortet er mit breitem Lächeln. Uns Passagiere treibt ja das Problem um, ob die Masten auf der „Sea Cloud“ nicht zu dicht an dicht stehen. Ja, sagt der Kapitän, aber die Auftraggeber dieser Jacht hätten das damals so gewollt, um mit dem Langkieler noch mehr herzumachen. Das Schiff sieht zwar toll aus, aber nehmen sich die Segel nicht gegenseitig den Wind weg? Der Kapitän bestätigt das. Am besten sei es, wenn die Puste etwas von der Seite komme, dann würden alle Segel aufgeblasen.

12:22 Uhr
Niels, gelernter Seemann, ist auf dem Weg zum Mittagessen. Wie Günter zehrt er von den Erinnerungen an seine neun Jahre auf See. In seinem Falle waren das Törns in alle Welt, viele Fahrten nach Ostafrika. Allerdings hat Niels nicht für jede Situation ein Foto parat. Der Sylter hat noch bei der Reederei Laeisz, die die „Flying-P-Liner“ betrieb, gelernt: Matrose. Auch das Schiff, auf dem er für Laeisz fuhr, begann mit einem „P“, doch es war kein Segelschiff mehr.

Sondern ein Frachter. „Meiner hieß ,Pelion’, das war 1958“, erinnert sich Niels. Wie ist er auf dieses Schiff gekommen? „Nach der Schiffsjungenschule haben sie mich gefragt: Welches Schiff willst Du haben? Und ich habe gesagt: Das am weitesten wegfährt.“ Der Dampfer war als erstes deutsches Schiff nach dem Krieg an eine israelische Reederei verchartert, erinnert sich Niels. „Die Offiziere liefen da an Bord noch mit einer Kanone am Gürtel herum.“ Rund 13 Monate ist er auf der „Pelion“ geblieben.

15:00 Uhr
Heute Abend soll es ein Piraten-Barbecue geben. Nach dem etwas undurchsichtigen Krimi-Dinner läuft heute alles rund. Die Waffen- und Kleiderkammer der „Sea Cloud“ gibt passende Accessoires aus: Augenklappen, Modeschmuck, kleidsame Tücher und Plastikdolche. Hotelchef Simon Kwinta, schon bei der Transatlantik-Taufe auf die Rolle des Piraten-Kapitäns abonniert, gibt die Parole aus, am Abend nicht das Lido-, sondern das Promenaden-Deck zu entern. Da ziehe es nicht so. Schöner Pirat.

17:00 Uhr
Es ist soweit: Die Segel-„Strippenzieher“, Deck Hands genannt, haben ihren großen Auftritt. Die Fotoapparate sind gezückt, die Camcorderbatterien frisch geladen, als der Kapitän das Kommando gibt, die Segel einzuholen. Zuerst die obersten. Sie werden mit Seilen hochgezogen und müssen dann noch befestigt werden, damit sie nicht im Wind schlagen und zerreißen. Die Deckmannschaft klettert auf die Rahen, nach einer halben Stunde ist alles vorbei, alle Segel sind festgebunden.

Der Gegenwind kann kommen. Gegen unsere beiden Dieselmaschinen wird er nichts ausrichten. Wehmütig verkleiden wir uns als Piraten. Hoffentlich sehen wir das Segeleinholen auf dieser Reise, die schon bald zu Ende geht, noch einmal. Erste Gefühle von Abschied und Wehmut.

21:30 Uhr
Eine junge Frau aus Usedom bedient die Piraten am Grill. Es gibt Gambas, Thunfisch-Steaks und Lendchen vom Lamm. Weinempfehlung: „Nero d’Avola“ aus Sizilien. Die 26-jährige Insel-Deern sollte eigentlich schon in Portugal von Bord gehen und in die Weihnachtsferien starten. Dann durfte sie die Transatlantik-Überquerung doch noch mitmachen. Sie freut sich jetzt allerdings auf besinnliche Weihnachten zu Hause an der Ostsee und denkt auch daran, abzumustern.

„Ich muss mir jetzt bald mal was an Land aufbauen, ich habe ja noch nicht einmal eine Wohnung“, sagt sie, „nur ein Auto – und natürlich meine Eltern.“ Wasser müsse natürlich in der Nähe sein. Einen Mann, eine Familie – auch dieser Traum soll wahr werden. Die Küchenmitarbeiterin der „Sea Cloud“ fühlt einen gewissen Zeitdruck. Wir stellen sie einem Passagier vor, der in Sylt vom Fremdenverkehr lebt. Vielleicht wird es ja was.

21:45 Uhr
Die „Sea Cloud“-Shanty Singers haben ihren großen Auftritt. Dieses Mal ließ der Kapitän offenbar mehr Rum ausgeben als bei einem ähnlichen Gesangseinsatz vor einigen Tagen: Die männlichen Stimmen klingen dieses Mal fester, keine Chance für die Piratenbräute im Chor. Berührend gerät das letzte Stück vor der Zugabe, „Sailing“. Bei gedämpftem Licht kommen sich auch zwei Passagiere näher. Er zu ihr: „Sie können mich ja mal besuchen. Ich habe auch eine Plattensammlung – für den Notfall.“

Reisekoordinaten

Reisedaten SY „Sea Cloud“

Position um 8 Uhr morgens:

18 Grad, 51 Minuten nördlicher Breite,

47 Grad, 19 Minuten westlicher Länge

Wassertiefe: zirka 3200 Meter

Außentemperatur: 26 Grad Celsius

Wassertemperatur: 27 Grad Celsius

Luftdruck 1015 Hektopascal

Fahrtgeschwindigkeit aktuell unter Segeln: 8,6 Knoten (alle Rahsegel gesetzt, außer Skysegel, auch nachts mit Vorstengestagsegel, Besan und Besantopsegel)

Seit fünf Tagen nur Segeln! Dabei zurückgelegt: 864,4 Seemeilen

Gesegelte Entfernung von Dienstag, 13.12.2011 (8 Uhr)

bis Mittwoch, 14.12.2011 (8 Uhr): 214 Seemeilen

Windstärke 5 unverändert aus östlicher Richtung

Entfernung bis zum Fahrtziel St. John’s (Antigua): 848 Seemeilen (=Reststrecke).

Zurückgelegte Gesamtstrecke: 2458 Seemeilen (Segelanteil davon 56 Prozent)

Kurs 240 Grad

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