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Kein Land im Sicht. Die "Sea Cloud II" steuert die Kapverden an.

© Sea Cloud Cruises

Reisetagebuch Tag 3: „Passagier an Brücke, bitte kommen!“

Die Telefonnummer 500 sollten sich Reisende auf der „Sea Cloud II“ merken. Tagesspiegel-Redakteur Reinhart Bünger sah sich nachts vor eine Wahl gestellt.

Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt. Auch mitten in der Nacht. „Captain Nemerzyhitskiy, I need your help“. Die passenden Worte hatte ich mir schon zurecht gelegt. Nachdem ich meinen Eintrag ins Online-Tagebuch  vom Internetstützpunkt in der Lounge via Satellit in Richtung Berlin abgesetzt hatte, freute ich mich auf mein Bett. Zwar wurden die Schiffsuhren um 2 Uhr um eine Stunde zurückgestellt, und ich konnte wie alle Gäste an Bord eine Stunde länger schlafen. Doch das blieb in diesem Fall Theorie, denn ich kam in meine Kabine nicht rein.

Die Tür mit der Nummer 306 war verschlossen wie Fort Knox. Sie ließ sich nicht mehr öffnen. Jedenfalls nicht mit meinem Plastikschlüssel. Nachdem ich alle vier Möglichkeiten durchprobiert hatte, meine Bordkarte mal so rum, mal so rum zum Öffnen der Tür zu bewegen, blieben nur zwei Möglichkeiten. In einem der Rettungsboote schlafen gehen – warm genug war es ja – oder jemanden zu Hilfe holen. Aber wer konnte das sein, um 1.30 Uhr nachts?

Die letzten hatten das Licht ausgemacht. Neptun-sei-Dank haben sie an der Rezeption für solche und medizinische Notfälle die Durchwahl der Brücke hinterlegt. Ich wählte die 500. Es nahm auch sofort jemand ab, vielleicht war es der Kapitän aus Estland, vielleicht war er es auch nicht. Nach zwei Minuten nahte Hilfe, doch der dienstbare Bordgeist mit der Universal-Schlüsselkarte bekam nach zwei Anläufen Schweißperlen auf der Stirn. Wieder rührte sich nichts. „Türlein, Türlein, öffne Dich.“ Auch diese Zauberformel war ein Schlag ins Wasser. Der Mann sah schließlich sehr entschlossen aus, und da hat die Tür wohl Angst bekommen, schließlich ging sie doch auf

Nach Sonnenaufgang war die Rezeption wieder besetzt. „Ja, das ist ein Problem, wir hatten die Firma, die die Schlösser eingebaut hat, schon an Bord. Hat aber noch nichts gebracht“, sagte die freundliche Hotelfachfrau und strahlte ihr schönstes Lächeln. Die Magnetstreifen werden immer wieder unfreiwillig durch Handys fehlprogrammiert, erklärte sie. Am zweiten Tag hat sich das meist erledigt: Die Mobiltelefone haben dann keinen Empfang mehr und wandern meistens in die Koffer. Man kann sich natürlich auch über das Bordnetz in den Satellitenfunk einwählen. Aber diese Geschäftigkeit muss ja nicht sein. Die neu kodierte Karte ist schnell wieder einsatzfähig.

Wir schippern parallel zur Küste Afrikas in Richtung Kapverden. Allerdings ist weit und breit kein Land in Sicht. Und auch keine Piraten. Die Frühaufsteher der Crew haben zum Sonnenaufgang schon einmal einen paar Thermoskannen Kaffee auf die Theke der Lido Bar im Heck und ein paar Croissants bereitgestellt. Bärbel ist mit ihrem Bademantel auch schon an Deck. „Wir liegen gut drin“, sagt die passionierte Seglerin und Ärztin zu unserer stabilen Seitenlage in der See. Was für ein Luxus, wenn man so den Tag beginnen kann. Das darf man ja keinem erzählen! Anschließend wartet das Restaurant mit gedeckten Tischen auf. Das Buffet bietet Fünf-Sterne-Standard: frisch gepresster Orangensaft, Eggs, Bacon & Co.

Apropos, da wollen wir doch bei Hoteldirektor Michael Frauendorfer gleich mal nachfragen, was der Proviantmeister in Las Palmas für die „Crossing“ so geordert hat. Hier ein Auszug aus der Ladeliste: 2500 kg Fleisch, 600 kg Fisch, 700 Liter Milch, 500 kg Käse, 100 kg Kaffee, 120 kg Schokolade und Pralinen, 4500 Flaschen Wein, 600 Flaschen Champagner (einige wurden gleich beim Auslaufen in Las Palmas geköpft), 5000 Flaschen Wasser, 2800 kg Obst und Gemüse. Das dürfte bis Barbados für rund 110 Passagiere und Crewmitglieder reichen. Und weil am Ende ja alles irgendwo bleiben muss: 2500 Rollen Toilettenpapier.

Wo ist eigentlich Ursula geblieben? Sie sah gestern Abend etwas blass um die Nase aus. Der Wellengang ist ja eigentlich gemütlich. Für die einen. Anderen macht auch leichte Dünung etwas aus. Ach, da steht Ursula vorne auf dem Vordeck und beobachtet, wie die Segel hochgezogen werden. „Wie geht’s denn, Ursula?“ - „Inzwischen geht es wieder.“ Ursula, Berufsmusikerin aus Sachsen (Cello), kommt aus dem Staunen an Bord gar nicht wieder heraus. Nicht nur, dass sie in der vergangenen Nacht – gegen ihren Willen – ganz langsam von einer Seite des Bettes auf die andere bewegt wurde.

"Was ist, wenn ich springen will?"

Seit' an Seit'. Das Segelsetzen erfordert neben Muskelkraft koordinierte Teamarbeit.
Seit' an Seit'. Das Segelsetzen erfordert neben Muskelkraft koordinierte Teamarbeit.

© Reinhart Bünger

Auch die Bewegungen des Bugs der Sea Cloud II sind ihr noch immer ein Rätsel. „Ich dachte immer, dass der Bug sich stärker ins Wasser bewegt als das Heck – aber so ist es nicht“, sagt Ursula ratlos. So eine erste Schiffsreise über den Atlantik ist voller Wunder. Für Ursula besonders wichtig: Die Transaltantikreisen mit Großseglern führen mitten durch ein Reich der Stille. Und das erleben wir mit Ursula ab 10 Uhr 30. Zu diesem Zeitpunkt schweigen nämlich die Antriebsmaschinen, und wir werden vom Wind getragen, erst mit 5,5, dann mit 7 und 8 Knoten über Grund.

Den ganzen Tag geht das so und auch die kommende Nacht. Doch zurück zu Ursula. Sie staunt über das Meer. „Es strahlt so eine Ruhe aus, obwohl es bewegt ist. Doch die Bewegungen haben nichts Eckiges, nichts Kantiges.“ Vielleicht ist das Meer, so wie sie es erlebt, so rund wie die Musik, die Ursula schätzt und spielt. Was wird Ursula sagen, wenn das Meer vom Graublau und Blautürkis wechselt, in einigen Tagen?

Die meisten Segel, vor allem die großen Royal-Segel, sind jetzt gesetzt, und wir kommen in Fahrt – der Rahsegler liegt stabil in den Wellen. Jeder sucht sich nun an Bord seinen Platz, liest, döst oder unterhält sich – mit sich selbst oder seinem Partner

Um 11 Uhr 15 reißt uns der Schiffsalarm aus der Ruhe. Noch einmal hat die Sicherheitsoffizierin Iona Eremia aus Rumänien das Wort. Der zweite Teil der Sicherheitsübung führt uns an die Rettungsboote. „Im Falle des Falles sollten es nicht mehr als vier oder fünf Meter sein“, sagt Iona. „Wenn sie springen wollen: Machen Sie einfach einen Schritt über die Reling. Und ziehen Sie ihre Rettungsweste am Kragen nach unten, wenn Sie springen. Das verringert die Verletzungsgefahr am Kinn.“

Erlauben Sie einen Einwand, Frau Eremia? Was ist, wenn ich nicht springen will? „Dann nehmen Sie die Außenleiter“, sagt sie bestimmt. Okay, denken wir uns, ist ja auch ein Fünf-Sterne-Schiff. Nehmen wir eben die Außenleiter. Das Fahrtenschwimmer-Abzeichen, das mit einem Sprung vom 3-Meter-Brett endete, ist mir in schlechter Erinnerung geblieben. Für die Besatzung heißt es übrigens mit Blick auf das Besteigen eines der beiden Rettungsboote: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Aber auch das ist kein Weltuntergang. Die Besatzung nimmt dann in den weniger komfortablen Rettungsinseln Platz und bedient von dort aus.

Inzwischen hat die Schiffsführung festgestellt, dass die Segel noch nicht prall gefüllt sind – was nicht am Wind liegt, sondern daran, dass die Segel noch nicht „glattgebügelt“ sind. Die Mannschaft muss noch einmal ran und zieht die Leinen nach. Jetzt ist alles straff, und auch unsere Gesichtszüge glätten sich – ganz ohne (medizinische) Kräfte. Ursula staunt.

Am Nachmittag bittet Lektor Tim Kröger zum Vortrag. Ein echtes Highlight für die passionierten Segler unter den Mitreisenden: Kröger blickt auf 25 Jahre leistungsorientierten Segelsport zurück, der Bremer gewann als Crewmitglied den Weltmeister-Titel in der Admiral's Cup-Klasse 36, hat die Welt umsegelt und nahm an olympischen Wettbewerben teil. Um es kurz mit einer Liedzeile von Bob Dylan zu beschreiben: „Kröger doesn't need the weatherman to know which way the wind blows.“ Wo andere Benzin im Blut haben, arbeitet Kröger mit Windenergie. Sein mit Filmsequenzen untermalter Vortrag kam ohne heiße Luft aus. Chapeau!

Der erste Tag auf See endet um 18.09 Uhr mit dem Sonnenuntergang; der Abend und die Nacht beginnen.

Gut zu wissen, welche Durchwahl die Brücke hat.

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