zum Hauptinhalt
Ausreichend Wind: Die Maschine muss nicht mitlaufen. Es ist ein 24-Stunden-Segeltag.

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch - Tag 4: Wenn die See das letzte Wort hat

An Bord der „Sea Cloud II“ kreuzen sich am zweiten Seetag die Wege unseres Redakteurs Reinhart Bünger mit drei großen Schweigern auf Transatlantikfahrt.

Der Nordostwind treibt uns mit Stärke 4 beständig auf südlichem Kurs hinaus, dort hin, wo die Passatwinde die „Sea Cloud II“ in Richtung Karibik abholen sollen. Kapitän Evgeny Nemerzhitskiy aus Tallin (Estland) hat um acht Uhr mehr Tuch setzen lassen, damit der Großsegler schnellere Fahrt macht und gleichzeitig stabiler im Wind liegt. Bootsmann Mamikon Akopyan aus Armenien macht seinen Leuten mit Händen und Füßen klar, was er von ihnen will, denn er hat die Sprache verloren. Wenigstens heute. Unfreiwillig ist der Mann, der sonst so lautstark seine Kommandos gibt, zum Schweiger geworden. Doch Mamikons „Deckhands“, die Decksjungen, haben auch so verstanden. Sie lassen nun auch das „Gross Royal“ runter und ziehen das „Stengestagsegel“ am Besanmast hoch.

Wir laufen 105 Seemeilen parallel zur Küste Afrikas – in der geografischen Höhe der westlichen Sahara. Einigen wenigen Passagieren ist immer noch etwas flau im Magen.Indes: Von aufgewühltem Fahrwasser ist nichts zu sehen. Und doch macht die „Sea Cloud II“ ihrem Namen alle Ehre. Im lauen Lüftchen wiegt sich der Rahsegler von der einen Seite auf die andere, wie eine Quietscheente in der Badewanne. Der Atlantik hält uns gerade einmal mit Stärken 3 bis 4 in Bewegung. 2562 Seemeilen liegen um 16 Uhr noch vor uns, 338 Seemeilen haben wir zurückgelegt; knapp die Hälfte davon unter Segeln. Wir laufen sieben bis acht Knoten über Grund. Alles in allem liegen wir damit im klassischen Schnitt der „Sea-Cloud“-Schiffe bei den Atlantik-Überquerungen. Besonders schön: Bei dieser Geschwindigkeit muss die Maschine nachts nicht laufen, um den Zeitplan einzuhalten. Allein der Generator für die Stromerzeugung brabbelt leise vor sich hin. Wir genießen einen 24-Stunden-Segeltag mit allem was uns der Himmel so schickt: ein bisschen Regen, ein bisschen Sonne, einige Wolken und zwei Möwen, die offenbar auf Fische fliegen.

Die Zeit vergeht wie im Flug

Sonnenuntergang: Am zweiten Tag der Reise geht es noch gen Süden.
Sonnenuntergang: Am zweiten Tag der Reise geht es noch gen Süden.

© Reinhart Bünger

Nach zwei Tagen an Bord tauen heute zwei allein reisende Männer auf. Da ist zum einen Norbert aus Hannover und der Mann mit dem Panamahut und der Baskenmütze– wie sich beim Frühstück herausstellt ist er ein Mexikaner, der in München und bei Rom lebt. Bis auf den heutigen Tag waren beide stille Genießer und Suchende, die freundlich in sich hinein und ihre Mitreisenden anlächelten. Heute fingen sie an sich zu öffnen, redend zu öffnen. Wenn es Norbert aus Hannover und den Mexikaner aus München mit dem Panamahut und der Baskenmütze nicht gäbe, müsste ich sie erfinden. Beide sind ganz typische „Sea-Cloud“-Passagiere, wie geboren für Reisen auf der „Sea Cloud“ und der „Sea Cloud II“. Norbert genießt die Seetage in vollen Zügen. „Ich kann gar nicht sagen, was ich da den ganzen Tag an Bord mache“, sagt er mir. „Was ich sagen kann ist aber: Eigentlich habe ich keine Zeit.“ Keine Zeit zum Beispiel, um ein Buch zu lesen. Immer sei da an Deck etwas Interessantes zu beobachten. Von früh bis spät.

Passagier Norbert ist schon ein Veteran

Kapitän Evgeny Nemerzhitskiy: Auch die Crew wächst auf einer solchen Reise wie eine Familie zusammen.
Kapitän Evgeny Nemerzhitskiy: Auch die Crew wächst auf einer solchen Reise wie eine Familie zusammen.

© Reinhart Bünger

Schon 15 Male ist er mit „Sea Cloud“ und „Sea Cloud II“ unterwegs gewesen. „Die meisten Passagiere kommen nicht weiter als bis Seite 10 ihrer mitgebrachten Bücher“, hat er beobachtet. Ja, beide Schiffe seien schon so etwas wie ein zweites Zuhause; für ihn. Für die Transatlantikfahrten ist Norbert fest gebucht. Eher selten sagt er den Sea Cloud Cruises in Hamburg, wenn er nicht mitfahre. „Wenn ich mitfahre, habe ich immer die gleiche Kabine.“ - „Wie bist Du denn auf diese Schiffe gekommen, Norbert?“. Er liebe die See, sagt er und die käme bei vielen Kreuzfahrten zu kurz. Manches Schiff liege tagsüber im Hafen, wo die Passagiere zu Landausflügen entlassen werden. Nachts – wenn man schlafe – werde dann in See gestochen. „Für mich sind das zu wenige Seetage“, befindet Norbert.

Platz mit Ausblick: Bei sonnigem Wetter und etwa 22 Grad stört höchstens der teils heftige Wind.
Platz mit Ausblick: Bei sonnigem Wetter und etwa 22 Grad stört höchstens der teils heftige Wind.

© Reinhart Bünger

Und dann ist da das familiäre Verhältnis zwischen Passagieren und Mannschaft, das sich während einer Atlantik-Passage ganz automatisch ergebe, auf einem riesigen Kreuzfahrtschiff aber nicht einstellen könne. „Es wächst alles sehr zusammen, auch die Mannschaft untereinander.“ Genau besehen, gebe es nur eine Mannschaft für die beiden „Sea Clouds“, denn sowohl das seemännische wie auch das Servicepersonal ist mal hier, mal dort an Bord. Auch das trage zu einem gemeinsamen Geist bei. „Für mich ist es ein zweites Zuhause – man wird ja auch so empfangen“, sagt der Pensionär, dessen Gesicht vermutlich auch nachts vor innerer Freude strahlt.

Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit

Weit oben: Die Arbeiten auf den Masten ist nichts für Leute mit Höhenangst.
Weit oben: Die Arbeiten auf den Masten ist nichts für Leute mit Höhenangst.

© Reinhart Bünger

Auch der Mann mit dem Panamahut und der Baskenmütze ist ein großer Schweiger. Wie Norbert. Doch bei ihm ist es nicht der stille Genuss und die Freude, die ihn schweigen lässt, sondern die konzentrierte Suche nach einem Band an Bord, das ihn, den Kunsthistoriker und Kosmopoliten, mit der Vergangenheit verbindet. „Ich bin Mexikaner“, sagt er im Zungenschlag eines Schweizerdeutschen und setzt sich zu mir an den Frühstückstisch. „Darf ich?“. Ja, gerne, wir hatten uns ja schon zwei Tage lang angelächelt und wohl beide gefragt, was den anderen auf dieser Segelreise von Las Palmas nach Barbados wohl so umtreibt.

Der Mexikaner mit dem Panamahut, der Baskenmütze und dem schweizerdeutschen Zungenschlag, der in München lebt, ist auf dem Weg zu seiner Mutter in Mexiko. Dorthin sind seinen Vorfahren ausgewandert. Sie haben viel Geld mit dem Tabakhandel gemacht. Das war in Lübeck. Die Familie wurde reich durch die Schiffe, die den Tabak von A nach B brachten. Er will die große Distanz buchstäblich erfahren, die zwischen dem Heute und Vorgestern, den Kontinenten und Kulturen liegt. Und er möchte gerne mit Gleichgesinnten sprechen. Andernfalls kann man ja auch schweigen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false