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Bis zu ihrem eigentlichen Fahrtziel - St. John's (Antigua) muss die Sea Cloud noch knapp 2000 Seemeilen zurücklegen.

© Hansa Treuhand

Reisetagebuch Tag 7: Trimm-dich im Tief

Einige Passagiere meutern, ein Offizier ist etwas durch den Wind, die Temperaturen fallen, doch was aus der Bordküche kommt, schmeckt allen – und lässt sie laufen. Das exklusive Bordtagebuch von Reinhart Bünger.

Tag 7, Donnerstag, 8. Dezember 2011

Die Heimat und die Ferne lassen uns kalt. Eine Mitreisende auf dem Hauptdeck schaut bei Sonnenaufgang kurz auf, doch es sind nur Wolken zu sehen. Sie häkelt an einem langen Schal weiter. Ein halber Meter ist fertig. Vielleicht wird er noch auf der Transatlantikfahrt benötigt. Denn wir fahren mitten hinein in ein Tief. Später soll es regnen. Schöne neue Welt. Es wird immer kälter. Sind wir überhaupt noch auf Kurs?

Aufkommender Frohmut. Am sonnigen Vormittag strahlt heute alles, was zwei Beine hat über beide Ohren. Wohl jeder ist inzwischen ausgeschlafen, hat allen Stress von Land endgültig abgeschüttelt und lässt nun die Seele baumeln. Was wir alleine nicht schaffen, das schaffen wir dann gemeinsam. Passagiere erzählen sich ihre Lebensgeschichten und kommen sich dabei sehr nahe. Ein wahrlich exklusives Vergnügen. „Ist es nicht, als ob wir mit Freunden auf einer Privatjacht fahren?“, wundert sich eine Mitreisende.

Anglerlatein achtern. An der Reling achtern hing gestern eine Hochseeangel. Befestigt mittels kunstvoll gewundener Knoten, zog sie ihre schnurgrade Bahn durch den Atlantik. Heute Morgen war sie weg. Die Besatzung hält sich eigentlich auf dem Vordeck auf und hat im Heck nichts zu suchen. Kocht hier ein Mitreisender sein eigenes Fischsüppchen? Da brat’ mir einen ’nen Storch.

Weiter Horizont. Ein inzwischen 86-jähriger ehemaliger Angehöriger der Deutschen Kriegsmarine, der im Zweiten Weltkrieg in Dünkirchen stationiert war, und dort die Landung der Alliierten erlebte, ist Stammgast auf der „Sea Cloud“. Er findet: Die Segel-Legende „riecht noch richtig nach Schiff“. Bereits zweimal hat er die jährliche Atlantiküberquerung für jeweils zehn Jahre im Voraus gebucht, damit er auf jeden Fall mitkommt. „Jetzt haben sie wieder angerufen“, erzählt er. Doch er musste die Mitarbeiter von Sea Cloud Cruises vertrösten. „Ich kann jetzt nur noch von Jahr zu Jahr buchen – diese Reise habe ich im August angezahlt.“

 Alles zu seiner Zeit. Der 1. Offizier Christian Haas hat die Brücke angewiesen, ihn immer eine halbe Stunde vor seinem Dienstantritt in seiner Kabine anzurufen, damit er nicht verschläft. Heute Morgen blieb der Anruf um 3 Uhr 30 aus. Haas hatte die Zeitumstellung vergessen und stand, weil er nicht mehr schlafen konnte, bereits um 1 Uhr 45 auf, in dem Glauben, es werde in einer Viertelstunde 3 Uhr sein. Der IO der „Sea Cloud“ war dann zum morgendlichen Briefing etwas durch den Wind.

Online oder nicht online? - Das ist hier die Frage.

Online oder Offline? Die Verteilung von Internet-Bezugsscheinen durch den Radio-Offizier stößt bei einigen Mitreisenden auf Unverständnis und Kritik: „Ich bin so enttäuscht, dass jetzt alle hier etwas empfangen und dann erzählen, wo schon Schnee gefallen ist und was an den Börsen los ist“, zürnt ein Segelpurist. Die Wogen werden sich jedoch bald glätten.

Die „Sea Cloud“ als Vorseglerin. Der Windjammer, eigentlich schon in seinem Baujahr 1931 ein Anachronismus, war moderner als man heute denkt. Das Schiff wurde als größte dieselelektrische Segeljacht gebaut. Damit und mit anderen Einrichtungen war sie ein Prestigeobjekt, sagt Kreuzfahrtdirektorin Gabi Eidam. Die „Kieler Neuesten Nachrichten“ berichteten am Tag nach dem Stapellauf am 26. April 1931: „Der Neubau ist dadurch bemerkenswert, daß er als Hilfsantrieb mit einer Dieselelektrischen Anlage ausgerüstet ist.

Den Strom erzeugen 4 kompressorlose, nicht umsteuerbare Viertakt-Krupp-Dieselmotoren, die in 6 Zylindern eine Leistung von je 800 effektiven Pferdestärken entwickeln, so daß sich eine Gesamtleistung von 3200 Pferdestärken ergibt. Den eigentlichen Antrieb übernehmen zwei Elektromotoren von etwa 2700 effektiven Pferdestärken Leistung, die dem Schiff eine Geschwindigkeit von 14 Knoten verleihen werden.“ So eine Anlage nennt man heute „Hybrid-Antrieb“.

Auch auf anderen Gebieten war die „Sea Cloud“ ein Novum. Sie war das erste Schiff in den Vereinigten Staaten, auf dem schwarze Offiziere eingesetzt wurden und sie übernahm Sicherheitseinrichtungen, die bis zum Zeitpunkt ihres Bau nur im U-Boot-Bau eingesetzt wurden.

 3000 Schritte am Tag. Inzwischen begibt sich etwa ein Drittel der Passagiere auf einen täglichen Rundkurs. Das Essen an Bord ist aber einfach auch zu gut. Als Erste ist heute Morgen um 4 Uhr 30 eine Amerikanerin gestartet, sehr zum Schreck eines Passagiers, der auf den Schaumstoffkissen im Heck döste. Einige Männer ziehen mittags vor dem Lunch solo eine halbe Stunde ihre Runden um die Aufbauten, Paarläufe werden verstärkt am späteren Nachmittag auf dem Promenadendeck registriert.

 Segeln im Golf-Strom. Nach Angaben des 1. Offiziers werden wir durch einen Rückläufer des Golf-Stroms in Richtung Karibik mit einem halben Knoten pro Stunde angeschoben. Doll. Durch das Abschmelzen der Polkappen und das in die Meere einströmende Süßwasser könnte dieser Rückläufer allerdings irgendwann versiegen.

Botschaften aus allen Richtungen. Lektor Erich Übelacker erklärt den Transatlantikfahrern heute die auch in ihren Meeren mitunter unruhige Erde. „Wir überqueren ein unruhiges Gebiet, den mittelatlantischen Rücken.“ Auch im Gebiet unseres Reiseziels, den Kleinen Antillen, sei immer „eine Menge los“, weil hier die ozeanische Platte in Bewegung sei. Tröstlich zu wissen, dass es für Hurrikane definitiv zu kalt ist. Ihre Zeit ist für dieses Jahr vorbei.

Hurrikane entstehen bei einer Mindesttemperatur von 23,5 bis 25 Grad Celsius. Davon sind wir entfernt – leider oder zum Glück. Je nach Betrachtungsweise. Näher sind uns sternenklare Nächte: „Es gibt so viele Sterne im All wie Sandkörner am Strand“, sagt Übelacker. Na, wir werden sehen.

 Die Reisekoordinaten

Reisekoordinaten

Position um 8 Uhr morgens, immer noch im Kanarischen Becken/Canary Basin

27 Grad, 15 Minuten nördlicher Breite,

27 Grad, 31 Minuten westlicher Länge

(etwa 685 Seemeilen südlich von Horta/Azoren, etwa 650 Seemeilen westlich von

Las Palmas/Gran Canaria)

Wassertiefe: zirka 4900 Meter

Außentemperatur: 23 Grad Celsius

Wassertemperatur: 21,5 Grad Celsius

Luftdruck 1014 Hektopascal

Fahrtgeschwindigkeit tagsüber unter Segeln: 5 bis 5,5 Knoten

Kurs: 235 bis 240 Grad

Gesegelte Entfernung von Mittwoch, 7.12.2011 (8 Uhr)

bis Donnerstag, 8.12.2011 (8 Uhr): 216 Seemeilen

Windstärke 3 (zirka 6 Knoten)

Entfernung bis zum Fahrtziel St. John's (Antigua): 2000 Seemeilen (=Reststrecke).

Zurückgelegte Gesamtstrecke seit Abfahrt: 1185 Seemeilen,

davon ausschließlich unter Segeln: 352 Seemeilen

Geschwindigkeit in der Nacht unter Motorkraft: 10,2 Knoten

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