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Harmonie in Grün. Das Örtchen Pennabilli, 45 Kilometer südlich von Rimini in der Emilia Romagna gelegen, weckt Sehnsüchte. Da möchte man gern mal seinen Espresso trinken.

© mauritius images

Rimini: Mispeln an der Sonnenuhr

Im Sommer wird es rummelig in Rimini. Die Orte im nahe gelegenen Marecciatal aber bleiben beschaulich – und traumhaft schön.

Helga hat es schon vor 20 Jahren geahnt: Die Tourismuszukunft der Adria liegt nicht am lärmigen Partystrand mit seinen bis zu 27-stöckigen Bettensilos und regelmäßigem Verkehrsinfarkt. Sondern in der lieblichen, grünen Hügellandschaft westlich davon. Deshalb erklärte Helga Schenk den verdutzten Prüfern damals beim Reiseleiterexamen, sie wolle keine Fragen zur Küste, denn dort werde sie garantiert nicht arbeiten. Dieses konsequente „Rimi-nie! Hinterland – si!“ hatte Folgen: Die heute 55-Jährige bekam ihre Zulassung nur in limitierter Ausführung – für 20 Kleinkleckersdörfer sozusagen.

Sie heißen Santarcangelo, Pennabilli oder San Leo, liegen versteckt im Mareccia-Tal und sind allesamt Helgas Heimspielorte. „Santarcangelo ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse“, sagt die gebürtige Deutsche und stößt das Tor auf zu einem unterirdischen Tunnel. Er führt in ein Labyrinth von etwa 150 Gruben. Im Funzellicht ihrer Taschenlampe führt Helga hinunter und sagt: „Bis heute ist nicht klar, wozu die Gruben dienten.“ Ein Fluchtsystem der nahen Burg? Eine religiöse Kultstätte wegen der ins Tuffgestein modellierten Säulen? Oder nur Lagerstätte für Wein und Essen, weil es hier unten ganzjährig 12 bis 13 Grad kühl ist? „Sicher ist, so manche Grube diente schon als Kreißsaal“, sagt Helga und klärt dann auf: „Im Zweiten Weltkrieg, als hunderte Familien sich hier versteckten, wurden Kinder geboren, die im ersten Jahr so gut wie keine Sonne sahen und später vorsichtig dran gewöhnt werden mussten.“ Der Gruben-Besichtigungs-Gesellschaft läuft ein leichter Schauer über den Rücken. „Giorgio!“, ruft Helga plötzlich durch einen senkrechten Schacht nach oben. Und erntet von dort ein deutlich hörbares „Si?“

Die Antwort kommt von Giorgio Gallavotti, dem Besitzer des örtlichen Knopfmuseums, gut zehn Meter über der Grube. Der ehemalige Kurzwarenhändler konnte sich nicht recht trennen von seinem Laden und hat ein Museum draus gemacht – mit inzwischen 10 500 Knöpfen aus Perlmutt und Elfenbein, Hirschhorn und Bernstein – die ältesten trug Großkaufmann Medici im 16. Jahrhundert an der Jacke. Ein paar Kopfsteinpflastergassen weiter in Santarcangelos verwinkelter, von kleinen Läden gesäumten Altstadt wartet Alfonso Marchi, ein Mann, der offenbar gern im Hamsterrad arbeitet. Seins hat einen Durchmesser von 6,26 Metern und funktioniert seit 378 Jahren: Signore Marchi steigt auf die Innenseite der Eichenholzfelge, schreitet darin vorwärts, und schon dreht sich das Riesenrad. Der Sinn: Es bewegt zwei tonnenschwere Steinplatten, zwischen denen Stoffe geplättet werden. Sie sind kurz zuvor von Assistent Enzo in Handarbeit mit spezieller Rostfarbe bedruckt worden. Tischdecken, Servietten oder Taschentücher aus Marchis Manufaktur – eine begehrte Rarität.

Helga - die kleinste Ex-Hauptstadt der Welt

In Reih’ und Glied.
In Reih’ und Glied.

© laif

Weiter geht’s mit Helga in die wahrscheinlich kleinste Ex-Hauptstadt der Welt: Das 3000-Seelen-Dorf San Leo wurde vom hierher geflüchteten König Berengar II von 961 bis 963 zu Italiens Regierungssitz erklärt – „mit schmerzlichen Folgen für die Bürger, denn San Leo befand sich diese drei Jahre im Dauerbelagerungszustand“, erklärt die Reiseleiterin – der heute eigentümlich unmöbliert wirkende, dreieckige Marktplatz wurde quasi zum Gefängnis.

Gute Idee, fanden offenbar die Päpste im 18. Jahrhundert und kerkerten in der wuchtigen, lange uneinnehmbaren Festung oberhalb von San Leo reichlich Kritiker, Ungläubige und andere per Inquisition Verfolgte ein.

Vor dem bekanntesten Insassen hatten die Kirchenmänner so viel Angst, dass sie ihm eigens eine Zelle ohne Tür bauen ließen. Giuseppe Balsamo, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Graf Cagliostro wurde durch eine heute noch zu bestaunende Deckenöffnung ins Verlies mit Holzpritsche und winzigem Gitterfenster herabgelassen. Der Grund: „Der geheimnisvolle Freimaurer, Arzt und Alchimist stand beim Vatikan in Verdacht, er könne Aufseher verhexen und durch Türen gehen, ohne sie zu öffnen“, erzählt Helga verschmitzt. Hatte der zwielichtige Hochstapler doch zuvor mit Casanova schon die Lotterie erfunden, eine altägyptische Sekte gegründet und in Paris mit Königin Marie-Antoinette angebändelt. Immerhin, Cagliostro wird bis heute als Unikum gefeiert – jährlich an seinem Todestag, dem 26. August, mit dem Alchimie-Fest der Gaukler und Wahrsager in San Leo.

Pennabilli, etwa eine halbe Autostunde entfernt, ist ein schönes Feierabendziel. Denn so ab 17 Uhr steht die Sonne tief genug, um Häuserfassaden in Rosa und Weinrot sowie die prächtige Front der San-Lorenzo-Kirche in kräftigem Orange leuchten zu lassen. Zwei alte Frauen mit Kopftüchern humpeln Richtung Portal. Am Brunnen davor halten der örtliche Metzger und sein Nachbar ein Schwätzchen, eine Vespa knattert über den Platz. Könnte die Eröffnungsszene aus einem Bella-Italia-Sehnsuchtsfilm mit Caterina Valente sein, ist aber Realität pur.

Helga lotst ihre Gäste unter einem Torbogen durch in den „Garten der vergessenen Früchte“. Nein, kein Biohof, sondern das Kunstwerk des hier ansässigen Tonio Guerra, eines Freundes von Filmregisseur Frederico Fellini. Ihm zu Ehren installierte Guerra eine Sonnenuhr in den Garten, die täglich um 15 Uhr das Konterfei von Fellini als Schatten auf einen Stein projiziert. Drumherum in diesem ehemaligen Klostergarten mit Traumblick über das hügelige Marecciatal stehen Bäume mit alten Birnensorten, Mispeln und ein Maulbeerbaum, den der Dalai Lama persönlich gepflanzt hat. „Er hat ein besonderes Verhältnis zu Pennabilli, denn von hier aus schickte der Vatikan im Jahre 1712 den Kapuzinermönch Orazio Olivieri nach Tibet, um ausgerechnet dieses asiatische Hochgebirgsland zum katholischen Glauben zu bekehren“, erzählt Helga Schenk. Mehr als eine kleine christliche Gemeinde jedoch brachte der tapfere Orazio im Himalaja nicht zustande, dafür aber das erste italienisch-tibetanische Wörterbuch mit immerhin 30 000 Einträgen. Wurde bisher nicht so ganz dringend gebraucht, aber vielleicht in Zukunft – man weiß ja nie…

Die Zeichen der Zukunft erkannt haben jedenfalls die Tourismusmanager der Provinz Rimini: Sie gaben Helga kürzlich die Erlaubnis, nicht mehr nur in Dörfern, sondern in der ganzen Region Gäste führen zu dürfen. Und zwar ohne Nachprüfung mit Küstenfragen.

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