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Backsteinnostalgie. Wo einst die Reederei Holland-Amerika Linie residierte, hat sich nun das Hotel New York einquartiert.

© picture alliance

Schlemmen in Rotterdam: Lob der süßen Sättigung

Rotterdam trumpft kulinarisch auf. Doch prägend für die Stadt sind neue Architektur und der Hafen.

Wenn es um die Zukunft des Essens geht, kann sich Marije Vogelzang vieles vorstellen. Heuschrecken-Blumen aus dem 3-D-Drucker zum Beispiel. Oder Teigmassen, die Tischdecken ersetzen und mit dem direkt darauf servierten Gulasch zu einem Gericht verschmelzen. Sehr verführerisch klingt ihre Idee mit den Nahrungsmitteln, die man nur einatmet unter dem Motto „Geschmack statt Kalorien“. Glücklicherweise ist jetzt noch die Gegenwart Trumpf und Rotterdams führende FoodDesignerin stippt vergnügt herkömmliche Pommes in die Zitronenmayonnaise, die auf dem blanken Holztisch steht.

Wir sitzen im „Bazar“, einem hübschen, bunten orientalischen Restaurant in der unter jungen Künstlern angesagten Witte de Withstraat. Vogelzang ist Kuratorin des „Future Food House“, dem Herzstück des World Food Festival, das in Rotterdam noch bis zum 27. Oktober im Museumspark stattfindet.

Wer bei Rotterdam vor allem an Europas größten Tiefseehafen denkt, sollte nicht übersehen, dass in Häfen Nahrungsmittel aus aller Welt umgeschlagen werden. Vielleicht kommt daher die besondere Freude daran, sich mit dem Thema Essen auseinanderzusetzen. Natürlich ist es auch ein allgemeiner Trend. „Als ich vor fünfzehn Jahren anfing, mich schwerpunktmäßig mit Essen zu befassen, war das noch kein großes Thema“, erinnert sich Festivalgründerin Ellen Scholtens. Rotterdam und „seine Bewohner sind jedoch experimentellen Ansätzen gegenüber aufgeschlossen“. Zum Beispiel entsteht hier die erste große Markthalle der Niederlande, die 2014 ihre Pforten öffnen soll. Noch bieten die Händler ihre Waren direkt unterm kühlen Nordseehimmel an.

Nicht weit entfernt davon befindet sich das „Lof der Zoedheit“, das „Lob der süßen Sättigung“, eines der populärsten neuen Cafés der Stadt. Die Russinnen Elena und Anastasia füllen den Namen mit Programm und drapieren um riesige Samoware Leckereien wie Zitronentorte, Scones, Brownies und Blaubeerküchlein nach selbst entwickelten Rezepten. Jung und hip zu sein, ist hier allerdings weit entfernt vom reinen Hedonismus. In Rotterdam heißt das nämlich auch, sich um andere zu kümmern. Sehr stolz sind sie hier auf „Voedseltuin“, den Essensgarten, der sich auf einem Hektar des alten Hafengebiets erstreckt.

Die ehemalige Lehrerin Angela Vermeulen baut mithilfe von Freiwilligen Biogemüse für finanziell schlecht gestellte Familien an. „Auch arme Menschen sollen sich gesund und gut ernähren“, lautet seit fünf Jahren ihr Credo. Inzwischen ist sie in der Lage, wöchentlich mehr als 3000 Päckchen über Kirchengemeinden und andere Institutionen zu verteilen. Sie hat Kohlrabi und Rote Bete, Karotten, Gurken, Paprika, Sonnenblumen und Chinakohl im Sortiment. Während der sommerlichen Trockenheit halfen nicht nur die Nachbarn beim Wässern. Da rückte auch schon mal die Feuerwehr an – Gießen im großen Stil.

Die Sehnsucht nach dem typischen Berliner Lifestyle

Verrücktes Huhn. Marije Vogelzang, Food- Designerin voll schräger Ideen.
Verrücktes Huhn. Marije Vogelzang, Food- Designerin voll schräger Ideen.

© laif

Improvisation gehört unter Rotterdams jungen Foodies einfach dazu. Der spät berufene Barista Paul Posse ist soeben im Begriff, im aufstrebenden Stadtteil Katendrecht in zwei alten Lagerhallen eine Pop-up-Espressobar in ein eklektisches Weltrestaurant zu verwandeln. In der abgeteilten Küche herrscht malerische Unordnung, an den rauen Wänden hängen Kunstwerke. Schließlich sollen eine Galerie und ein Shop das Restaurant ergänzen. Matilde mit den pinkfarbenen Haaren serviert die Kaffeespezialitäten des Hauses, während der Eigner mit der Rockabilly-Haartolle seinen Ruf als Hobbyphilosoph festigt. Er redet gern und viel, ist ein großer Fan der deutschen Literatur sowie – des Berliner Lifestyles.

Speisen kann man zehn Minuten weiter auch schon wieder: auf dem ehemaligen Kreuzfahrtschiff „Rotterdam“, einem Dampfer, der 1959 in Dienst gestellt worden war. Vor einigen Jahren wurde es in ein Dreisternehotel umgewandelt. Ehemalige Schiffsangestellte zeigen Besuchern die Salons, die Bar mit dem roten Flügel und den alten Ballsaal. Alles originalgetreu restauriert. Das in Rotterdam gebaute Schiff war zuletzt als „Rembrandt“ bis zum Jahr 2000 für Premier Cruises unterwegs. „Hollands Stolz“ kehrte schließlich 2008 nach Rotterdam zurück, wurde renoviert und ein wenig umgebaut. Und ob sie nun Austern und Bouillabaisse im formellen „Club Room“- Restaurant schlemmen oder Kroketten und Salat im eher entspannten „Lido“ – den Rotterdamern schmeckt es an Bord, schon aus Patriotismus.

Es drängt sich der Eindruck auf, Berlin sei irgendwie ein Vorbild für die Rotterdamer. Überall glaubt man, die Sehnsucht nach dem typischen Berliner Lifestyle zu spüren. Und gelegentlich stellt sich die Frage, ob Rotterdam nicht schon ein bisschen wie Berlin ist. Auch im „German Biergarten“. Es sieht alles etwas improvisiert aus, doch die Besucher auf den langen Bänken wirken sehr vergnügt hinter ihren großen Gläsern. Und in einer Riesenpfanne schmurgelt Paella mit betörendem Knoblauchduft.

Ruland, der Chef des Biergartens, betreibt hier auch noch einen verwunschenen Ort für spezielle Events, den Dakakker. Das ist ein von Sonnenblumen gesäumter Gemüsegarten auf dem Dach des Schieblock, einem ehemaligen Bürogebäude. Einige Spitzenköche aus der Umgebung beziehen von hierher ihre Zutaten. Diese Gegend werde auch „das Berlin von Rotterdam“ genannt, erzählt Ruland stolz. Vom Dach aus hat man einen schönen Blick auf den Hofbogen, wo ein Teil des Food-Festivals stattfindet.

H. den Blijker
H. den Blijker

© Paul de Graaff, promo

Ganz unabhängig vom Festival ist das Restaurant „Las Palmas“, von Hollands populärem Fernsehkoch Herman den Blijker betrieben. Früher hatte er einen Michelin- Stern, darauf verzichtet er inzwischen, weil ihm die Bedingungen zu aufwendig sind. Die Gäste strömen in das hübsch gekachelte Restaurant mit der Showküche, in dem es wunderbaren Schellfisch gibt, neuerdings allerdings auch gut abgehangenes Black-Angus-Filet. Schließlich essen auch nicht alle Holländer gern Fisch, und Herman den Blijker tut nur noch, was ihm und seinen Gästen Spaß macht.

Vom „Las Palmas“ aus ist es nur ein kurzer Weg über die (sehenswerte!) Erasmusbrücke bis zum Hotel „New York“ auf dem Wilhelmina Pier. Hier wird die Erinnerung an die große Kreuzfahrtgeschichte Rotterdams bewahrt. Im Jahr 1873 war die „Nederlandsch Amerikaanse Stoomvaart Maatschappij“ gegründet worden, die 1896 in „Holland America Line“ umbenannt wurde. Es war die Zeit der Auswanderungswellen aus ganz Europa. Und wer in Rotterdam an Bord eines Linienschiffes ging, dessen Ziel hieß New York. Das gleichnamige Hotel hat sich 1993 in dem Jugendstilgebäude etabliert, in dem seit 1901 die Holland America Line ihr Hauptquartier hatte, bevor der Unternehmenssitz 1977 nach Seattle im Nordwesten der USA verlegt wurde.

Ja, es gibt auch noch ein (kleines) Kreuzfahrtterminal. Von dort aus hat der Besucher einen schönen Blick auf einige der spektakulären Neubauten der Stadt. So mancher Tourist kommt allein wegen der Architektur nach Rotterdam. Was spätestens dann einleuchtet, wenn man den neuen Gebäudekomplex von Rem Kohlhaas („de Rotterdam“) betrachtet, der ein bisschen so aussieht, als habe ein Kind probiert, ob Bauklötze auch in einer etwas fragileren Anordnung stapelbar sind. Angesichts manchen Architektenstücks an der Spree glaubt der Berliner in diesem Moment allerdings, dass seine Stadt ein wenig mehr Rotterdam vertragen könnte.

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