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Wilhelmshöhe

© Kuhr

Schlosspark Kassel: Wo Kaskaden singen können

Kunst abseits der Documenta: Die historischen Wasserwunder im Schlosspark von Kassel sind noch heute eine Show der Superlative.

Sie kleckerten nicht, sie klotzten. Um der Welt zu zeigen, wozu sie imstande waren, zogen die hessischen Landgrafen Karl und Wilhelm IX. im 18. Jahrhundert alle Register. Die Wasserkünste im Kassler Schlosspark Wilhelmshöhe waren damals eine Show der Superlative. Sie sind es noch heute. Im größten Bergpark Europas fließen, rauschen und stürzen zwei Mal in der Woche rund 1200 Kubikmeter Wasser fast 300 Meter talwärts. 22 Kilometer lange Wasserwege verbinden die Etappenziele: kunstvoll gestaltete Kaskaden; Grotten, aus denen fremdartige Klänge ertönen; alpine Wasserfälle und sogar ein römisches Aquädukt.

All das funktioniert wie vor 250 Jahren: Keine Pumpen und kein Computer bestimmen das Öffnen und Schließen der Schieber, stattdessen steuern sechs Parkangestellte den Lauf des Wassers. Wassermeister Dieter Seidel braucht ein sensibles Team: „Für die Arbeit an den Schiebern kann man nicht jeden nehmen. Man muss es in der Nase haben, wann man welchen Schieber wie stark aufdreht.“

Der 52-Jährige steht dort, wo die Wasserkunst ihr Lebenselixier bezieht, am Sichelbach, 330 Meter oberhalb des Parkendes gelegen. Tatsächlich ist der Bach hier ein großer Teich, und dessen Wasser wird gegen Ende des Sommers meist so knapp, dass die Wasserspiele pausieren müssen. Heute ist Seidel zufrieden, das Reservoir ist randvoll. Weiter unten liegen weitere Becken, Zwischenlager, die der Wassermeister bei seinem Rundgang ebenfalls kontrolliert. Sie alle müssen gefüllt sein. „Sonst muss ich Wasser von oben holen“, sagt Seidel. Wie im vergangenen Jahr, als ein Mitarbeiter einen Schieber nicht ganz geschlossen hatte. Es dauerte einen ganzen Tag, bis das Becken darüber genug Nachschub vom Sichelbach bekommen hatte.

Bevor wir das Wasser auf seinem Weg begleiten, gewährt Seidel noch einen Blick in die „Katakomben“ unter dem Oktogon, dem Sockel der Herkules-Statue. Hier, inmitten wuchtiger Tuffsteinmauern, steht ein altes Wasserrad. Es ist der Antrieb für eine Orgel, deren fünf Melodien Besucher in die Pan-Grotte draußen locken sollten. Waren die Neugierigen herangetreten, wurden sie durch in den Boden eingelassene Wasserdüsen nass gespritzt. Heute ertönt keine Musik mehr in der Grotte. Zwar soll die Orgel irgendwann einmal wieder erklingen, doch der Wassermeister ist skeptisch: „Ich werd’s nicht mehr erleben.“

Das Wasser startet am Fuße des Oktogons, aus dem Landgraf Karl zusammen mit zwei Wassertheatern und der großen Kaskade Anfang des 18. Jahrhunderts den Karlsberg formte. Hier herrscht Symmetrie. Gepflegte Hecken und Baumreihen grenzen das Areal gegen den Wald ab. Die Idee für seinen Terrassengarten hat Karl jedoch von der Villa Aldobrandini im italienischen Frascati abgekupfert.

Die Kanten der Stufen, über die das Wasser vom Artischocken-Becken vor der Vexierwasser-Grotte zum unteren Wassertheater fließt, sind konkav geformt, die Stufenoberflächen abgeschrägt. Dadurch entsteht ein geschlossener Wasserfilm, auf dem sich die umstehenden Bäume spiegeln. Im Wassertheater halten ein Faun und ein Zentaur Kupferhörner in Händen. Die mythischen Gestalten sind Symbole von Größe und Macht. Siegfried Hoss, Leiter des Parks: „Damit wollte Landgraf Karl aller Welt zeigen: Ich kann so etwas bauen.“

In einem durchlöcherten Rohr reißt das herabschießende Wasser Luft mit sich in die Tiefe, welche in einem Behälter aufgefangen wird. Hier kann das Wasser durch ein anderes Rohr abfließen. Die Luft wird in zwei Schläuche gezwungen, die zu den Kupferhörnern führen. So beginnen die Hörner zu dröhnen wie die in die Jahre gekommenen Nebelhörner eines Tankers auf hoher See.

Nicht weit davon entfernt, im sogenannten Hahnenkämmerchen, liegt eine wichtige Schaltzentrale der barocken, oberen Wasserkünste. Seidel: „Hier müssen wir vier Schieber in einer ganz bestimmten Reihenfolge auf- und zudrehen, damit Fontänen, Kaskaden und Hörner pünktlich losgehen.“ Auch der älteste Schieber des Parks steht hier. „Der ist 300 Jahre alt und funktioniert wie eine Wurstmaschine“, erklärt Seidel und dreht dabei die Kurbel, um den Weg für das Wasser frei zu machen. Den Verschluss daneben hat der Wassermeister originalgetreu nachbauen müssen, denn: „Solche Teile gibt’s schon lange nicht mehr zu kaufen.“

Mit dem Steinhofer-Wasserfall ging die Verantwortung für die Wasserkünste von Karl zu Wilhelm IX. über. Er begann 1785 damit, den unteren Teil des Bergparks zu gestalten und gab der Wilhelmshöhe ihren Namen. Im Stil eines englischen Landschaftsgartens wird das Wasser nun nicht mehr in geometrische Formen gezwungen, sondern bewegt sich natürlich: als Bach, See oder Wasserfall. Der Leiter des Parks erläutert: „Das Idealbild einer freien Natur in der Aufklärung und Romantik.“

Die Szenerie an der Teufelsbrücke erinnert tatsächlich an eine Landschaft in den Alpen. Etwas weiter östlich an einem Bachlauf zeigt Seidel ein anderes typisches Element des Landschaftsgartens: Bevor der Merkurtempel sich auf einer Kuppe in natura zeigt, taucht sein Spiegelbild im Wasser vor unseren Füßen auf.

Ein Paradebeispiel für einen Gegenentwurf zum Barock ist die künstliche Ruine einer römischen Wasserleitung. Die asymmetrische Anlage ist in die Landschaft eingebaut, als wäre sie aus ihr erwachsen. Der 200 Meter lange Aquädukt aus teils dicht bemoostem Basalttuff besteht aus über 15 Bögen. Deren letzter Pfeiler begrenzt eine tiefe Schlucht. Über die Bruchkante tost das Wasser in die Tiefe. Kunstvoller hätte es auch die Natur nicht hinbekommen.

„Wasser als Teil und Gestaltungselement des Kunstwerks Park“, sagt Hoss, „der Gartenkünstler schafft Kunstwerke, indem er den Boden modelliert, Pflanzen und Wasser einsetzt.“ Hier wird verständlich, warum die Gartenkunst als Kunstform einst ebenso anerkannt war wie die Malerei.

Am Ende des etwa einstündigen Abstiegs ist die große Fontäne für viele Besucher der Höhepunkt. Hier spritzt das Wasser 52 Meter nach oben. Ihr Wasser bezieht die Fontäne aus einem 80 Meter höher gelegenen Reservoir. Mit einem Seilzug zieht Seidel den Deckel der Fontänenmündung zur Seite. Der Gefälledruck besorgt den Rest. Die Besucher klatschen.

„Wie damals bei Karl und Wilhelm ist der Park immer noch für jeden offen“, sagt Seidel. Die Berühmten und Reichen kommen allerdings bis heute auch einmal außer der Reihe in den Genuss der Wasserkünste. Wenn sich etwa Bundespräsident Köhler in Kassel ankündigt, darf sich die Fontäne in voller Schönheit präsentieren.

Jens Kuhr

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