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Reise: Schwarze Schafe in Schweden Der Göta-Kanal ist ein technisches Wunderwerk.

66 Schleusen von Stockholm bis Göteborg – und von Deck aus sieht man überall Bullerbü

Warum weht denn über Schloss Drottningholm nur so ein kleines Fähnchen? „Tja, einzig dann, wenn der König zu Hause ist, wird die große Flagge gehisst“, sagt Kjerstin, Chefstewardess, Reiseleiterin und irgendwie Mädchen für vieles an Bord des Schiffes, das die kleine Reisegesellschaft von Stockholm quer durch Schweden nach Göteborg schippern wird. Über Seen, die zum Teil wie Meere erscheinen, über ein Stück Ostsee, einen Fluss – und vor allem durch den Göta-Kanal, das vielleicht eindrucksvollste von Menschenhand geschaffene Bauwerk Schwedens. Ach ja, und durch 66 Schleusen. Das alles auf der „Juno“, dem möglicherweise ältesten Kreuzfahrtschiff der Welt, Baujahr 1874.

Doch was heißt hier Kreuzfahrtschiff? Besser sollte man sagen: Touristenschiff mit Übernachtungsmöglichkeit und Vollverpflegung. Luxus, wie auf den heute im Kreuzfahrtgeschäft üblichen schwimmenden Städten, darf der Gast hier nicht erwarten. Die Kabinen sind winzig: je zwei schmale, 185 Zentimeter lange Stockbetten, ein gut zehn Zentimeter tiefer „Schrank“, ein Waschtisch – das war’s. Wer Glück hat, dessen Koffer passt unters Bett, doch dann stellt sich die Frage: Wohin mit den dort lagernden Schwimmwesten? Als Klimaanlage dient ein drehbarer Metallverschluss unten in der Kabinentür. Außerdem gibt es auf jedem der drei Decks nur „indische“ Toiletten und Duschen – also jenseits des Ganges. Gewiss nicht jedermanns Sache, doch entgegen der Erwartung überhaupt kein Problem. Schließlich reist man in zivilisierter Gesellschaft.

Die drei historischen Schwesterschiffe der Göta-Kanal-Flotte haben nämlich ein durchaus besonderes Publikum: in der Regel weit gereist, das Besondere suchend, sehr kommunikativ. Und, ja das auch: etwas älter an Jahren als ohnehin auf anderen Schiffsreisen üblich, doch im Kopf oft frischer als so mancher Jungspund auf einem Remmidemmi-Schiff.

Eine halbe Stunde nachdem die „Juno“ vor der Altstadt Stockholms abgelegt hat, ist die Hammarby Schleuse erreicht. Alle 30 Passagiere stehen an Deck, wollen das Ereignis aus nächster Nähe erleben. Das wird sich legen, denkt der unbedarfte Reisende. Schließlich sind bis Göteborg noch 65 Wassertore zu bewältigen. Weit gefehlt, wie sich herausstellen wird. Jede Schleuse wird mit Spannung erwartet, und sei es nur, um zu zählen, wie oft der Schiffsführer gegen die Kammerwände rummst. Doch fast immer geht alles gut.

Bis zum Göta-Kanal ist es noch ein gutes Stück. Der Mälarsee vermittelt schon mal eine eindrucksvolle Vorstellung davon, womit Schweden wuchern kann. Der drittgrößte See des Landes ist 1140 Quadratkilometer groß (zum Vergleich: Bodensee 535, Müritz 117 Quadratkilometer). Hier besitzt, wie es scheint, halb Stockholm ein (Wochenend-)Haus. Und doch bleibt viel, viel Platz für dichten Wald an Land und ungezählte Boote aller Art auf dem Wasser. Die auf Deutsch formulierte Vermutung „Den Schweden geht’s wohl zu gut?“ ist mehr als ein Mal an Bord zu hören. Neid? Vielleicht. An den von der „Juno“ später noch in Abschnitten zu bewältigenden Seen Vättern (1911 Quadratkilometer) und Vänern (5648 Quadratkilometer) fallen die ungezählten Häuschen dann schon gar nicht mehr auf.

Derweil hat sich die Reisegesellschaft an Bord miteinander bekannt gemacht. Vier muntere Amerikaner auf Europareise sind dabei, ein knappes Dutzend Deutsche, Mutter und Tochter aus Norwegen, ein distinguiertes Paar aus Südafrika, eine stets fröstelnde Lady aus Costa Rica gar, und überwiegend Schweden, die sich bester Stimmung einen im Land oft gehegten Traum erfüllen: „Ein Mal im Leben den Göta-Kanal.“

Len E. Ivarson aus Milwaukee, Wisconsin, den sein Basecap als „Mr. Butter“ ausweist, hat die wenigsten Berührungsängste, was seine Mitreisenden angeht, begrüßt nahezu jeden mit Handschlag und stellt sich vor. Der gebürtige Schwede ist Anfang der fünfziger Jahre in die USA ausgewandert, hat dort als Ingenieur sein Glück mit Verpackungsanlagen für Butter und Margarine gemacht („80 Prozent der amerikanischen Butter läuft durch meine Maschinen.“). Er erweist sich als begnadeter Sänger schwedischer Volksweisen, wie sich an mancher Schleuse herausstellt, wo das Schiff von Anwohnern mit Musik und Liedern empfangen wird.

Ach ja, die Schleusen. Es soll Menschen geben, die nur dieser Wunderwerke der Technik wegen die Reise unternehmen. Allein 34 Wassertore mit bis zu sieben Kammern weist der Göta-Kanal selbst auf. Den verdanken die Schweden übrigens der Beharrlichkeit des Baltzar von Platn, einem adligen Seeoffizier aus Rügen, das damals wie ganz Pommern noch zum Schwedenreich gehörte. Am 11. April 1810 erhielt die zuvor gegründete Göta-Kanalgesellschaft unter Leitung von Platens die Genehmigung von König Karl XIII. zum Beginn des Kanalbaues von Mem an der Ostsee nach Sjötorp am Vänersee. Die Schweden waren es leid, dass ihre Schiffe beim Gütertransport von der Ost- zur Westküste des Landes im Öresund von den Dänen abkassiert wurden.

Der Kanal wurde erbaut von 58 000 Soldaten, die während kürzerer oder längerer Zeiten am Kanalbau beteiligt waren. Während der 22 Baujahre schufteten etwa 60 000 Mann – einschließlich einer Kompanie russischer Kriegsgefangener und einem Teil privater Arbeiter. Das Ausgraben des Kanals wurde zum größten Teil in Handarbeit mit Hilfe von blechbeschlagenen Holzspaten verrichtet. Die Arbeit bestand vornehmlich im Ausgraben, Sprengen und Mauern des Kanals.

Die Einfahrt in den Göta-Kanal bei Mem verpassen alle Reisenden. Um ein Uhr nachts herrscht Ruhe an Bord. Relative Ruhe, muss man sagen. Das Schiff fährt nämlich auch unterm Sternenhimmel. Stampft der Schiffsdiesel tagsüber kaum wahrnehmbar, dröhnt er zur Ruhestunde doch vernehmlich. Zu vernehmlich, wie Passagiere auf dem Hauptdeck (unten) nach der ersten Nacht behaupten. Das Maschinengeräusch war möglicherweise auch anno 1931 an der Schleuse von Söderköping ursächlich für ein Missverständnis zwischen Maschinist im Bauch des Schiffes und Kapitän auf der Brücke: „Volle Kraft zurück“ hatte die Anweisung gelautet. Und da es eben keine Flüstermaschine ist, kam unten irgendwie „Volle Kraft voraus“ an. Die „Juno“ durchbrach das Schleusentor und fiel in das tiefer gelegene Becken. Nicht allein, dass die Wasserstraße neun Tage lang lahmgelegt war. Auch die Vorgärten der Häuser auf den nächsten zwei Kilometern standen unter Wasser. Zur Beruhigung von künftigen Passagieren: Heute wird die Maschine von der Brücke aus bedient. Von Kapitän oder Steuermann. Und das sind alte Fahrensleute.

Der etwas mundfaule Kapitän Tarmo Surmakka beispielsweise befährt den Kanal seit 22 Jahren, Steuermann Albert Hakasson noch nicht so lange, aber er fährt immerhin seit 1964 zur See. Und trotz gelegentlicher Rummser an besonders kniffligen Stellen muss man sich nicht fürchten. Die Brücke ist übrigens immer offen, Steuermann Albert jederzeit zu einem Plausch bereit, wenn nicht eben höchste Konzentration an den schmalsten Stellen des Kanals angesagt ist.

Die Ankunft um 5 Uhr 30 in Söderköping hält einige Passagiere nicht davon ab, an der ersten von sechs Schleusen von Bord zu gehen, sich die nächsten vier Kilometer die Beine zu vertreten und das Spektakel der Schleusungen von Land aus anzusehen. Dass einem das Schiff davonfährt, ist nicht zu befürchten. Auf dem Kanal muss eine Spitzengeschwindigkeit von gut neun Stundenkilometern eingehalten werden. Und das Schleusen selbst braucht seine Zeit. Es bleibt also ausreichend Muße, um den Anschluss wieder- zufinden. Derweil rumpelt der Schleusenwärter – ein Student, der hoch erfreut ist über diesen Nebenjob – mit seinem Auto auf dem alten Treidelpfad von einem Wassertor zum nächsten.

Und überall ist Bullerbü! Vom Brückendeck aus hat man beste Sicht auf das vorbeiziehende Schweden wie aus dem Bilderbuch. Im typischen skandinavischen „Ochsenblutrot“ gehaltene Häuschen und Hofanlagen, umringt von wogenden Weizenfeldern und saftig grünen Weiden, wo schlanke Pferde Auslauf finden, verblüffend viele schwarze Schafe neugierig zum Schiff schauen und dickleibige Kühe scheinbar ständig fressen.

Vom „Blauen Band durch Schweden“ zu sprechen, darf sich allerdings nur die Werbung erlauben. Wir müssen bei der Wahrheit bleiben und über eher grau- braunes Wasser im Kanal berichten. Der Boden ist lehmig, zum Glück für die Schiffe. Denn ein ums andere Mal kommt es zu Grundberührung, wobei der Rumpf jedoch keinen Schaden nimmt. „Ja, ja, man kann auch mal stecken bleiben“,sagt Steuermann Albert. Ihm sei das auch schon passiert. „Ein Mal“, betont er. Kritischer wird der Kontakt mit den gemauerten Schleusenkammern, die oft nur 20 Zentimeter links und rechts Raum lassen. Dicke Holzfender schützen den Schiffsrumpf, verhindern gravierendere Macken, werden jedoch so ausgiebig gequetscht und zerrieben, dass sie von den Schiffsjungen während der Reise immer wieder erneuert werden müssen.

Schleusentore öffnen und schließen, Schiff vertäuen, Kammern geflutet, Tore wieder geöffnet, Leinen gelöst – nach spätestens zehn Schleusen ist jeder Passagier selbst schon Spezialist, verfolgt mit Argusaugen die Arbeit der Schiffsführer. In Berg, an der Carl-Johan-Schleusentreppe, wäre dazu besonders ausreichend Gelegenheit. Durch sieben Kammern wird der „Juno“ hier geholfen, um 18,80 Meter Höhenunterschied zu überwinden. Das braucht seine Zeit. Die Passagiere lassen den Kapitän dann doch allein gewähren und nehmen sich eine Auszeit.

Einige spazieren zu einem nahen Nonnenkloster, andere stolpern über eine kleine Sensation: Currywurst am Göta-Kanal! Anne und Andreas Knoll, erst vor einem halben Jahr mit Sack und Pack von Jülich gen Schweden gezogen, haben hier den ersten Stein für ein Wurstimperium gelegt. 25 Kronen, also 2,80 Euro für die Wurst (ohne Weichbrötchen). Und wie läuft’s? Naja, naja. Und wenn es mit der Wurst nicht so klappt? Dann sind Waffeln oder Zuckerstangen die Alternative. Oder etwas anderes. „Ideen gibt’s genug“, sagt das Paar, das erwachsene Kinder und Jobs als Lagerverwalter beziehungsweise Küchenhilfe in Deutschland gelassen und einen Neuanfang gewagt hat. „Auf jeden Fall haben uns die Schweden willkommen geheißen“, sagen sie zufrieden.

Und wenn wir schon beim Essen sind: Das mit dem eingangs erwähnten fehlenden Luxus an Bord der „Juno“ muss gemildert werden. Die Mahlzeiten stellen immer kleine Feste der langen Schiffstage dar. Darf sich beim Frühstück noch jeder selbst am gut sortierten Büfett versorgen, sind „Lunch“ und Abendessen „gesetzt“. Weiße Tischtücher, gestärkte Stoffservietten frisch zu jeder Mahlzeit, Blümchen auf den Tischen. Nett. Dass es an Hering, Lachs und Rentierfleisch oder Kalorienbomben zum Nachtisch nichts zu meckern gibt, darf man noch als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Doch wie alles auf den Punkt gegart und perfekt garniert auf den Tisch kommt, muss erwähnt sein. Denn die von zwei Köchinnen besetzte Kombüse ist so winzig, dass einem die Kochnische einer Ein-Zimmer-Wohnung als Tanzsaal erscheinen muss. Die beiden Zauberinnen wurden denn auch von den Passagieren mit donnerndem Applaus bedacht, als sie sich – überraschend jung und (weniger überraschend) rund – am letzten Tag der Reise präsentierten.

Das vielleicht schönste Stück des Kanals folgt bei der Reise von Ost nach West am Schluss: Die Fahrt durch den Nationalpark Tiveden, einen sagenhaften „Märchenwald“ zwischen Vättern und Vänern, wo die Natur sich selbst überlassen wird und die Vegetation links und rechts buchstäblich zum Greifen nahe ist.

Besonders Alfred der Steuermann, dem manches Stück des Weges schon mal „langweilig“ vorkommt, ist auf diesem Abschnitt immer ganz ergriffen davon, wie schön sein Land ist. Sagt’s und richtet die schwedische Flagge am Heck. Im Gegensatz zum königlichen Schloss weht die hier auf immer und ewig. Denn dass die Göta-Kanal-Flotte je ausgeflaggt wird, ist für jeden Schweden völlig undenkbar.

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