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Sandhamn. Auch so manches Haus auf der Insel bekommt in Stens Krimis seine Rolle. Wie dieser weiße Trumm oben links – als Brand’sche Villa.

© Elisabeth Binder

Schweden mal anders: Mittsommer kann gefährlich sein

Krimiautorin Viveca Sten macht Sandhamn und andere Schäreninseln zu abgründigen Tatorten. Besucher schreckt das nicht.

Die Leiche tauchte einfach so auf. Viveca Sten spazierte auf ihrer Insel Sandhamn zwischen idyllischen roten Häuschen einher. Sie genoss den Sommer in ihrer Seelenheimat, die sie immer ein bisschen an Bullerbü erinnert. Und da war sie plötzlich. Der Tote trieb auf dem Wasser vor dem beliebten Trouville-Strand. Das Bild vor ihrem inneren Auge wollte einfach nicht verschwinden. Der viel beschäftigten Chefjuristin der schwedischen und dänischen Post, Mutter von drei Kindern, blieb gar nichts anderes übrig.

Sie setzte sich an den Computer und schrieb und schrieb und schrieb. Das erste und das letzte Kapitel zuerst, dann die spannende Handlung in der Mitte. Als „Tödlicher Mittsommer“ fertig war, wollte sie das Buch eigentlich gar nicht veröffentlichen. Wäre das nicht peinlich in ihrer Position? Ihr Mann überredete sie, das Manuskript einfach mal an einen Verlag zu senden. Der griff sofort zu. Seitdem haben Kommissar Thomas Andreasson und seine beste Freundin Nora Linde zu Sandhamns Popularität erheblich beigetragen.

Im Schärengarten vor Stockholm passieren erschreckende Dinge. Nicht nur auf Sandhamn, sondern auch auf den benachbarten Schären. Fast kommt es einem so vor, als tauche die Autorin von Mal zu Mal tiefer ein in die Abgründe menschlicher Natur. Die ersten drei Romane wurden verfilmt, liefen als Miniserien im schwedischen Fernsehen. In Deutschland erscheint am 18. April der vierte Fall, „Mörderische Schärennächte“, der bislang abgründigste, und auch in Deutschland kommen die Verfilmungen demnächst ins Fernsehen.

Wer die Bücher gelesen hat, ist mit Sandhamn seltsam vertraut, sogar bevor Kapitän Johann die „Isak“ im Hafen anlegt. Schon von Weitem leuchtet einem die Ansammlung dunkelroter Häuser entgegen, die sich um die Anlegestelle drängen.

Im Hafen wartet Viveca Sten bereits, eine hübsche, zierliche Frau mit schickem Schal und lässigen Schnürstiefeln. Sie zeigt Fremden gern ihre Insel, die eigentlich heile Welt von Sandhamn. Diese Insel soll auch eines der Vorbilder gewesen sein für Astrid Lindgrens fiktives „Saltkrokan“, obwohl der Film dazu woanders gedreht wurde.

Im Seglarhotell hat Viveca Sten noch ganz nach Art der Karrierefrau sogar eine Powerpoint-Präsentation zur Geschichte vorbereitet, denn sie gehört gewissermaßen zum touristischen Uradel der Insel. Ihr Urgroßvater war einer der ersten Städter, der sich dort ein Sommerhaus gekauft hat. Das war 1917.

Man kommt hier mit sehr wenig aus

Juristin mit bösen Fantasien. In Schweden wurden Viveca Stens Krimis auch verfilmt.
Juristin mit bösen Fantasien. In Schweden wurden Viveca Stens Krimis auch verfilmt.

© Elisabeth Binder

Erwähnt wurde die Sandinsel zum ersten Mal 1282, als der damalige König sie einem Nonnenkloster zum Geschenk machte. Aber erst im 17. Jahrhundert wurde ihr Potenzial als Lotseninsel erkannt. Die Schiffe, die übers offene Meer auch aus Deutschland kamen, warteten im Hafen von Sandhamn, bevor sie weitergelotst werden konnten nach Stockholm. Mit einer regelmäßigen Fährverbindung zwischen Stockholm und der Sandinsel mit den puderigen Stränden reisten Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten Sommergäste an.

Unerhörtes passierte 1903. Da kam der König zur Eröffnung des Klubhauses der Royal Swedish Yachting Society, ein ungewohnt glamouröses Ereignis auf dem Eiland. Die meisten Bewohner waren arm. Erst in den 50er Jahren hatten die Haushalte auf der Insel fließendes Wasser. Und noch mal ein halbes Jahrhundert sollte es dauern, bis Viveca Stens Mann rund um den Mittsommer die Gucci-Touristen ausmachte, die prompt Eingang in die Kriminalromane fanden. Das sind Besucher, die im Sommer mit ihren Booten anlegen und viel zu schick angezogen sind für die Schärenwelt.

Eigentlich kommt man hier mit sehr wenig aus. Wer vom Hafen kommend am Hotel vorbeigeht, die Minigolfanlage hinter sich lässt, erreicht eine Erhebung am Meer, den „Tanzboden“. Hier legen viele junge Menschen im Sommer mit Ruderbooten an und tanzen die leuchtenden Nächte hindurch. Noch ein Stück weiter, schon steht der Besucher mitten im Wald. „Hier denkt man doch gar nicht, dass man auf einer Insel ist“, ruft die Autorin stolz, die hier schon richtig unheimliche Szenen angesiedelt hat.

Derzeit leben im Winter nur 120 Menschen permanent auf der Insel. Im Sommer wächst die Zahl der Einwohner auf 3000, hinzu kommen rund 100 000 Touristen. An Mittsommer sollte man Sandhamn besser meiden. „Dann wollen wirklich alle hierher“, sagt Johann, der Kapitän der „Isak“. „Wir könnten dann 24 Stunden zwischen Stockholm und Sandhamn hin- und herfahren.“ Auch die Königsfamilie kommt zu herausragenden Events und ja, die Königin kauft auch schon mal Eiscreme im Kaufmannsladen. Von Mitte Juni bis Mitte August dauert der gloriose Sommer. Dann zieht wieder diese unwahrscheinliche Stille ein, die der Fantasie weiten Raum gibt.

Die Insel hat durch die Bücher selbst international an Bekanntheit gewonnen. Das schneeweiße Missionshaus zum Beispiel öffnet im Sommer als Bed and Breakfast. Und es hat schon Gäste gegeben, die genau in dem Zimmer logieren wollten, in dem in „Tödlicher Mittsommer“ Kicki Berggrens Leiche gefunden wurde. Nächster Stopp des Rundgangs: die kleine romantische Kirche. Nein, Viveca Sten hat leider, leider nicht hier geheiratet, fragt aber ihre Kinder immer wieder, ob sie nicht… „Mama, ich bin doch erst 14“, entgegnet ihr jüngster Sohn genervt.

Heile Welt ist nicht gut fürs Geschäft

In schwedisch-typischem Falunrot präsentieren sich hier die meisten Häuser.
In schwedisch-typischem Falunrot präsentieren sich hier die meisten Häuser.

© Elisabeth Binder

Der Friedhof neben der Kirche ist einer von Stens Lieblingsplätzen, der auch schon zum Schauplatz wurde. Hier sitzt die quirlige Juristin oft und gern in der Nähe des Mahnmals für die unbekannten Seefahrer, holt sich Anregungen für Namen und denkt sich Handlungsstränge aus. Erstaunlich, wie zumindest in der Fantasie so viel passieren kann auf einer Insel, die man in zweieinhalb Stunden zu Fuß umrundet hat.

Oberhalb eines Anlegestegs steht das Vorbild für Noras Haus. Sie ist eine der Hauptfiguren und beste Freundin von Kommissar Thomas Andreasson, dem sie dank ihrer Verwurzelung auf der Insel immer wieder helfen kann, die Mordfälle zu lösen. Ganz in der Nähe befindet sich das gelbe Haus, das Viveca Stens Ururgroßvater einst kaufte. In dem wohnt heute noch ihr Vater.

So klein ist die Insel und trotz all der schick ausstaffierten Sommergäste so bodenständig, dass selbst die kleine Bäckerei eine Sehenswürdigkeit ist. Vor dem Laden bilden sich im Sommer lange Schlangen, denn allein die Zimtschnecken sollen die Anreise wert sein. Sandhamns Värdshus ist die Stammkneipe der Autorin. Hier trifft sie sich nach langen Schreibtagen mit anderen Inselbewohnern. Manchmal frönen sie dann der schwedischen Tradition, lustige Schnapslieder zu singen.

Das Essen dort jedenfalls ist sehr authentisch: Variationen vom marinierten Hering, natürlich Noras Leibgericht, den Fischtopf, und Lakritzparfait mit Himbeeren. Im frostigen Frühjahr geht es noch gemütlich zu. Im Sommer wird es dann wohl eher proppenvoll. Wo jetzt der Mond still herabscheint, flirrt dann Musik durch den Rosenduft, der aus den Gärten weht. Dann kommen die Besucher in Scharen, um zu segeln und zu fischen. „Wir hatten mal eine deutsche Familie zu Gast“, erzählt Anders Wahlsten vom Seglarhotell. „Die haben allerdings zwei Wochen lang gar nichts gemacht. Die wollten nur ihre Ruhe haben.“

Nachdem sie ihren Karriereberuf zugunsten der schriftstellerischen Berufung aufgegeben hat, genießt Viveca Sten die Überfahrt mit der öffentlichen Fähre auch unter der Woche, allein unter Pendlern. Während der Schreibphasen parkt sie ihr Auto in Stavsnäs und zieht ihren Koffer im schwedisch-typischen Falunrot auf die Sandhamn-Fähre. Von diesem Hafen aus dauert die Überfahrt nur eine Stunde. Sie ist Frühaufsteherin, und während die anderen Passagiere das Pendlerfrühstück mampfen, schweift ihr Blick über das glitzernde Meer und die vielen winzigen Inseln darin. Was da alles passieren könnte! Wo die Welt so heil ist, macht es erst recht Spaß, der Fantasie Schatten zu entlocken. Ihre fiktiven Leichen haben noch niemanden abgeschreckt, ganz im Gegenteil.

„Unten am Hotel wird im sechsten Fall auch eine Leiche gefunden“, sagt sie trocken. „Danke vielmals“, sagt Anders Wahlsten mit beißender Ironie. Aber seine Augen lachen dabei. Heile Welt allein ist eben auch nicht gut fürs Geschäft.

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