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Schweiz: Fort mit Büchern und Papierkram

Auch in der Schweiz philosophierte und schrieb Jean-Jacques Rousseau. Doch auf der Petersinsel im Bielersee sammelte er Pflanzen – und träumte.

Niemals berührt ein Sonnenstrahl diesen Wasserfall. Hochgewachsene Bäume umstellen ihn, formen eine grüne Höhle. Dichtes, dunkles Blattwerk verschattet den schmalen Pfad, der zu ihr führt. Ein unheimlicher Ort, den nur das Gebrumm der Insekten lebendig wirken lässt. Was hat Jean-Jacques Rousseau hier fasziniert? Immer wieder ist er hingegangen. Weit hatte er es nicht von dem Haus in Môtiers, in dem er zwischen 1762 und 1765 eine Bleibe fand. Nur zehn Minuten Fußweg waren es.

Vielleicht kam er hierher, um seine Gedanken zu ordnen, doch eher floh er wohl vor Besuchern, die ihm seine Aufwartung machen wollten. Sultan, sein Hund, kündigte rechtzeitig an, wenn sich wieder welche näherten. Rousseau war Anfang 40 und in aller Munde. 1761 war sein Roman „Julie oder Die neue Heloise“ in Paris erschienen und schnell zum Bestseller avanciert. Dass der gebürtige Genfer in Môtiers landete, lag indes an „Emile“ und am „Gesellschaftsvertrag“. 1762 waren beide Werke herausgekommen – und auf Geheiß der Genfer Behörden verdammt, ja sogar öffentlich verbrannt worden. Môtiers im Val de Travers bot Schutz.

Jean-Jacques Rousseau war Visionär, Verkünder der Botschaft von Freiheit und Menschenrechten, Hüter der Natur, Freigeist. Aber was war er für ein Mensch? Reist man auf seinen Spuren durch die Schweiz, kommt man ihm überraschend nah. Im zauberhaften Vevey kann man beginnen. Im rührend einfachen Restaurant de la Clef steht noch jener klobige Holztisch, an dem der Philosoph gegessen, getrunken und womöglich das ein oder andere notiert hat. Die schöne Uferpromenade gab es noch nicht, es musste beschwerlich gewesen sein, die trutzige, inzwischen tausendjährige Wasserburg Schloss Chillon zu besuchen. Dass er dort war, ist belegt. Heute führt ein schöner Weg am Seeufer entlang, vorbei an moderner, ulkiger Kunst. Im Wasser etwa steckt eine Riesengabel.

Rousseau dürfte die Umgebung von Vevey, heute als „Schweizer Riviera“ gepriesen, zu lieblich gewesen sein für seinen Geschmack. „Ich brauche Sturzbäche, Felsen, Tannen, schwarze Wälder, Gebirge, mühsam zu ersteigende Wege, Abgründe neben mir, die mich erschrecken“, schrieb er in seinen Memoiren „Bekenntnisse“.

Für Kutschfahrten dürfte Rousseau oft das Geld gefehlt haben, aber er hielt ohnehin nichts vom bequemen Reisen. „Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens und, wenn ich so sagen darf, meines Ichs so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen“, schrieb er und schwärmte vom Gehen, das „eine größere Kühnheit des Denkens“ verursache und ihn „gewissermaßen in die Unermeßlichkeit aller Dinge hinausschleudere“.

Bescheiden war sein Quartier in Môtiers, drei Räume in einem einfachen Haus. Über eine wacklige Holztreppe geht es hinauf zu einer kleinen Ausstellung in Rousseaus einstiger Wohnstube. Vor allem mit Schriften und Bildern ist sie bestückt. Auf einem sieht man Rousseau in armenischer Tracht, mit Pelzmütze und Pumphosen. „So verkleidet ist er im Dorf natürlich erst recht aufgefallen“, sagt Führerin Renate Lenggenhagen. Ein Spleen? „Wahrscheinlich trug er die Hosen, um den Katheter zu verdecken“, vermutet sie. Der Philosoph litt an Harnstau und Blasenschwäche.

Aus Angst um Leib und Leben

Idylle pur. In der Herberge auf der Petersinsel fand der verurteilte Genfer Philosoph im Herbst 1765 für einige Wochen Zuflucht. Später schrieb er in seinen "Träumereien eines einsamen Spaziergängers", er denke an keinen Aufenthalt mit solch süßer Wehmut zurück.
Idylle pur. In der Herberge auf der Petersinsel fand der verurteilte Genfer Philosoph im Herbst 1765 für einige Wochen Zuflucht. Später schrieb er in seinen "Träumereien eines einsamen Spaziergängers", er denke an keinen Aufenthalt mit solch süßer Wehmut zurück.

© Hella Kaiser

Entlang der stillen Dorfstraße bis zum Wasserfall haben sie jetzt, im 300. Geburtsjahr, 60 Messinglinsen eingelassen. Nur durch Zufall entdeckt man sie, erklärende Schilder fehlen. Wenige Worte stehen jeweils auf einer Linse, zum Beispiel „parmi ces gens-là“ (unter diesen Leuten da). Eingraviert in Rousseaus Handschrift, mit dem typischen entschlossen-eleganten Schwung.

Unweit des Wohnhauses, in einem ehemaligen Kloster, reift heute edler Schaumwein, hergestellt nach der Champagner–Methode. Rousseau hatte sich für das Gebäude interessiert. Es schien ihm wie geschaffen, um eine Druckerei für seine Bücher einzurichten. Es ist nie dazu gekommen. Denn wieder wurde er verjagt. Bürger warfen Steine an seine Fenster, er musste um Leib und Leben fürchten.

Sein Freund, der Adlige Pierre Alexandre Du Peyrou, vermittelte ihm eine Bleibe auf der Petersinsel im Bielersee. Die beiden hatten sich in Neuenburg (Neuchâtel) kennengelernt. Rousseau übergab ihm seine Manuskripte, Briefe und alles, was er gedruckt haben wollte. Als Du Peyrou 1794 starb, hat er der Universitätsbibliothek Neuenburg alles vermacht. „Das war natürlich ein großes Glück für uns“, sagt Sylvie Béguelin, verantwortlich für die Sammlung. Tausende Briefe besitzen sie, 120 Manuskripte und fast dreißig jener Spielkarten, auf denen Rousseau bisweilen seine Gedanken notierte. Einige der Schätze sind in der Bibliothek in einer „Salle Rousseau“ ausgestellt. Natürlich hängt dort auch jenes Bild, was der Philosoph am liebsten von sich mochte: Ein Porträt aus dem Jahre 1753, gemalt von Maurice Quentin de La Tour. Der Philosoph – ein Beau. „Oh“, gibt Béguelin zu bedenken, „wie er wirklich ausgesehen hat, wissen wir nicht genau.“ Bedeutende Persönlichkeiten habe man gern vorteilhaft gemalt in jener Zeit.

Ein bisschen versteckt liegt der vor 30 Jahren eingerichtete Saal im Gebäude, und das hätte dem Philosophen vielleicht sogar gefallen. Die Sammlung sollte neu arrangiert und präsentiert werden, aber das habe man zum 300. Geburtstag einfach nicht geschafft. „Vielleicht im kommenden Jahr“, hofft Béguelin.

Doch auch die beste Ausstellung taugt doch nur dazu, den Philosophen rational zu begreifen. Mit allen Sinnen nahe kommt man ihm indes auf der stillen Petersinsel. Sechs Wochen weilte er am Ort und hätte doch „die ganze Ewigkeit“ bleiben wollen. Er wohnte in der einzigen Herberge des Eilands, hineingebaut in ein verwaistes Cluniazenserkloster aus dem 12. Jahrhundert. Ein paar Schafe vorm Haus, dahinter Blumen und Weinreben. Als seine Haushälterin mit Büchern und Papieren nachkam, packte er nichts aus. „Eine meiner höchsten Lüste lag darin, meine Bücher dauerhaft eingekoffert zu lassen und über keinerlei Schreibzeug zu verfügen“, notiert er in seiner „fünften Träumerei“.

Hier kam er zur Ruhe und notierte freudig: „An Stelle dieser staubtrüben Papierstapel und dem ganzen Buchkram, zierte ich mein Zimmer mit Blumen und Heu.“ Draußen verzückte ihn eine Welt, die „lind lächelnde Bilder“ bot.

„Rousseau war ein Superstar“

"Unter diesen Leuten da". Entlang der Dorfstraße in Môtiers stößt man auf Messinglinsen, graviert in Rousseaus Handschrift.
"Unter diesen Leuten da". Entlang der Dorfstraße in Môtiers stößt man auf Messinglinsen, graviert in Rousseaus Handschrift.

© Hella Kaiser

Müßiggang für einen Denker. Was tat er den ganzen Tag? Er bestimmte Pflanzen. Ein Deutscher, so hatte er gehört, habe ein Buch über Zitronenzeste verfasst. „Und so würde ich eins über jedes Wiesengras machen, über jedes Waldmoos, über jede Flechte, die einen Felsen tapeziert; letztlich wollte ich kein Kraut und Halm, kein vegetabilisches Atom ohne ausführlichen Bericht lassen.“ So stapfte er los, mit einer Lupe und der Botanisiertrommel in der Hand. Er half dene Verwaltern auch bei der Ernte, saß „rittlings auf hohen Bäumen, mit einem Sack gegürtet, den ich mit Früchten füllte und sodann an einem Strick zur Erde hinunterließ“.

Wenn das Wetter gut war, stahl er sich vom Mittagstisch fort. Er war frei. Schon früher, in den Salons, hasste er es, in Gesellschaft bleiben zu müssen. „Auf einen Stuhl genagelt oder in den Boden gerammt wie ein Zeltpflock, ohne ein Glied zu rühren, darf nicht wagen, zu laufen, zu hüpfen, zu rufen, zu gestikulieren, wenn ich dazu Lust habe, darf nicht einmal träumen ...“ Nun konnte er es. Bestieg ein Boot, lenkte es in die Mitte des Sees, streckte sich der Länge nach aus, „die Augen himmelwärts“. Stundenlang, „in tausenderlei Träume versunken, wirr zwar, aber herrlich ...“.

Auch zur winzigen unbewohnten Nachbarinsel trieb es ihn, wo er Schweifzüge unternahm inmitten von Saalweiden, Faulbäumen, Flohkraut, Thymian, Blumen – und Klee. Der, so fand er, war doch wie geschaffen für Kaninchen. Prompt ließ er einige dieser Tiere aus Neuenburg kommen. Und ruderte sie, gemeinsam mit seiner Frau Therèse, der Verwalterin und deren Schwester aufs Inselchen hinüber. Das alles, so erzählt Barbara Wernli, Rousseau-Kennerin und wunderbare Führerin durch „sein Reich“, geschah nicht still und leise, sondern „en grande pompe“. „Rousseau hat diese Bootsfahrt so beschrieben, als führe er mit einem großen Schiff in Venedig ein“, weiß sie.

Der Philosoph war glücklich auf der Petersinsel. „Diese kleine Insel ist nur wenigen bekannt, selbst in der Schweiz“, hatte er begeistert geschrieben und erleichtert gesehen, „dass es an diesen seligen Gestaden keine breiten, für Kutschen fügliche Straßen gibt ...“. Reisende seien daher kaum zu erwarten, frohlockte er. Seine Bewunderer hielt es nicht ab, ihn dennoch zu besuchen. „Rousseau war ja ein Superstar“, sagt Wernli. Für seine „Julie oder Die neue Heloise“ standen die Menschen Schlange vor den Büchereien, der Roman war stundenweise auszuleihen. Nach Rousseaus Tod schwoll der Pilgerstrom an. Auch Goethe war da. „Ich habe Trauben für drei Jahre gegessen“, teilte er mit. Wie andere stand er in dem Zimmer und befühlte das rustikale Holz des Bettes. Die Menschen verewigten sich mit ihrer Unterschrift an den Wänden, ganz vollgekritzelt soll alles gewesen sein. Manchen Schriftzug hat man gelassen, nach behutsamer Renovierung. Der Blick aus dem Fenster – ein Traum. Weiß schimmern die Gipfel der Berner Alpen.

Hier zu bleiben, wäre höchstes Glück. Der Rousseau-Raum ist nicht zu mieten, aber es gibt ja weitere geschmackvoll eingerichtete Zimmer in dem Gasthaus, was nun zum schönen, historischen Hotel geworden ist. Wenn die Tagesgäste mit der MS „Berna“ fortgeschippert sind, hat man das Eiland fast für sich. Und könnte nach dem Dinner, wie Rousseau, „eine Runde Spaziererei“ unternehmen. Zu den Ufern des Bielersees etwa, die Rousseau als „weit wilder und romantischer“ pries als jene am Genfer See. Irgendwo dort steht ein Sockel, darauf seine Büste. Klein und bescheiden. Das in Bronze gegossene Antlitz wirkt ein wenig mürrisch. So, als wolle er lieber allein sein hier, in einem seiner geschätzten „buschbeschattenen Fluchtwinkel“.

Die Spaziergängerin kehrt ins Hotel zurück – und bleibt dem Philosophen nah. Die „Träumereien“ liegen auf dem Nachttisch.

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