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Reise: Sieben Seen zum Frühling

Der Radweg „Tour Brandenburg“ umrundet Berlin auf 1111 Kilometer Länge – Abstecher erwünscht

Mag sein, dass es noch eine Weile dauert, bis alles in voller Blüte steht. Aber passionierte Fahrradfahrer zieht es schon jetzt ins Umland. Man kann dem Frühling ja schon mal entgegenradeln. Zum Beispiel auf der Tour Brandenburg, einem der jüngsten und zugleich längsten Fernradwege Deutschlands. Anders als Havel-, Elbe- oder Spree-Radweg führt er nicht nur an Flüssen entlang, sondern umkreist in weitem Bogen Berlin und passiert dabei elf Naturparks, drei Biosphärenreservate, einen Nationalpark, vierzehn Städte mit historischem Stadtkern und natürlich allerlei Gewässer. Das Gute an dem Rundkurs ist nicht allein die Vielfalt. Man kann auch an jeder beliebigen Stelle ein- und wieder aussteigen, nur einen Tag oder mehrere Wochen unterwegs sein, zudem sind viele Etappenziele mit der Bahn erreichbar. „So können sich die Radler ganz nach Wunsch und Können Brandenburg in Tortenstücken einverleiben“, schwärmt einer der Initiatoren.

Das klingt überzeugend. Die Frage ist nur, wo wir bei dem Rundkurs einsteigen sollen. Vielleicht in Brandenburg an der Havel, der ältesten Stadt des Bundeslands, die der Mark ihren Namen gegeben hat? Immerhin ist sie von viel Wasser umgeben, und der 57 Kilometer lange Teilabschnitt von Brandenburg nach Rathenau, den wir ins Auge gefasst haben, führt gleich an sieben Seen vorbei. Die Fahrt mit dem Zug dauert weniger als eine Stunde. Direkt am Bahnhof steigen wir auf den Sattel, fahren erst eine Weile durch die Innenstadt, dann durch Vororte, Kleingartenkolonien und Kiefernwälder, bis zwischen den Bäumen tatsächlich das erste Gewässer aufblitzt: Der Breitlingsee ist Teil der Seenkette, die über die Niedere Havel mit Brandenburg verbunden ist – wie der Mösersche, der Plauer und der Quenzsee.

Neben dem Radweg liegt ein Stück Strand, dahinter ein paar kleine Inseln, ansonsten säumen Bootshäfen, Kanuvereine und Ausflugslokale das Ufer, die zu dieser Jahreszeit noch im Dämmerzustand ruhen. Wir sinnen gerade darüber nach, wie es hier wohl in der Badesaison aussehen mag, da tauchen plötzlich riesige Türme auf. Schornsteine inmitten der idyllischen Wald- und Wasserlandschaft? Wir radeln näher heran und entdecken das Ortsschild von Kirchmöser. Nein, hinter dem Namen versteckt sich kein Bilderbuchdorf mit Kirche in der Ortsmitte, vielmehr eine eigenwillige Zwanziger-Jahre-Siedlung, die zu einem alten Industriegelände gehört. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde hier ein Pulverpresswerk gebaut, später gesellten sich eine chemische Versuchsanstalt, ein Lokomotiv- und Panzerwerk hinzu. Zum Teil werden hier noch heute Gleise und Betonschwellen hergestellt. Doch die meisten Backsteinbauten haben ihre Funktion verloren und stehen mehr oder weniger verwaist in der Landschaft. Inzwischen sind sie Stationen des Industrielehrpfads Kirchmöser. Wer will, kann sich von Mitarbeitern des Projekts über das Gelände führen lassen. Kurzerhand stellen wir unsere Räder am Nordtor ab und machen uns mit einem der Führer auf den Weg. Gleich zu Beginn besteigen wir den Wasserturm. Der mächtige Turm ist das markanteste Gebäude weit und breit. 65 Meter hoch, eine kühne Stahlkonstruktion, die einen riesigen runden Wasserbehälter trägt und von einer dicken Mauer umzingelt ist. „Er entstand um 1915 herum zusammen mit dem ehemaligen Pulverwerk, um im Fall eines Brands das ganze Gelände fluten zu können“, erklärt der Guide.

Oben angekommen blicken wir aus schwindelnder Höhe auf lauter Industriebauten aus rotem Backstein, in der Ferne liegen Wälder und Seen. Wieder unten können wir uns davon überzeugen, dass Kirchmöser auch ein gelungenes Beispiel für die Symbiose aus Industriearchitektur, Wohnen und Wasserlandschaft ist, das sich noch heute großer Beliebtheit erfreut. „Die Nachfrage nach Wohnungen ist groß“, erzählt einer der Anwohner. „Wer sich hier erst mal niedergelassen hat, der will so schnell nicht weg.“ Geradezu idyllisch wirken die achtzig Jahre alten Werkssiedlungen. Farbig gestrichene Häuschen mit Gärten, in der Mitte ein Marktplatz, etwas abseits stehen die stolzen Offiziersvillen am Wasser und irgendwo auch das Kirchlein, das der Ortsname angekündigt hat.

Bevor wir wieder in die Pedalen treten, lockt noch ein Fischrestaurant am Wasser mit köstlichen Lachsforellen, dann geht es weiter in den Nachbarort. Hier müssen wir gleich wieder eine kleine Pause einlegen, um das Plauer Schloss zu bewundern. Ein stolzer Barockbau am gleichnamigen See, den der preußische Minister Friedrich von Görne im 18. Jahrhundert auf den Resten einer mittelalterlichen Burg errichten ließ. Im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört und danach notdürftig instand gesetzt, wurde das Schloss bis 1993 als „Institut für Sprachintensivausbildung“ für Auslandskader der DDR genutzt. 2006 erwarb es dann ein Berliner, um daraus ein Hotel zu machen. Hier und da können Besucher schon mal einen Blick hinter die Kulissen werfen.

Für mehr reicht die Zeit jetzt ohnehin nicht. Vor uns liegen noch diverse Stationen. Nach der Plauer Brücke wollen Briest, Bahnitz, Premnitz und schließlich Rathenau in Augenschein genommen werden. Ist das überhaupt alles zu schaffen? Oder sollen wir den Tagesausflug, statt zu hetzen, an einem näher gelegenen Bahnhof beenden? Denn schon nach den ersten Stationen steht für uns fest: Um einfach nur Kilometer herunterzureißen, ist die Tour Brandenburg viel zu schade. Zwar ist sie mit 1111 Kilometern eine deutschlandweite Rekordstrecke. Doch anders als die Tour de France, die in erster Linie sportliche Herausforderung ist, bietet sie sich vor allem dazu an, die Region besser kennenzulernen. Und Orte wie Kirchmöser, den wir ohne die Tour Brandenburg wohl niemals entdeckt hätten …

Marlies Gilsa

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