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Gipfeltreffen. Die Landschaft der Hohen Tatra ist faszinierend. Und selten herrscht viel Betrieb in den Loipen rund um Strbske Pleso.

© mauritius images

Skiabentuer in Strbske Pleso: Das Leuchten vereister Zweige

Die Hohe Tatra gehört großteils zur Slowakei. Eigenwillige Menschen leben hier – und gehen im Winter in die Loipen.

Fünfzehn Grad unter Null. Nebel liegt über Strbske Pleso, verhüllt die Felsen, die verschneiten Abhänge, die Tannenwälder und Gebirgsseen. Irgendwo hinter den Schwaden muss der Krivan in den Himmel ragen, der berühmteste Berg der Slowakei.

Einst sandte der Herrgott einen Engel zur Erde, erzählt man sich in der Hohen Tatra, um an ausgewählten Orten himmlische Schönheit auszustreuen. Der Engel sei mit seinem Rucksack am Gipfel dieses 2500 Meter hohen Berges hängen geblieben. So habe der Krivan, das „Matterhorn der Slowakei“, seine markante, schräge Form erhalten – und der Gottesbote seine gesamten Schätze hier ausgeschüttet.

Ich kann ihn nicht sehen, den slowakischen Zauberberg. Der Blick reicht keine drei Meter weit, an diesem Morgen im Winterkurort Strbske Pleso. Zögerlich stehe ich im harschigen Schnee, die geliehenen Langlaufskier unterm Arm. Mich fröstelt, die Nase läuft.

„Los geht's!“, ruft Tomas, mein Trainer, und lacht aufmunternd. „Auf ins Abenteuer!“ Tomas ist Anfang 30, bestens gelaunt, und trägt einen roten Skilehrer-Overall. Jetzt lässt er seine muskulösen Arme wie Propeller kreisen. Das rege die Durchblutung an. Seine Bretter hat er bereits untergeschnallt. Seltsam: Einer der Ski ist pink-, der andere rosafarben. Die neueste slowakische Mode? „Ursprünglich waren es zwei Paar“, sagt der Trainer und rückt seine Sonnenbrille zurecht. „Ein Ski ist mir im Tiefschnee abgebrochen, ein zweiter beim Schanzenspringen.“

Es scheint sich einiges getan zu haben beim Langlaufsport seit dem Winter 1987, als ich zum letzten Mal auf solchen Brettern stand. Es war in einem Schulskilager in den Schweizer Bergen. Wir wollten auf Alpin-Skiern die Hänge hinunterrasen, aber die Lehrer zwangen uns zum Langlauf. Sexy wie Patience legen, fanden wir das.

Mit dem Alter ändern sich die Leidenschaften. Heute träume ich davon, gemächlich durch eine märchenhafte Winterlandschaft zu gleiten: sanfte Bewegungen in frischer Bergluft, aktive Entspannung ohne präpotente Raser. Ein Winterurlaub in der Hohen Tatra, abseits der Touristenströme, schien mir wie geschaffen, um meine Langlaufkenntnisse aufzufrischen. Und nun bin ich an einen Schanzenspringer geraten.

Bei Strbske Pleso finden sich gespurte Loipen ebenso wie Querschneefeldein-Strecken, die die Nerven kitzeln. Und es ist ein historisch bedeutsamer Ort, an dem ich meinen Neuanfang wage. Die besten Langläufer der Welt kämpften hier um Medaillen, erzählt Tomas. „Dort drüben saßen die Reporter und Moderatoren“, sagt er und deutet auf eine heruntergekommene Holzbaracke. Er spricht von der Wintersport-Weltmeisterschaft im Jahr 1970.

Hüftsteif stakse ich hinter meinem Trainer her. In diesem Moment reißt der Nebel auf – und gibt den Blick auf ein überwältigendes Panorama frei: Direkt vor uns liegt der purpurn schillernde, vereiste Tschirmer See. Dahinter schlagen sich Felszacken wie Raubtierzähne in den tiefblauen Himmel. „Das dort drüben ist der Satan“, sagt Tomas, und deutet auf einen besonders steilen Gipfel. „Eine Herausforderung für jeden Wintersportler.“ Weiter rechts erkenne ich den König der slowakischen Berge: Den bildschönen Krivan, dessen tief verschneite Hänge aussehen wie mit Schlagsahne garniert. An der Spitze dieses Wunders der Natur soll sich einst der Engel Gottes verheddert haben.

Auch ich bleibe kurz darauf hängen. Ein Eisklotz liegt mitten auf der Piste, und irgendwie gerät das Ding zwischen meine Skier. Kopfüber lande ich im Tiefschnee. „Die Beine immer ganz durch schwingen“, doziert Tomas, als ich mich wieder aufgerappelt habe, und macht elegante Beinschlenker vor, irgendwas zwischen Hürdenlauf und Schwanensee. Und mit den Armen würde ich noch zu sehr kraulen, sagt der Trainer, ein typischer Anfängerfehler. Geradliniger, entschiedener Stockeinsatz!, fordert er.

Mischku? Bist du’s?

Tomas war in der slowakischen Jugendnationalmannschaft. Vor dem Frühstück machte er 60 Liegestütze, und dreimal täglich trainierte er in der Loipe. Doch als er 20 war, bekam er Knieprobleme und musste den Traum vom Weltmeistertitel begraben. Aus der Bahn geworfen hat ihn der Schicksalsschlag nicht: Heute arbeitet er als Koch, Schreiner, Touristenführer, Kellner, Skilehrer, Chauffeur, Hüttenwirt, Zimmermann – und eben als Langlauftrainer. „Männer aus der Hohen Tatra“, sagt er und zwinkert mir zu, „können einfach alles.“

Plötzlich ein Luftzug. Eine neongelbe Bohnenstange flitzt an uns vorbei. Auf Langlaufskiern. „Das war Milan“, sagt Tomas. „Schlank ist der, gell?“ Das mache die gute Bergluft. Sein alter Trainingspartner habe mal ein paar Jahre im Flachland verbracht, erzählt Tomas, „und war fett wie ein Schweinchen, als er zurückkam“. Aber jetzt trainiere Milan wieder Langlauf. Langlauf auf Slowakisch: Extremsport. Milan wird heute noch unzählige Male an uns vorbeirasen.

Die schönste Loipe von Strbske Pleso führt quer über den zugefrorenen See. Wir hingegen biegen kurz vorher ab. Der Trainer richtet die Spitzen seiner Skier leicht nach außen und kraxelt in flinken Pinguinschritten einen Berg hoch. Ich hechle hinterher. Viel später stehe ich schweißgebadet neben Tomas vor einer senkrecht abfallenden Felswand. Mein Herz hämmert vor Angst. „Hände auf die Knie, Stöcke unter die Arme!“, ruft der Trainer. „Und im Notfall einfach zur Seite fallen lassen.“ Dann brettert er voraus in die Schlucht hinab.

Au weia! Im Pflug wage ich mich in den Hang hinaus. Mit Alpin-Skiern wäre es kinderleicht, aber so? Hoppla!, eine Bodenwelle – ich fliege, sehe erst nur Himmel und dann nur noch Weiß.

In einem Berggasthof, etwas abseits der Loipe, verspeisen wir mittags Brimser Nockerln mit Schafskäse, eine Lieblingsspeise von Tomas. Seine Laune wird noch besser. Luchse und Wölfe gebe es in der Tatra, schwärmt er. Und einen Braunbären habe er kürzlich näher kennengelernt. Im vergangenen Frühjahr, zur Osterzeit. Tomas kochte ganz in der Nähe, auf der Solisko-Berghütte, gerade Gulasch für Feriengäste, als der Bär plötzlich durchs Fenster blickte. Er war noch jung, und zu früh aus dem Winterschlaf erwacht. Vielleicht wollte er nur spielen? Aber Braunbären sind gefährlich.

Mutig schnappte sich Tomas zwei Pfannendeckel aus der Küche, riss die Hüttentür auf und schmetterte die Metalldeckel wie Tschinellen gegeneinander. Der Bär rannte davon. Minuten später saß er wieder vor dem Eingang. „Wir gaben ihm den Namen Mischku“, erzählt Tomas. Bald ließ das Tier sich überhaupt nicht mehr verscheuchen. Wildhüter betäubten es schließlich mit einem Pfeil und trugen das Tier weit in die Wälder hinaus. Denn ein paar Jahre zuvor hatte hinter der Grenze, im polnischen Teil der Hohen Tatra, ein Bär ein Schulmädchen angefallen.

Brimser Nockerln scheinen Wunder zu wirken: In der nächsten Stunde falle ich nur dreimal hin. Selbst Abfahrten jagen mir keine Angst mehr ein. Ich kämpfe mich im Pflug bergab, und hopse anschließend im Pinguinstil Tomas hinterher den Hang hinauf. Die Eleganz meiner Bewegungen mag noch zu wünschen übrig lassen, aber mein Trainer scheint zufrieden. „Ich sehe Fortschritte“, sagt er.

Am nächsten Tag ist es soweit: Ich bin allein in der zauberhaften Winterlandschaft der Hohen Tatra. Über Nacht hat es geschneit, jetzt strahlt die Sonne vom tiefblauen Himmel. Die Loipe führt durch dichten Nadelwald. Wie mit Kristallglas überzogen leuchten die vereisten Zweige der Tannen. Nur das Sirren meiner Skier ist zu hören. Kraftvoll stoße ich mich mit den Beinen ab, und setze die Stöcke entschieden ein, wie es mir Tomas beigebracht hat. Seit Stunden bin ich keinem Menschen mehr begegnet.

Bei der großen Abfahrt, zurück nach Strbske Pleso hinunter, bremse ich überhaupt nicht mehr. Plötzlich verkannten meine Skier und überkreuzen sich. Ich rudere mit den Armen, versuche, das Gleichgewicht zu halten. Im letzten Moment kann ich das rechte Bein in die Höhe reißen – und kriege die Bretter auseinander. Uff! Noch ein letzter Hügel trennt mich vom Ziel. Da höre ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehe den Kopf. Zwischen den Tannen bewegt sich etwas. Was mag das große Braune da drüben sein? Eiskalt kriecht mir die Angst den Rücken hoch. Mischku? Bist du’s?

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