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Gräser, Kräuter, Blumen – auf den Hochalmen der Picos bekommen die Kühe alles, was ihre Milch und schließlich den Käse gut macht.

© Lothar Schmidt

Spanien: Am Aussichtspunkt der Königin

In Spaniens Norden liegen die Picos de Europa, eine bizarre Gipfelwelt – wie gemacht fürs Wandern.

Amalia Menendez ist 81 Jahre alt. In Kittelschütze steht sie an der Tür ihrer einfachen Steinhütte und schaut neugierig, wer da im Gebirge unterwegs ist. Schwer atmend und froh über eine kleine Pause legen wir unsere Rucksäcke ab. „Im Gebirge“, sagt Fernando unser Bergführer, „ist das Gespräch etwas sehr Wertvolles. Wer hier oben an einer der Hütten vorbeikommt, sollte kurz nachfragen, ob alles in Ordnung ist, ob man Hilfe anbieten kann.“ Amalia braucht keine Hilfe. Es geht ihr gut, auch wenn sie ein kleines Pflaster unter dem Auge trägt. „Nichts Schlimmes“, sagt sie und spricht vom Leben und Arbeiten in den Picos de Europa, den „Gipfeln Europas“ an der Nordküste Spaniens.

Die rüstige Amalia gehört zu den letzten Bergbauern der Region. Auf fast archaische Weise wird im ältesten Nationalpark Spaniens ein geräucherter Rohmilchkäse gemacht, der von Kennern hochgeschätzt wird, der Queso Gamonedo von Ziege, Kuh und Schaf. Tatsächlich gibt es nur noch fünf bewirtschaftete Sennhütten im Nationalpark. Die Majadas, so heißen die hochgelegenen Weiden auf denen ein Schäfer seine Hütte hat, und die Bergseen von Covadonga sind das Ziel unserer Wanderung.

Mit einem Anflug von Stolz zählt Amalia auf, was sie am Tag so alles zu tun hat. Sie muss Wasser holen, Holz hacken, die Schafe, Ziegen und Kühe melken, Käse machen, in der Hütte ein Feuer anzünden, damit der Rauch die runden Käselaibe räuchert. Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser. Die Majada hat nicht einmal einen Kamin. Der Rauch zieht durch die Ritzen der Trockenmauern, so wird der Käse besser geräuchert. Ihr selbst mache der Rauch nichts aus, sagt Amalia. Aber ein Handy für den Notfall wird sie doch sicher haben? „Nein, bis Menschen, die helfen könnten, hier oben sind, ist es sowieso zu spät“, sagt sie und lacht.

Ihren Namen haben die „Gipfel Europas“ von den Seeleuten, denen sie auf der Rückkehr nach Europa erste Orientierung sind. 1918 hatte Pedro Pidal, der Marquis von Villaviciosa, angeregt, das Gebiet zu einem Nationalpark erklären zu lassen. So etwas gab es in Europa bis dahin nur in Norwegen. Pidal war nicht nur ein Liebhaber der wilden Bergnatur, er war auch ein guter Kletterer. 1904 bestieg er als Erster den markanten Picu Urriello. Der Zweite war übrigens der Deutsche Wilhelm Schatz, der dem Berg Naranjo de Bulnes taufte. Seitdem tauchen beide Namen auf den Karten auf. Der Naranjo de Bulnes (2519 Meter) befindet sich wie der höchste Berg der Picos, der Torrecerredo (2646 Meter) im Macizo Central, im Zentralmassiv. Westlich davon erhebt sich der Macizo Occidental und östlich der Macizo Oriental.

Die Auffahrt ist ein Fest für die Augen

Altes Bauernhaus in einem Dorf nahe des Nationalparks Picos de Europa.
Altes Bauernhaus in einem Dorf nahe des Nationalparks Picos de Europa.

© mauritius images

Wir sind im West-Massiv, oberhalb der Seen von Covadonga und unterhalb der Peña Santa (2596 Meter) unterwegs. Um die fantastische Bergwelt zu erleben, muss man natürlich erst einmal hinaufkommen. Die Auffahrt ist ein Fest für die Augen – und zugleich ein Ausflug zu den Wurzeln Spaniens. Im engen Tal, oberhalb von Cangas de Onis, verschanzte sich 722 der asturische Kämpfer Don Pelayo mit einigen Getreuen in einer Höhle. Sie wurden von maurischen Truppen aus dem Süden Spaniens gejagt. Die schmale Schlucht wird zur Falle. Bei Covadonga schlägt Pelayo die Angreifer und feiert den ersten Sieg spanischer Truppen über die Mauren nach 711. Die Cueva Santa, die heilige Höhle, in der die Jungfrau der Schlachten verehrt wird, ist sozusagen der Ursprung der länger als 700 Jahre Jahre dauernden Reconquista, der christlichen Rückeroberung, die mit dem Fall Granadas 1492 abgeschlossen sein wird.

Wer hätte gedacht, mit welchen Naturwundern der Kantabrische Gebirgszug, der parallel zur Küste verläuft, den Besucher überrascht. Das schmale Sträßchen windet sich in engen Serpentinen durchs frische Grün. Die noch feuchten Gräser und Blätter glitzern in der Morgensonne, einige Nebelschwaden hängen fotogen an hellgrauen Kalkfelsen. Beim Mirador de la Reina, dem ersten Aussichtspunkt, trottet ein Duzend Kühe über den Parkplatz.

Jedes Jahr, traditionell am 24.April, werden die Vacas Asturianas de Montaña, die kräftigen, robusten Tiere, auf die Hochalmen getrieben – oder einfach mit dem Lastwagen hinaufgefahren. Anfang Juni dann folgen Ziegen und Schafe. Im September dürfen auch Pferde auf die saftigen Weiden und sich laben an den aromatischen Gräsern, Kräutern und Blumen. Auf die Lämmer und Kälber indes freuen sich schon Wölfe und Geier, die in den Picos heimisch sind. Damit sie dem Vieh nicht zu nah kommen, bewachen riesige Pyrenäenhunde die Herden. Aber manchmal, beklagen die Bauern, wird doch ein Lamm gerissen.

Nach zwölf Kilometern endet die Panoramastraße beim Informationszentrum Pedro Pidal. Fernando gibt sich Mühe, uns in den inszenierten Bergwelten des Infozentrums auf die Natur des Nationalparks einzustimmen, aber ohne Erfolg. Was sollen wir hier drinnen? Es zieht einen sofort wieder hinaus in die majestätische Bergwelt. Wir sind zwar nur in 1200 Meter Höhe und dennoch über der Baumgrenze. „Das kommt durch die Nähe zur Küste“, erklärt Fernando. Bis zum Atlantik sind es gerade mal zehn Kilometer Luftlinie.

Eines muss man ehrlicherweise sagen: Dieser Tag ist nicht repräsentativ. Keine Wolke trübt den Himmel über den teilweise noch schneebedeckten Gipfeln. Oft ist es anders. Die Nordküste Spaniens ist für zahlreiche, ausgiebige Regenfälle und rasche Wetterwechsel bekannt. In den Picos kommt noch der unberechenbare Nebel hinzu. Der ist so tückisch, dass selbst unser erfahrener Guide einmal einen halben Tag orientierungslos durch die Berge irrte. Berücksichtigt man noch die eher bescheidenen Wegmarkierungen, ist es empfehlenswert, nicht auf eigene Faust weite Wanderungen zu unternehmen.

Das erste Wegstück führt in die jüngere Geschichte. Stollen und verrostete Gleise gehören zu einer offen gelassenen Mangan-Mine. Der Rohstoff war im Zweiten Weltkrieg heiß begehrt. Man braucht ihn zum Härten von Eisen. Wir sind allerdings noch im Territorium der Spaziergänger. Vor uns öffnet sich eine Hochebene mit dem Gletschersee Lago de la Ercina. Dahinter erst erhebt sich die Kulisse mit dem schneebedeckten Gipfel der Peña Santa.

Einige Schäfer halten sich nicht an EU-Bestimmung

Alles Käse. Gamonedo und Cabrales werden nur in den Picos hergestellt.
Alles Käse. Gamonedo und Cabrales werden nur in den Picos hergestellt.

© Lothar Schmidt

Nach einer halben Stunde erreichen wir die erste Majada. Sie liegt in einem sanften Kessel, der hier und da von einem Felsen durchbrochen wird. Einige Ziegen und Kühe weiden dort, drei Schäferhütten aus urigem Stein befinden sich in der Nähe. Sie sind eindeutig älteren Datums als die Kollektoren der Solaranlage. Den Strom, erklärt Candido, einer der Schäfer, freundlich, brauchen er und seine beiden Kollegen für eine kleine Melkanlage und zum Desinfizieren.

Dann macht er uns auf ein Paradox aufmerksam. Seit der Gamonedo-Käse und der Cabrales, ein Blauschimmel- Ziegenkäse, eine exakte Herkunftsbezeichnung nach EU-Bestimmung bekommen haben, ihr Erhalt und Fortbestehen also geschützt werden soll, dürfen die Bergbauern sie nicht mehr so herstellen, wie es seit Jahrhunderten Brauch ist. Einige Schäfer, so sagt man uns, machen dabei nicht mit. Sie verkaufen ihre Käselaibe lieber auf Märkten oder auch privat unter der Hand und verzichten dabei auf die offizielle D.O.-Kennzeichnung.

Der Gamonedo ist ein Rohmilchkäse, der aus unterschiedlichen Anteilen von Kuh-, Schaf- und Ziegenmilch hergestellt wird. „Hier oben frisst das Vieh die besten Kräuter, außerdem geben die Tiere nur wenig Milch“, erklärt Candido die besondere Qualität der Bergkäse, die in kühlen Felshöhlen reifen. Zwischen zehn und zwölf Käselaibe macht Candido am Tag. Die Größe der Rundlinge ist unterschiedlich, doch das Gewicht bleibt ziemlich gleich. Meist wiegen sie um die sieben Kilogramm.

Unsere Fragen haben den 48-Jährigen etwas nervös gemacht. Candido, der mit elf Jahren zum ersten Mal hierherkam, um zu arbeiten, ist ein stiller Mensch. Er mag die Arbeit. Einmal hat er einen Sommer im Tal verbracht und dort Käse hergestellt. Seitdem wisse er, dass er in den Bergen besser aufgehoben ist, erzählt er. Dabei schaut er in die Ferne, dorthin, wo an den Bergflanken noch Schnee liegt und gibt uns zu verstehen, dass das Gespräch für ihn nun beendet ist.

"In die Picos kommen nur die besten Menschen"

Amalia Menendez freut sich immer über Besuch in ihrer Steinhütte oben am Berg.
Amalia Menendez freut sich immer über Besuch in ihrer Steinhütte oben am Berg.

© Lothar Schmidt

Es ist relativ einfach, ein Leben wie es Candido de Asprón führt, romantisch zu finden. Wie schwierig und hart es tatsächlich ist, belegt die simple Tatsache, dass es in den Picos de Europa nur noch drei Familien gibt, die zumindest im Sommer ein Leben führen, dessen Tagesablauf sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat.

Wir wandern weiter, weiter durch eine abwechslungsreiche Hochgebirgslandschaft. Wir schweigen, konzentrieren uns auf die Schritte und nehmen die Landschaft nicht mehr so gierig auf wie zu Beginn. Doch noch immer erkennen wir, wie einzigartig und schön sie ist. Wir kommen an einer verlassenen Majada vorbei. Sogar ein kleiner Dreschplatz ist dort noch zu erkennen. Wenn auch die letzten Bergbauern verschwinden und mit ihnen das Vieh, wird sich die Landschaft radikal verändern. Die Pastos, die Weiden, erzählt uns Fernando, „sind das Ergebnis einer jahrhundertealten Selektion“. Seit dem 15. Jahrhundert ist geregelt, wie, wann und von wem die Weiden genutzt werden dürfen. Die Symbiose von Natur und Landwirtschaft hat der Bergwelt ihr unverwechselbares Gesicht gegeben.

Nach fünf Stunden Wanderung mit vielen Fotostopps erreichen wir die kleine Welt von Amalia. Die lebensfrohe Bäuerin genießt die sonnigen Stunden und zeigt uns bereitwillig ihre geschätzten sechs Quadratmeter zum Kochen, Schlafen und Arbeiten. Über die Wanderer, die ab und an vorbeikommen, kann sie nur Gutes berichten. „Hier in die Picos“, sagt sie, „kommen nur die besten Menschen der Welt“.

Es wird Zeit, wieder aufzubrechen. Das letzte Stück von der Majada der beneidenswert zufriedenen Amalia hinunter zum Lago de Ercina steht bevor. Die Etappe führt durch eine Gebirgsszenerie, wie sie gern in Reiseprospekten gezeigt wird. Die Sonne wirft ein dramatisch helles Licht auf Felsgrate, Wiesen und Vieh. Die Kühe liegen entspannt im Grün am Bergsee Ercina und lassen sich nicht stören von den Fußgängern, die nun reichlich müde an ihnen vorbeitrotten. Immerhin: Etwa zwölf Kilometer lang war die Route. Geübte Bergwanderer machen das in vier Stunden. Wir haben sieben gebraucht. Das heißt, wir haben uns sieben Stunden Zeit genommen und schieben den Abschied noch etwas hinaus.

Neben dem Enol-See befindet sich ein einfaches Hüttenlokal. Bei Gamonedo- und Cabrales-Käse und einem Glas jungen Apfelwein planen wir die Wanderung für den nächsten Tag. Ziel ist die Cares-Schlucht, die das Zentral- vom Westmassiv trennt. Es gibt noch viel zu entdecken in den Picos de Europa.

Lothar Schmidt

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