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Spanien: Sardinen für Fidel Castro

In Lancara in Galicien wurde der Vater des "Comandante“ geboren. Als der Sohn 1992 zu Besuch kam, stand das Dorf Kopf. Und schwelgt in Erinnerungen.

Lancara liegt an einer jener bedeutungslosen Straßen, die von etwas größeren, doch noch immer bedeutungslosen Straßen im Innersten eines weiten Landes abzweigen, um in die letzten Winkel der Erde und irgendwann gar nicht mehr weiterzuführen. Deshalb findet sich der Weg nach Lancara nur auf Landkarten Spaniens, in deren feinmaschigem Netz aus dünnsten Sträßchen sich noch kleinste menschliche Siedlungen verfangen. Lancara ist also einer jener bedeutungslosen Orte auf der Welt, von deren Existenz man niemals etwas erfährt. Es sei denn, das Schicksal erbarmt sich eines Tages und schreibt ausgerechnet an einem solchen gottverlassenen Ort ein winziges Stück Geschichte.

Der große Tag in der Geschichte des Dorfes Lancara in Galicien war der 26. Juli 1992. Schon vierzehn Tage zuvor verspürten die Menschen eine in ihrem Leben eher seltene Unruhe. Die Frauen fuhren plötzlich nach Lugo und ließen sich die Haare richten, manche zum ersten Mal seit dem Tag ihrer Hochzeit. Männer liefen in ihren Zimmern auf und ab, durchwühlten die Kleiderschränke nach den weißesten Hemden, putzten Schuhe und suchten Krawatten. Sie ließen die Arbeit stehen und trieben sich in den Straßen von Puebla de San Julián herum, der Bezirkshauptstadt mit dem Bahnhof, um sich immer wieder über ein und dasselbe Thema zu unterhalten: den berühmten Gast, der sich angekündigt hatte.

Es wurde tatsächlich ein großer Tag im Leben der Menschen von Lancara. Noch heute haben die Augen von María Teresa, der Apothekerin, einen merkwürdigen Glanz. Sie braucht nur an diesen heißen Julitag zurückzudenken, schon strahlt sie wie eine Frau, die dem Mann ihres Lebens begegnet ist. Sie erinnert sich an die Prozession der Staatskarossen, die dem Sträßchen in ihr Heimatdorf hinauf folgte, auf dem sich sonst nur Traktoren, Kühe und ein paar alte Kleinwagen bewegen; an die Kameras und Fotoapparate der Journalisten, die plötzlich Augen hatten für die schlichte Schönheit der grünen Landschaft mit ihren Wäldern und Wiesen, die in Stein gefassten winzigen Parzellen der Weiden und Minifundien. Sie filmten an Wänden lehnende rostige Gerätschaften, fotografierten die Blumen vor den alten Steinhäusern, die ewigen Kohlköpfe im Garten und die Hunde und Esel im Hof. Sie besuchten die kleine Bar mit den zwei Tischen vor der Tür, den Tabakladen unter den drei Linden, den Lebensmittelladen mit seinen Konserven und halbleeren Regalen. Das Alltägliche erschien plötzlich feierlich, und das unbeobachtete jahrhundertealte Leben zwischen den Hügeln war mit einem Mal etwas ganz Besonderes.

Sogar die Worte und Gedanken der Bewohner dieser stillen Hügel erregten das Interesse und wurden in die Welt getragen. Journalisten streckten den Männern, Frauen und wenigen Kindern von Lancara die Mikrofone entgegen, Kameramotoren surrten und die Menschen antworteten: Ja, natürlich seien sie stolz. Nein, der viele Trubel störe sie nicht, hier passiere ja sonst nie etwas. Und nein, vom Kommunismus halte man nicht viel, aber Fidel sei eben ein Galicier. Aber nein, was sollten sie sich von diesem Besuch versprechen? Am nächsten Morgen werde man wieder auf die Felder und zu den Tieren gehen, so wie an jedem anderen Morgen.

Natürlich kannte ihn jeder im Dorf, und jeder wusste irgendeine Anekdote von Nagio Angel Castro Argiz zu erzählen, dem Soldaten, dem Funker aus Lancara, der 1898 mit dem spanischen Heer über den Ozean schiffte, um die letzte Kolonie der Seefahrernation zu verteidigen: Kuba! Und der am Ende dort blieb, um Zuckerrohr anzubauen. Er war im Grunde auch nur einer der vielen, die Galicien verließen und auswanderten, weil die winzigen Felder nicht genug hergaben zum Leben. Und auch nur einer, von dem in den ersten Jahren kaum Nachrichten herüberdrangen. Bis dann erstaunliche, immer wildere Gerüchte zu hören waren, Geschichten, die man anfangs gar nicht glauben konnte im weit entfernten Lancara.

Aber eines Tages wurde das Gerede von der Wirklichkeit eingeholt: Die Daheimgebliebenen sahen ihn im Fernsehen: den Sohn ihres Nagio Angel Castro Argiz. Damals begannen sie zu flüstern, wenn sie am Haus des ehemaligen Nachbarn vorbeikamen. Sie schlugen sich den Gedanken aus dem Kopf, das dunkle, nur mit einer Tür und einem kleinen Fenster versehene, tief in die Landschaft geduckte Haus als Stall für ihre Schafe oder Hühner zu benutzen. Sie achteten von nun an sorgfältig darauf, dass die Tür gut verschlossen blieb, dass niemand das hölzerne Sofa stahl, das auf dem kühlen Lehmboden vor dem Kamin stand, dass die Schieferplatten auf dem Dach nicht verrutschten und kein Regen eindrang in das Haus des Vaters des Comandante. Vielleicht würde es eines Tages einmal von Bedeutung sein, das leere Haus, vielleicht würde man eines Tages ein Museum darin einrichten und einen Gedenkstein ins lose Mauerwerk setzen. Vielleicht würde er ja eines Tages kommen.

Er kam tatsächlich, am 26. Juli 1992. Fidel Castro wollte das Haus seines Vaters sehen. „Er lud uns alle zum Essen ein, das ganze Dorf, hundert, zweihundert, dreihundert Leute, ich weiß es gar nicht mehr“, sagt die Apothekerin, und ihre Augen leuchten. Mehr als tausend sollen an der Tafel gesessen haben, schrieben die spanischen Zeitungen. Aber die Apothekerin hatte nur Augen für einen, der saß nicht weit von ihr entfernt und aß Sardinen. Die kleinen, elenden Sardinen, mit denen sich halb Galicien durchs Leben schlug. „Er aß Sardinen, genau wie ich“, sagt die Apothekerin und seufzt.

Auch Julio Giz Ramil, der Bürgermeister im Rathaus von Puebla de San Julián, seufzt ein wenig, wenn er an diesen bedeutungsvollen Satz zurückdenkt, den er hat sprechen dürfen, den die ganze Welt hören konnte: „Lieber Fidel, hiermit ernenne ich dich zum Adoptivsohn von Lancara.“ Der Gast mit dem strengen Gesicht und der olivfarbenen Hose schmunzelte über die große Ehre, die ihm zuteil wurde, und murmelte: „Aber warum denn? Ich bin doch sowieso schon einer von euch.“

Alle in Lancara und Puebla de San Julián nicken und seufzen, wenn sie sich erinnern: wie „ihr Fidel“ auf dem winzigen Podest unter dem Apfelbaum stand und seine Schuhe musterte, während dem Minister Manuel Fraga vor Rührung die Tränen kamen und die Stimme brach; an die Schulmädchen in den roten Röckchen, die auf der grünen Wiese für den „máximo líder“ tanzten, und die Blaskapelle mit den Dudelsäcken.

Der Bürgermeister deutet auf ein Bild an der Wand: „Das ist er, der Comandante.“ Er weiß, der Zenit seiner lokalpolitischen Karriere ist überschritten. Zu selten erinnert sich noch jemand an ihn oder das Dorf oder den Tag, als Fidel Castro kam. Zu selten fragt jemand nach Lancara und dem Haus des Vaters von Fidel Castro. „Ganz, ganz selten“, sagt die Apothekerin, hebt resignierend die Schultern und blickt hinaus auf die Hauptstraße. Dann kehrt sie zurück zu den Erinnerungen.

„Zwei Stunden haben wir gesessen und gegessen, es war ein ziemlich heißer Tag. Seine Cousine – die wohnt hier in der Nähe – war auch da“, erzählt die Apothekerin, „und Fidel Castro hat geredet und geredet. Wir saßen draußen, auf der Wiese, auf dem Feld, und rundherum war Polizei.“ Dann zeichnet sie auf der Rückseite eines Rezeptes die Anordnung der Tische auf. „Hier, hier hat er gesessen, und ich, ich saß hier.“ Sie klopft mit dem Kugelschreiber mehrmals auf die Stelle, an der ihr Stuhl stand.

Stolz, als handele es sich um gebratenes Zicklein, serviert Hilda Vásquez, die dicke Bilderbuchwirtin aus dem Gasthaus von Lancara, ihre Bohnensuppe mit Kutteln und die kleinen, gebratenen Sardinen für die Fremden. Stolz holt sie die große Fotografie aus der guten Stube, stellt sie auf die Theke und verschränkt ihre gewaltigen Arme darüber: „Das, das ist er“, sagt sie und lacht. Sie lacht laut und derb, der Comandante muss seine Freude an dieser Stimme gehabt haben. Dann ruft sie ihren Vater, den alten José Vásquez Cabata, Mitglied einer kleinen galicischen Delegation, die einst nach Kuba reiste, um dem berühmtesten Sohn des Dorfes ihre Aufwartung zu machen. „Acht Stunden waren wir im Palast, und er hat acht Stunden lang nur geredet. Acht Stunden!“ Der Vater nickt und wischt sich die von der Erinnerung beschlagenen Brillengläser. „Wären wir damals nicht zu ihm nach Kuba gefahren, dann wäre er nie nach Lancara, nie nach Spanien gekommen.“

Natürlich gebe es auch in Lancara welche, die etwas gegen Fidel Castro und den Kommunismus hätten, sagt die Wirtin und stützt ihre fleischigen Arme auf den Tresen. „Aber solche Ignoranten gibt es doch überall. Für uns jedenfalls war er gut. Wir haben Tische und Sonnenschirme vor das Haus gestellt, die Küche ausgebaut, und wir vermieten sogar Zimmer an Touristen. Wenn welche kommen.“

Doch es sind nur wenige, die kommen, obwohl man endlich einen Gedenkstein in das alte Mauerwerk des berühmten Hauses eingelassen hat, gleich neben der Tür. Hühner laufen im Hof herum, der einst einmal der Gemüsegarten der berühmten Familie gewesen sein muss. Und manchmal spielen Kinder im Hof, heimlich. Wenn Fremde kommen, klemmen sie den Ball unter den Arm, klettern wie die Wiesel die Böschung hinauf und beobachten aus sicherer Distanz die Besucher.

Der Mann mit dem langen Bart ist eine Art Geist für sie. Und der 26. Juli 1992, der Tag, als Fidel Castro kam, so etwas wie ein Märchen. Eine verstaubte Legende aus einer Zeit, als sie noch nicht geboren waren. Aus einer Zeit, als einmal ganz Spanien, ganz Europa, sogar Amerika wusste, dass das kleine Dorf Lancara irgendwo zwischen den Hügeln Galiciens liegt. Längst ist es wieder in Vergessenheit geraten. Fidel Castro aber wird es nicht vergessen haben. Dessen sind sich die Menschen von Lancara sicher. Und vielleicht warten einige noch immer darauf, dass er einmal wiederkommt, in seine alte Heimat, am Ende vielleicht. Damit noch einmal Licht fällt auf dieses kleine, unbedeutende Dorf am Rand einer kleinen, unbedeutenden Straße, die nirgendwohin führt.

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