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© Mauritius images

Reise: Spiegelungen am Darß

Bei einer winterlichen Ostseewanderung zwischen Zingst und Travemünde zeigt sich: Deutschland kann sehr surreal sein.

Ja, geh’ ich denn durch Louisiana? Das Oberdeck eines Raddampfers, die schwarzen Schornsteine mit Gold abgesetzt, scheint durch das Schilf über die Salzwiesen zu schweben, langsam weg vom Bodden zu gleiten, hin zur Ostsee. Aber sie ist keine optische Täuschung, die „Riverstar“, sondern ein ganz normaler Ausflugsdampfer, der hier oben im vorpommerschen Norden auf Südstaatenromantik getrimmt ist. In der Sommersaison fährt sie Ostseeurlauber zum Bodstedter Bodden; jetzt, im Winter, geht’s zum Auftakeln nach Prerow.

Das Gehen erledigt sich heute morgen noch von selbst, der Takt, den der Wanderstock dazu gibt, alle zwei Schritte ein Tock, wirkt wie ein einschläferndes Mantra. Auch das Denken hat den Spargang eingelegt, was soll die Fantasie schon reizen zwischen all den Maulwurfshügeln und der Skyline aus Weiden, die sich vor dem Bodden krümmen? Tock, marsch, marsch, tock.

Ein einsamer Seeadler, an den weit gespreizten und ausladenden Flügeln gut auszumachen, kreist über einer dieser Salzwasserwiesen, die landeinwärts von entwässernden Kanälen eingekastelt sind. Kurze Rast in Wieck am Darß. Anscheinend werden hier kaum noch Häuser gebaut, die nicht mit Reet gedeckt sind, das sie in Mecklenburg und Vorpommern Rohr nennen.

Die Festlandsküstenlinie, viele Windräder und einige Kraftwerksschlote sind rund um Barth schwach zu erkennen, bildet mit dem dramatisch bewölkten Nachmittagshimmel eine Gerade, die wie eine dünne Schnur die Landschaft teilt und den stillen Bodden zu einem Spiegel macht, in dem sich die Bilder zu einem rätselhaften Rohrschachtest anordnen.

Die Pfähle, die aus dem Ufer ragen, spiegeln sich im Wasser zu einem Ensemble von Zeichen und Signalen, die nicht zu deuten sind. Wie eine Flamme brennt sich die Sonne in den Horizont und zeichnet Silhouetten aus Weiden gegen den späten Himmel, in den vereinzelt Saatkrähen gegen die Kälte und die Dunkelheit anschreien. Gut, dass es nur noch zwölf Kilometer sind bis Ahrenshoop.

Versonnen fixiert ein Arbeiter die Ostsee, teils auf seine Schippe, teils an den Schutzzaun über der Klippe gelehnt. Der Mann ist die Ruhe selbst, und das steckt an. Gehen und Schauen werden eins; zwischen all den Variationen in Sandbraun, Reifweiß, Graugrün und Mattblau sind die paar Hagebutten- und Sanddornreste wahre Farbexplosionen. Weit voraus sind schwache Küstenschemen zu erkennen, vermutlich verbinden sich dort Fischland- und Festlandküste.

Drüben, vor Wustrow, ist ein graubräunlicher Gebäudekomplex mit blinden Fensterscheiben durch das hohe Schilf zu erkennen. Ein klotziger Turm mit Aussicht, verbunden mit Anbauten, die an Kasernen oder Internate erinnern. Es ist die ehemalige Seefahrtschule Wustrow, in der knapp 150 Jahre lang Offiziere und Funker der Handelsmarine ausgebildet wurden.

Die Attraktion des nächsten Morgens ist westlich von Warnemünde zu sehen – drei Kilometer durch die Stoltera, ein schmales Waldstück über den Kliffen, die zur Ostsee abstürzen. Die Morgensonne beleuchtet glatte Buchenstämme und runzlige Erlen, die sich gegenseitig mal in den Schatten stellen, mal rötlichgelb in Szene setzen. So könnte ein Spaziergang durch ein surreales Bühnenbild aussehen, wenn es nicht die natürliche Realität der Stoltera wäre.

Wer einen scharfen Blick hat, kann eineinhalb Kilometer ostseeeinwärts eine Art Seezeichen sehen, einen Masten, der fünf Meter aus dem Wasser ragt. Er kennzeichnet ein künstliches Riff, das hier zu fischereiwissenschaftlichen Zwecken mittels Betonbauteilen angelegt wurde. Diese versenkten Tetrapoden bewuchsen schnell und lockten – wie gewünscht – allerlei Fischarten an, die sich hier lange nicht mehr hatten sehen lassen. Schon wird über Touristenattraktionen und Taucherparadiese am künstlichen Riff vor Börgerende und Heiligendamm spekuliert.

Ungefähr hier beginnt auch eine kleine Reihe mit Herrenhäusern an Salzhaff und Ostsee, die teilweise von angestammten Adelsfamilien zurückerworben und jetzt als repräsentative und ostseenahe Ferienwohnungen vermarktet werden. Die Idylle von Roggow ist offenbar nicht gänzlich unberührt – „Flugplatz Zweedorf – und der Tourismus ist ruiniert“, warnt ein Plakat im Ort. Auf dem nahe gelegenen ehemaligen Agrarflugplatz entsteht ein „Fliegerdorf“ mit Flugplatzanbindung für Flieger und Fallschirmspringer – also reichlich Stoff für Zoff vor den Toren von Wismar.

Vor der Hansestadt, auf der Höhe des Ortsteils Redentin, baut sich die Silhouette eines seltsam geformten Schiffs eingangs der Wismarbucht auf. Der Rumpf eines Betonschiffs aus den stahlarmen Kriegszeiten steht hier, das in den 1950er Jahren in der Wismarbucht strandete und nie weggeschleppt werden konnte.

Woher hat diese klitzekleine Sackgasse mitten im Zentrum von Wismar eigentlich ihren frivolen und zugleich geläufigen Namen, bekannt durch Funk, Film und Kegelausflüge? Was hat es mit der Tittentasterstraße auf sich, direkt hinter dem wunderbaren Marktplatz?

Am westlichen Stadtausgang passiert der Wanderer eine weniger lustige Vergangenheit – was da weiß und kantig aus dem Hafen blitzt, ist eine Traditionswerft, der es an Zukunft und neuen Aufträgen fehlt. Heute ist für die Werftindustrie alles ungewiss, dafür boomt die Holzverarbeitung. Dass sich Wismar zum führenden Standort der Holzindustrie gemausert hat, ist auch an diesem holztypischen Duft zu erkennen, der sich bei entsprechendem Wind vom Hafen her über die Stadt legt.

In der Nacht hat sich Schnee über den Klützer Winkel gelegt, umso hübscher sticht der Giebelschmuck über den rohrgedeckten Häusern gegen das Weiß ab. Die Pferdeköpfe erinnern an Scherenschnitte, die sich im Wiegeschritt des Wanderns hin und her bewegen.

Am Ausgang des „Brooker Waldes“, eines fast quadratisch angeordneten Naturschutzgebiets, öffnet sich eine wohl dreihundert Meter lange Lindenallee, die zum Herrenhaus Groß Schwansee führt. Dessen weißer Putz wirkt gegen den frisch gefallenen Schnee wie eine Tarnfarbe. Die Anlage ist heute ein Luxushotel (Einzelzimmer ab 125 Euro pro Nacht) mit preisgekrönter Restauration. Vielleicht nicht ganz so luxuriös, freilich nicht weniger zurückgezogen-idyllisch liegt das Gutshaus Harkensee (Einzelzimmer ab 70 Euro), hübsch umrahmt von ein wenig DDR-Reminiszenz. Die Laternen, die den Weg zum Gutshof beleuchten, sind noch ebenso original wie der Straßenname: „Straße der Freundschaft“.

Von der deutsch-deutschen Grenze, die hier mal aufs Hermetischste alles abriegelte, ist nichts mehr zu erkennen. Dort, wo sich vor 20 Jahren auch zwischen Pötenitz und Travemünde der Eiserne Vorhang triumphal öffnete, steht heute „PN 16 DN 200“ auf einem gelben Pfosten und weist banal auf unterirdische Erdgasrohre hin ...

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