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Strandurlaub? Da liegen Sie hier richtig, auf der Ilha de Boipeba vor der Atlantikküste Bahias. Doch es wäre schade, nur einen Faulenzerurlaub in Brasilien zu verbringen.

© Stanislas Fautre/Le Figaro Magazine/laif

Brasilien: Rio – und der riesige Rest

Wer das größte Land Südamerikas bereist, kann Brasilien in mindestens sechs verschiedenen Facetten erleben.

Der klassische Start einer Reise nach Brasilien? Führt übers Meer. Am besten auf der Route, wie sie vor gut 200 Jahren der portugiesische König wählte. Mit dem Schiff in die Guanabara-Bucht, links der Zuckerhut, rechts der Corcovado mit der gewaltigen Christus-Statue, die natürlich noch nicht da war, als João VI. im Jahr 1808 in Rio de Janeiro anlegte. Portugal, wer weiß das schon, ist einmal von Brasilien aus regiert worden. João VI. kam auf der Flucht vor Napoleon mit seinem gesamten Hof nach Rio und blieb 13 Jahre lang. Heute markiert ein Reiterstandbild die Stelle, wo der König damals brasilianischen Boden betrat.

So viel zum klassischen Start. Er birgt allerdings ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Wer erst einmal in Rio angelangt ist und die Bekanntschaft mit den Stränden von Copacabana und Ipanema gemacht hat, der will so schnell nicht wieder weg. Das ist schade, denn Brasilien ist nicht nur Rio. Trotz des Endspiels um die Fußball-WM 2014, trotz der Olympischen Spiele 2016. Beide Großereignisse werden Brasiliens populärste Stadt noch ein bisschen populärer machen und den Blick abwenden vom riesigen Rest des fünftgrößten Landes der Erde, das fast die Hälfte Südamerikas einnimmt. Wer Brasilien in seiner Vielfalt vom tropischen Regenwald bis zu den endlosen Sandstränden kennenlernen will, muss ein bisschen Zeit und wohl auch die eine oder andere Flugreise in Kauf nehmen. Er wird entdecken, dass es nicht nur ein Brasilien gibt. Auf unserer Rundreise gab es gleich sechs Brasiliens zu bestaunen. Alle haben sie ihren Reiz und keines gleicht dem anderen.

Das koloniale Brasilien

Kolonial. Weltkulturerbe Parati im Bundesstaat Rio de Janeiro
Kolonial. Weltkulturerbe Parati im Bundesstaat Rio de Janeiro

© Ralf Hirschberger, dpa

Wer nach 13 Stunden Flug endlich in Brasilien angekommen ist, dürfte so seine Probleme damit haben, sich sofort in das quirlige Leben von Rio, São Paulo oder Salvador da Bahia zu stürzen. Nirgendwo ist Brasilien so entspannt und entspannend wie in den Städtchen seiner kolonialen Hochzeit. Im Schatten eines dicht bewaldeten Gebirges führt die Straße an der Costa Verde von Rio nach Parati. Die Stände hier sind mindestens so schön wie die von Copacabana und Ipanema, aber längst nicht so überlaufen und ohne jede Andeutung von Hochhausbebauung.

Parati war mal der wichtigste Hafen für den Export des brasilianischen Goldes nach Portugal, aber das liegt schon ein paar Generationen zurück. Eine Ahnung des früheren Reichtums vermittelt das Stadtzentrum. Es zählt zum Weltkulturerbe der Unesco und wirkt mit seinen kopfsteingepflasterte Gassen und prächtigen Villen wie ein Freiluftmuseum. Die große Zeit des kleinen Städtchens endete Mitte des 19. Jahrhunderts kurz nach der brasilianischen Unabhängigkeitserklärung, als Kaiser Pedro II. eine Eisenbahnlinie von Rio nach São Paulo bauen ließ und damit das hinter dem Küstengebirge gelegene Parati von den neuen, großen Verkehrsströmen abschnitt. Die ortsansässigen Kaufleute verlegten sich fortan auf den Anbau von Zuckerrohr, das sie nach Europa exportierten oder weiterverarbeiteten zu Cachaça. Parati gilt als Ursprungsort des Zuckerrohrschnapses, den die Kaufleute auch als Tauschwährung für den damals florierenden Sklavenhandel einsetzten.

Das Gold und die Edelsteine für den früheren Wohlstand kamen über den Caminho do Ouro nach Parati. Der zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Goldweg nach Ouro Preto ist heute teilweise restauriert, sollte aber wegen der Unwegsamkeit nur mit einem ortskundigen Führer begangen werden. Wie Parati hat auch Ouro Preto viel von seiner früheren Bedeutung eingebüßt und ist heute vor allem auf den Tourismus als Einnahmequelle angewiesen.

Wenn nicht gerade die Wolken tief hängen, bietet sich vom ehemaligen Rathaus an der prunkvollen und farbenprächtigen Praca Tiradentes ein beeindruckender Blick auf das Felsmassiv, dem Ouro Preto im 18. Jahrhundert den Aufstieg zur reichsten Stadt Brasiliens verdankt. Der Legende nach fand ein Indio eher zufällig die ersten Nuggets. Und weil sie durch Eisenoxid schwarz eingefärbt waren, gaben sie der Goldgräberstadt ihren Namen: Ouro Preto heißt schwarzes Gold.

Für die portugiesischen Kolonialherren waren die reichhaltigen Vorkommen ein kaum mehr erwarteter Segen. 200 Jahre lang hatten sie mitansehen müssen, wie erfolgreich die spanischen Konquistadoren ihre südamerikanischen Kolonien ausbeuteten. In Ouro Preto nun wurden die Portugiesen reichhaltig entschädigt. Bis 1820 schürften sie 1200 Tonnen Gold, das entsprach 80 Prozent der weltweit geförderten Menge. 20 Prozent der Vorkommen beanspruchte die Krone für sich.

Das in Brasilien geförderte Gold findet sich bis heute in den Kirchen von Lissabon oder Porto, aber auch in der barocken Altstadt von Ouro Preto mit den von Baumeister Aleijadinho ausgestalteten Kirchen. Und Brasiliens erstes Theater stand nicht in Rio oder Salvador, sondern in Ouro Preto. Wer freundlich an die Tür des Teatro Municipal klopft, wird auch gern zu den Proben hineingelassen.

Das Party-Brasilien

Fußball am Zuckerhut. Dieses „Girl from Ipanema“ zeigt, wie es geht.
Fußball am Zuckerhut. Dieses „Girl from Ipanema“ zeigt, wie es geht.

© Piepenburg, laif

Ohne das Gold aus Ouro Preto wäre Rio de Janeiro vielleicht nie zur Hauptstadt Brasiliens aufgestiegen. Nur wegen der Nähe zu den Minen verlegte der portugiesische Hof 1763 den Regierungssitz in das Hafenstädtchen, das damals gerade mal 10 000 Einwohner hatte. Vom kolonialen Rio ist heute so gut wie nichts erhalten geblieben. Noch 1941 schwärmte der vor den Nazis nach Brasilien geflohene Stefan Zweig: „Die Schönheit dieser Stadt, dieser Landschaft läßt sich wirklich kaum wiedergeben. Sie versagt sich dem Wort, sie versagt sich der Fotografie, weil sie zu vielfältig, zu unübersichtlich, zu unerschöpflich ist; selbst ein Maler, der Rio in seiner Gänze darstellen wollte mit all seinen tausend Farben und Szenen, käme in einem einzigen Leben nicht zu Ende.“

Heute dominiert selbst am Vorzeigeboulevard Avenida Atlantica nichtssagende Hochhausarchitektur. Perlen wie das von Corbusier erbaute frühere Gesundheitsministerium oder die alte Königsresidenz Paço Imperial wollen mühsam entdeckt werden. Oscar Niemeyers Museum für Zeitgenössische Kunst steht schon auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht in Niteroi. Rio lebt nicht von seiner Architektur, Rio lebt von seiner einmaligen Natur und von seinen Bewohnern, den Cariocas.

Wer einmal von Copacabana über Ipanema bis nach Leblon flaniert und hier eine Caipirinha trinkt, da die Strandfußballer bewundert und dort die Sambatänzer und den Zuckerhut, der wird jeden anderen Stadtstrand der Welt als zu vernachlässigende Aufschüttung von Sand empfinden. Rio ist mehr als eine Stadt, Rio ist ein Lebensgefühl. Ein typischer Carioca hat morgens sein Badetuch in der Aktentasche und geht vom Büro direkt zum Strand – bevorzugt nach Copacabana oder Ipanema, weil die Wasserqualität am offenen Meer höher ist als in Botafogo oder Flamengo an der Guanabara-Bucht. Nachts ist die Promenade hell beleuchtet, und weil die Polizei im Vorgriff auf die Fußball-WM und die Olympischen Spiele systematisch die Kriminalität zurückgedrängt hat, zählt Rio mittlerweile zu den sichersten Städten Südamerikas.

Das Hin-und-weg-Brasilien

Von Rio sind es zwei Stunden mit dem Flugzeug nach Foz do Iguaçu und seinen Wasserfällen. Iguaçu ist ein Lehnwort aus dem Guaraní und bedeutet so viel wie „großes Wasser“. Dass dieser Name seine Berechtigung hat, wird niemand bestreiten, der das Band von 20 größeren und 250 kleineren Kaskaden im Dreiländereck zwischen Brasilien, Argentinien und Paraguay besucht. Perfekt eingebettet liegen die Cataratas do Iguaçu im tropischen Regenwald – dem kleinen Rest, der hier noch übrig geblieben ist.

Vor 100 Jahren war der brasilianische Bundesstaat Paraná noch zu 85 Prozent mit Wald bedeckt, heute sind es sechs Prozent. Es kommt schon mal vor, dass ein frecher Nasenbär nach dem Sandwich eines unvorsichtigen Besuchers schnappt. Der größere Teil der Wasserfälle mit dem atemberaubenden Garganta do Diabolo, dem Teufelsschlund, gehört zu Argentinien. Kein Problem, sagen die Brasilianer. „Die Argentinier haben die Bühne, aber wir die besten Plätze.“ In der Tat ist das Spektakel der in die Tiefe stürzenden Wassermassen am besten von der Aussichtsplattform im brasilianischen Nationalpark zu verfolgen.

Mit dem Bus sind es nur ein paar Minuten vom Zentrum der Stadt Foz do Iguaçu, einer Ansammlung von Hotels, Straßen und einem internationalen Flughafen. Wer hierher ihn den Südwesten Brasiliens kommt, nutzt Foz do Iguaçu nur zum Übernachten, und keiner bleibt länger als drei Nächte. Brasilianische Touristen machen gern noch einen Abstecher hinüber nach Paraguay, das zwar als einziger Anrainer des Dreiländerecks gar nichts von den Wasserfällen abbekommen hat, in der Grenzstadt Ciudad del Este jedoch mit einem steuerfreien Einkaufszentrum lockt.

Das futuristische Brasilien

Wo heute Brasilia ist, war noch vor gut 60 Jahren so gut wie gar nichts außer der Savanne auf dem zentralen Hochplateau, weit weg von Rio, São Paulo oder Salvador da Bahia. Es war der sozialistische Staatspräsident Juscelino Kubitschek, der 1956 umsetzte, was Brasilien schon Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen hatte: eine Hauptstadt im Landesinneren fernab von den Zentren der Kolonialzeit zu errichten. Die Architekten Lucio Costa und Oscar Niemeyer setzten das Projekt in nicht einmal vier Jahren um – und sich selbst ein Denkmal, über dessen künstlerischen und sozialen Wert Brasilien bis heute streitet. Für den Besuch empfiehlt sich das Wochenende, weil da die Heerscharen von Staatsbeamten zu ihren Familien nach Rio, São Paulo oder Salvador fliegen und es auf den hoffnungslos überfüllten Straßen ein wenig ruhiger zugeht.

Schon auf der Fahrt vom Flughafen zum Zentrum ist schwer zu übersehen, in welchem Geist Brasilia errichtet wurde. Die Stadt ist komplett auf das Auto ausgerichtet, es gibt davon eine Million in der 2,5 Millionen Einwohner zählenden Stadt. Es gibt keine Straßennamen, kaum Fußgängerwege und Ampeln. Parkplätze sind ein rares und schwer umkämpftes Gut. Die Hauptachse ist eine 15 Kilometer lange, 250 Meter und zeitweise 14 Spuren breite Schnellstraße vom Bahnhof im Nordosten zum Kongressgebäude im Südwesten. Das Stadtzentrum ist eine Autobahnkreuzung mit Busbahnhof, Fernsehturm und Hotels. Wer auf die verwegene Idee kommt, den Tag mit einem Morgenlauf zu beginnen, sollte das auf dem Laufband im Fitnessraum des Hotels machen oder mit dem Taxi in einen der Außenbezirke fahren. Das letzte Fahrrad soll in Brasilia zu Beginn der sechziger Jahre gesichtet worden sein. Das gesellschaftliche Leben spielt sich fast ausschließlich im Shoppingcenter ab. Oder in Reisebussen, die in Legionsstärke auf immer denselben Routen die Architekturdenkmäler abklappern: den in Form eines riesigen H errichteten Kongress, die pyramidenartig geschwungene Kathedrale, das Außenministerium mit der wagemutig geschwungenen Freitreppe. Alles schön und interessant, aber mehr als ein Wochenende braucht es nicht zur Besichtigung.

Das Urwald-Brasilien

Der erste Eindruck von Manaus nach dem dreistündigen Flug von Brasilia ist – feucht. Bei Temperaturen um 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von annähernd 100 Prozent schwitzt der unerfahrene Europäer schon im Stehen. Manaus gehörte einmal zu den wohlhabendsten Städten der Welt. Das war zwischen 1870 und 1910, als die Region im oberen Amazonasbecken der einzige Lieferant von Kautschuk war. Heute genießt Manaus seine Popularität als exotische Regenwaldstadt. Der Äquator ist drei Breitengrade entfernt und der Atlantik 1700 Kilometer. Die Touristen kommen immer noch in Scharen, und ihr erstes Ziel ist immer das Amazonas-Theater. Werner Herzog hat es mit seinem Film „Fitzcaraldo“ weltberühmt gemacht. Nach dem Einbruch des Kautschukbooms verfiel der Bau, erst seit 1990 wird er wieder bespielt.

Vom urwaldpapageibunten Theater lässt sich der Hafen bequem zu Fuß erreichen, und ein jeder sollte sich Zeit nehmen für die Markthallen am Kai – frisch gefangene Piranhas am Spieß sind außerhalb von Amazonien eher selten zu bestaunen. Der quirlige und schwer zu überblickende Hafen ist der Lebensnerv einer Stadt, deren einzige Landverbindung zur Außenwelt eine Straße in den Norden nach Venezuela ist. Alles andere läuft über den Amazonas. Alle paar Meter legen Schiffe und Boote an, und es sind nur ein paar Kilometer bis zu einem spektakulären Naturschauspiel.

Das gelbliche und 22 Grad kühle Wasser des Solimões trifft auf den 28 Grad warmen und schwarzen Rio Negro, beide zusammen bilden den Amazonas. Ein paar Kilometer lang treiben Gelb und Schwarz einträchtig wie auf dem Wappen von Borussia Dortmund nebeneinander in Richtung Atlantik. Die Amazonas-Schiffe transportieren so ziemlich alles von Rinderherden bis zu Melonen. Flussabwärts gibt es in den Nebenarmen des Stroms zahlreiche Lodges, in denen sich für ein paar Tage das Leben im tropischen Regenwald erkunden lässt. Pünktlich um sechs Uhr geht die Sonne unter. Rot funkeln die Augen der Kaimane in der Dunkelheit. Vogelspinnen verstecken sich in Erdlöchern, und die ganze Nacht lang musizieren die Aras und Tukane.

Das afrikanische Brasilien

Ist das wirklich noch Brasilien oder nicht vielleicht doch eine karibische Exklave? Drei Flugstunden entfernt vom künstlichen Brasilia kommt Salvador da Bahia bunt und laut und aufgeregt daher. Alle paar Meter bieten Straßenhändler Wasserflaschen, Schmuck, Hüte oder Schnitzereien an. Karibische Klänge übertönen den Straßenlärm. Junge Männer demonstrieren den Touristen die Kunst des Kampftanzes Capoeira. Frauen posieren gegen ein bescheidenes Honorar für Fotos in Kostümen aus der Kaiserzeit.

Die alte Hauptstadt an der Bahia de Todos Os Santos ist das Zentrum des afrikanischen Brasiliens. In Salvador befand sich der zentrale Sklavenmarkt der portugiesischen Kolonialisten. Fünf Millionen Afrikaner wurden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein als Sklaven nach Brasilien verschleppt – sehr viel mehr als etwa in die USA. Die große Mehrheit blieb auch nach dem 1888 verfügten Ende der Sklaverei und prägt bis heute die drittgrößte Stadt Brasiliens. Gut die Hälfte der 2,8 Millionen Einwohner hat afrikanische Wurzeln. Salvador ist die größte afrikanische Stadt außerhalb Afrikas.

Am buntesten ist das Treiben in der hoch über dem Meer gelegenen Cidade Alto, der seit 1990 aufwendig sanierten Altstadt. Die farbenfrohen Fassaden locken heute Schwärme von Touristen, wo noch vor ein paar Jahren Prostitution und Kriminalität ungehindert wucherten. Die aufregendste Verbindung der Cidade Alto zur Cidade Baixa unten am Hafen ist der Elevador Lacerda, ein an den Fels gebauter Schnellaufzug, der die 70 Meter zwischen Unter- und Oberstadt in einer halben Minute zurücklegt.

Salvador wurde geprägt von Jesuiten und Franziskanern und ihren barocken Kirchen. Aber auch durch den Candomblé. Diese aus Afrika importierte Religion war bis in die siebziger Jahre hinein verboten und wurde von den schwarzen Brasilianern lange Zeit unter dem tarnenden Schutz christlicher Bräuche gepflegt. Heute ist ein afrobrasilianisches Museum im Bau und der Candomblé aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Allzeit präsent durch die „Fitinhas“, bunte und mit mythischer Kraft gesegnete Bänder, die sich jeder Baiano ums Handgelenk bindet. So viel Brasilien darf und muss jeder Reisende mit nach Hause nehmen.

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