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Sagenhafte 200 000 Zuschauer fasste das Maracanã-Stadion, als es 1950 eröffnet wurde. Bei den Pan-American Games 2007 (hier das Finale) war die Zahl auf 120 000 reduziert worden. Künftig finden nur noch 77 000 Platz.

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Fußball-WM 2014: Sambatrommeln bei jedem Kick

Nach der EM 2012 ist vor der WM 2014: Im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro wird jeder zum Fußballfan.

L angsam rollt das Taxi zwischen Fußgängergruppen und berittenen Polizisten um das Stadion. Sambatrommeln dröhnen. Eine Horde Fans, überwiegend grimmig schauende junge Männer mit bloßen Oberkörpern, stürmt die Rampe einer Stadtautobahn hinab aufs Stadion zu. „Die kommen aus der Favela dahinten“, erklärt der Fahrer. Polizisten reiten ihnen entgegen, Schüsse sind zu hören. „Nur Platzpatronen“, murmelt der Fahrer beruhigend. Die Fans werden in Richtung ihrer Blocks getrieben. Das Taxi zu verlassen, erscheint nicht verlockend. Doch, wie sollte es anders sein, es hält an.

Weil der Fußball und insbesondere das Estádio do Maracanã ähnlich wie der Karneval als Schmelztiegel aller Kasten Rios gelten, haben wir uns um Unauffälligkeit bemüht: Shorts und T- Shirts in neutralen Farben, keine Taschen, nur ein paar gefaltete Real- Scheine in der Hosentasche und ein winzig kleiner Fotoapparat. Über die Kriminalität in Rio hört man die fürchterlichsten Geschichten, und selbst, wenn man als Tourist nichts sieht, was die Gruselerzählungen zu bestätigen vermag, muss man davon ausgehen, dass sie wahr sind. Indes wird allenthalben betont, dass die Ordnungskräfte die Sache langsam in den Griff bekommen, und sich spätestens zur Weltmeisterschaft 2014 jeder Besucher der Stadt absolut sicher fühlen könne.

Allem Glanz dieser schönen Stadt zum Trotz sind ihre Probleme erschütternd. Vermögens- und Bildungsunterschiede sind so hoch wie die Häuser an der puderzuckerweißen Copacabana. 1,2 Millionen der rund sechs Millionen Cariocas, wie sich die Bewohner Rios nennen, wohnen in Favelas, den Armenvierteln mit ihren katastrophalen Lebensbedingungen. Die Zahl der Analphabeten wird auf 20 Prozent geschätzt. Dem Gros der Bevölkerung bleibt jenseits des Fußballs wenig Grund zur Freude. Der Sport fungiert als Sinnstifter und ist Gegenstand von Leidenschaft, Ehrgeiz, Wut und Verzweiflung.

Schlappe 20 Real kostet die Eintrittskarte, knapp acht Euro. Ohne nach links und rechts zu schauen, gehen wir zum Eingang und finden unsere Plätze. Sie liegen im weißen Block von Vasco, offiziell Clube de Regatas Vasco da Gama. Gegenüber wogt die rot-schwarze Menschenmenge, die den Gastgeber Clube de Regatas do Flamengo, kurz Flamengo, unterstützt. Schnell beschließen wir: Vasco ist unser Team. Vasco!

Wir blicken uns um. Niemand sieht sonderlich gefährlich aus. Väter mit Kindern, Teenager, Paare, viele Männer mit nackten Oberkörpern. Es ist schließlich warm. Sehr warm. Von den oberen Rängen hängen Transparente, deren von Blutstropfen geziertes Schriftbild auf wüste Drohungen schließen lässt. Über uns tobt eine Samba-Band. Noch eine halbe Stunde bis zum Spielbeginn. Doch liegt der Geräuschpegel vor dem Lokalderby bereits auf dem Niveau einer WM-Endspielbegegnung zwischen Deutschland und den Niederlanden.

Als die Mannschaften schließlich einlaufen, steigert sich der Lärm ins Orkanhafte. Anpfiff. Keiner sitzt mehr. Bei jedem Ballkontakt Vascos schlagen die Sambatrommler schneller. Passiert gerade nichts Dramatisches, scheint der Rhythmus ein wenig leichter, gerät ins Tänzerische. Als Vasco trifft, beschleunigen sich die Trommeln zum infarktnahen Pulsschlag.

Das Maracanã-Stadion brodelt

Entspannen unterm Zuckerhut. Die deutsche Fußballnationalmannschaft mit Torhüter Sepp Maier (2.v.r) war 1977 dort und erkämpfte sich im Maracanã ein 1:1.
Entspannen unterm Zuckerhut. Die deutsche Fußballnationalmannschaft mit Torhüter Sepp Maier (2.v.r) war 1977 dort und erkämpfte sich im Maracanã ein 1:1.

© picture-alliance/ dpa

Vier große Fußballklubs machen gewöhnlich die Landes- und die inoffizielle Stadtmeisterschaft von Rio de Janeiro unter sich aus: Flamengo, Fluminense, Vasco da Gama und Botafogo. Als brisantes Match gilt die Begegnung zwischen Flamengo und Fluminense, kurz Fla-Flu. An solchen Nachmittagen brodelt das Maracanã-Stadion, das ab 1948 für die Weltmeisterschaft zwei Jahre darauf gebaut wurde, und die Stadt steht Kopf. Auch die heutige Partie ist ein Klassiker: Vasco, ein von portugiesischen Einwanderern gegründeter Club, der 2008 zum ersten Mal in der Geschichte der Liga abgestiegen war und jetzt zu Saisonbeginn an der Tabellenspitze liegt, trifft auf Flamengo, im Mittelfeld dümpelnd, jedoch der Verein mit der größten Fangemeinde Brasiliens. Erzrivalen!

Fußball ist in Rio nur als Superlativ möglich. So war das Maracanã einstmals das größte Stadion der Welt, eine Art neues Weltwunder in damaliger Zeit. Beim Finale der WM von 1950, das Brasilien und Uruguay bestritten, drängten sich hier sagenhafte 200 000 Zuschauer. Nach einigen Umbauten bot es noch bis zu den Panamerikanischen Spielen von 2007 Platz für immerhin 120 000 Fußballverrückte. Erst danach wurde die Bestuhlung eingebaut. Nach der Sanierung, die das Stadion derzeit auf die Weltmeisterschaft 2014 sowie auf die Olympischen Spiele 2016 vorbereitet, werden nur noch 77 000 Zuschauer ins Rund passen. Allesamt auf überdachten Stühlen und deutlich näher am Geschehen als zuvor. Die Verschlankung kostet angeblich umgerechnet rund 400 Millionen Euro. Danach soll das Stadion, dessen Räumung bislang 40 Minuten dauerte, statt der von der Fifa geforderten acht bis zwölf, neuesten Sicherheitsstandards entsprechen.

Die Fassade bleibt indessen erhalten. Seit dem Finale von 1950 sind die Mauern blau und weiß gestrichen. Bei der Grundsteinlegung 1948 hatte man leichtsinnig beschlossen, den Neubau in die Farben des kommenden Weltmeisters zu tauchen. Eine reine Formsache, wie man glaubte, die Farben blau, gelb und grün waren auch längst bestellt. Dann geschah das Unfassbare: Brasilien verlor gegen den Fußballzwerg Uruguay. Seither trägt das Maracanã-Stadion, Herz und Seele des fußballverrückten Rio, die Farben Uruguays.

Trotz dieser nunmehr auf Stein gemalten Schmach wurde Maracanã die Heimat von Helden und ihren Rekorden. Vor dem Stadion haben die Unsterblichen ihre Fußabdrücke hinterlassen: Zico, der hier 344 Mal für Flamengo traf; Pelé, der hier am 19. November 1969 sein tausendstes Tor schoss; Jorghino, Ronaldo, Bebeto, Romário, Ronaldhino und sogar Franz Beckenbauer. Anders als der kurze Rausch des Karnevals verspricht der Fußball seinen Stars dauerhaftes Entrinnen aus der Armut. Die Fußabdrücke erzählen die Geschichten jener, die den Absprung geschafft haben.

Die Wände des Foyers schmücken große Szenen des Fußballs: Zicos letztes Spiel und das Finale der WM von 2002, als Brasilien die deutsche Auswahl besiegte. Zitate machen es leichter, sich solchen Schicksalsmomenten zu fügen: „Soccer has no logic“, heißt es dort – Fußball kennt keine Logik. Und: „It is harder to stop loving a team than to stop loving a woman.” Womöglich ist es wirklich so.

Die Katakomben ziert eine Galerie mit Fotos der größten Spieler aller Zeiten. Beckenbauer ist auch dort abgebildet, außerdem Diego Maradona, Eusébio und Zinedine Zidane. Wer eine Tour gebucht hat, kann auch in die Kabinen schauen und in den Aufwärmraum, in dem tatsächlich vor den Spielen das Klima hergestellt wird, welches die Spieler draußen auf dem Rasen erwartet. Die sanitären Anlagen besitzen allerdings derzeit noch das Ambiente älterer Jugendherbergen. Doch auch das soll sich mit der Modernisierung ändern.

Zeigt her eure Füße. Kaiser Franz verewigt sich auf dem „Soccer Walk of Fame“ …
Zeigt her eure Füße. Kaiser Franz verewigt sich auf dem „Soccer Walk of Fame“ …

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Ein wenig mehr Glanz entfaltet sich hinter der Pressetribüne. Dort ist ein Thron ausgestellt, auf dem Elizabeth II. im Jahr 1968 tapfer eine Partie aussaß, und ein anderer, auf dem Papst Johannes Paul II. 1980 bei einer Messe Platz nahm.

Beim Derby zwischen Vasco und Flamengo sitzt indessen schon lange niemand mehr. Der Schiedsrichter hat die Nerven verloren und stellt Spieler um Spieler vom Platz. Wir haben den richtigen Block erwischt: Dem Team von Flamengo will nichts gelingen, Vasco hat zum zweiten Mal getroffen. Entspannt bis bombig ist die Stimmung auf dieser Seite in der zweiten Halbzeit. Heiter und beschwingt tröpfeln die Töne von den Sambatrommeln, während sich allmählich Dunkelheit übers Stadion senkt.

… im Maracanã-Stadion, indem er gewohnt fest auftritt.
… im Maracanã-Stadion, indem er gewohnt fest auftritt.

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Über den Lärmpegel hinweg brüllen wir einander unsere Zweifel an der Befähigung des Schiedsrichters zu. Wir fühlen uns, als hätten unsere Eltern uns zum dritten Geburtstag die Mitgliedschaft beim CR Vasco da Gama geschenkt. Vasco! Als wir Minuten vor dem Schlusspfiff das Stadion verlassen, sind wir Fußballfans geworden. Doch weil wir auch Touristen sind, machen wir uns davon, solange es noch freie Taxen gibt.

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