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Ein Foto? Aber gern. Nicht alle sind in Soufrière so gut drauf wie Florence. Die Franzosen hatten den Ort 1650 besiedelt. Etliche ihrer schönen Kolonialhäuser sind verfallen.

© Hella Kaiser

Saint Lucia: Wo man die Zeit anhalten kann

Pfeifende Frösche, grüne Vulkankegel und kunterbunte Kirchen: St. Lucia ist für viele Überraschungen gut.

Still und friedlich sonnt sich die kleine sichelförmige Bucht im Morgenlicht. Zahlreiche Liegen stehen im feinen Sand der Labrelotte Bay. Noch ist keine besetzt, auch auf der Frühstücksterrasse des Windjammer Landing Hotels sind noch Plätze frei. Ein paar Bartgimpelfinken, jene lustigen schwarzen Vögel mit orangefarbenen Lätzchen, hüpfen aufgeregt auf der Balustrade herum. Wo ist hier was zu holen? Ein wenig von Toast, Eggs, Beans and Bacon vielleicht, das sich das schottische Ehepaar gerade vom Büfett geholt hat? Vorgestern waren Ryan und Ellie noch „bei lausigem Wetter“ in Edinburgh, nun trinken sie ihren Tee im karibischen Bilderbuch. „Wieso haben Sie St. Lucia als Urlaubsinsel gewählt?“, will man wissen. „Oh“, sagt Ryan, „das war reiner Zufall. Jeder Ort in der Karibik hätte es sein können. Wir wollten es einfach nur warm haben.“

So viel Gleichgültigkeit hat die kleine Antilleninsel nicht verdient. Nur 43 Kilometer lang und 21 Kilometer breit ist St. Lucia. Doch was die Natur dieser Fläche nicht alles spendiert: Hügel in allen möglichen Formationen, von dichtem Grün überzogen. Rund 20 Prozent Regenwald sind erhalten. Schier undurchdringlich ist die Mitte des Eilands, schmale, kurvige Straßen enden im Nichts.

168 000 Einwohner hat St. Lucia, viele von ihnen sind Nachfahren versklavter Schwarzafrikaner, die einst in den Zuckerrohrplantagen schuften mussten. 1650 kamen die Franzosen auf die Insel, zwölf Jahre später die Briten. Von da an stritten beide Nationen um das Eiland, insgesamt 14 Mal wechselten sie sich ab. Von 1803 an hatten nur noch die Briten das Sagen – bis 1979. Dann wurde St. Lucia unabhängig.

Piraten versteckten sich hier

Lange setzte die Insel auf Bananen, nun sollen Urlauber das Geld bringen. 300 000 Touristen, die meisten aus den USA und Großbritannien, reisen jährlich an. Das Gros bucht ein Strandresort – am liebsten all inclusive. Im Coco Resort in Rodney Bay, dem Touristenzentrum im Nordosten der Insel, könnte man alternativ auch nur Frühstück oder Halbpension buchen. „Aber 60 Prozent unserer Gäste wählen all inclusive“, erklärt Jean St. Rose, der Hotelmanager. Er findet das „erstaunlich“, denn rund um das Hotel stünden doch so viele Restaurants zur Auswahl. Doch die sind, außer an den Wochenenden, oft gähnend leer.

Dabei scheint St. Lucia wie geschaffen dafür, das Hotel möglichst oft und lange zu verlassen. So viel lässt sich entdecken. Nur wenige Kilometer nördlich von Rodney Bay liegt Pigeon Island. Eine echte Insel ist es nicht mehr, seit 1969 der Damm zum Festland gebaut wurde. Doch nirgends ist die Geschichte St. Lucias greifbarer als an diesem windigen Zipfel. 1499 segelte der Entdecker Juan de la Cosa vorbei und verzeichnete es auf seiner Weltkarte. Piraten versteckten sich hier. 1780 etablierte der britische Admiral Rodney eine Seestation auf Pigeon Island. Auf ihren Resten baute die US Navy 1941 eine Signalstation, die bis 1947 in Betrieb war. Etliche Gebäude sind teilweise erhalten, die Natur drum herum ist streng geschützt. Alles darf hier ungestutzt wachsen.

Am Fuße einer Palme sitzt ein blauer Wellensittich im Gras. 181 Vogelarten leben auf St. Lucia, aber Wellensittiche? „Keine Ahnung, wo er herkommt“, sagt der Parkwächter. „Vor zwei Wochen habe ich ihn hier zum ersten Mal gesehen.“ Anfangs hätten ihn andere Gefiederte zu vertreiben versucht, aber nun ließen sie ihn offenbar in Ruhe. Die Vögel mögen friedlich sein, still sind sie nicht. Vor allem frühmorgens und in der Abenddämmerung hebt schriller Lärm an. „Das sind keine Vögel“, sagt der Wächter lachend, „das sind Frösche.“ Man höre sie deutlich und sehe sie praktisch nie. Nur maximal 25 Millimeter groß werden die nervenden Winzlinge.

„Mein Handwerk braucht die unbedruckten Strände“

Platz für den Nobelpreisträger. In Castries wird Derek Walcott besonders geehrt.
Platz für den Nobelpreisträger. In Castries wird Derek Walcott besonders geehrt.

© Hella Kaiser

St. Lucias Natur ist voller Wunder, wie geschaffen für große Poesie. Im Buchladen von Castries, der kleinen Inselhauptstadt, sollte sie zu finden sein. „Wo stehen denn die Werke von Derek Walcott?“ – „Oh“, sagt die Verkäuferin und zuckt die Achseln, „von dem haben wir gerade nichts da.“ Kein einziges Buch von jenem einheimischen Dichter, der 1992 den Literaturnobelpreis bekam? Mittlerweile ist er 83 und wohnt im Norden, an der Pointe du Cap. „Eine teure Gegend“, bemerkt eine Einheimische.

„Mein Handwerk braucht die weißen unbedruckten Strände“, schreibt Walcott in seinem Gedicht „Die Akazien“ und sieht bestürzt, wie die Unberührtheit verschwindet. „Männer mit Messband und Theodolit“ entdeckte er, die maßen den wilden, ungeraden Grund. „Ich sah todgeweihtes Gelände, wo bald ein weiterer Luxusschuppen steht, das Volk schön draußen vor dem Zaun. Die neuen Macher unsrer Geschichte sind Gewinnler, von Gewissen frei, Propheten einer Politik, die diese Insel in eine Shopping Mall verwandeln will ...“

1993 haben sie in Castries, der kleinen Inselhauptstadt, den Columbus Square umgetauft in Derek Walcott Square. Es ist der idyllischste Flecken des Städtchens. In den vergangenen Jahrhunderten hat es mehrfach gebrannt in Castries. Hässliche Neubauten entstanden. Auch die Markthallen sind neu, in denen die zahlreichen Kreuzfahrttouristen ihre Souvenirs einkaufen. Die wenigsten nehmen sich Zeit, die Kirche zu besuchen. Dabei muss jeder gleich lächeln, der hier eintritt. So viel Fröhlichkeit. Die biblische Geschichte ist als kunterbunter Bilderreigen auf die Wände gemalt. Auf einem Sockel steht eine lächelnde Maria und hält ihr Kind im Arm.

Wahrzeichen von St. Lucia

Auch im Norden der Insel ranken sich Bougainvilleen in den Gärten der Hotelresorts, Schmetterlingslilien sprießen, rote und weiße Frangipani-Blüten prunken. Doch viel üppiger wuchert es im unteren Teil des Eilands. Natürlich will jeder Urlauber, und sei es nur für einen Nachmittag, dort hinfahren. Denn im Südwesten stehen die „Deux Pitons“, die Wahrzeichen von St. Lucia. Es sind zwei benachbarte, grün überzogene Vulkankegel, die beinahe vorwitzig gen Himmel streben.

Busen der Karibik. Die „Deux Pitons“ sind St. Lucias grüne Wahrzeichen.
Busen der Karibik. Die „Deux Pitons“ sind St. Lucias grüne Wahrzeichen.

© Hella Kaiser

Als „Busen der Karibik“ bezeichnete sie Dichter Walcott. Man kann im Boot an ihnen vorbeischippern und sie im besten Fall sogar vom Bett aus betrachten. Vorausgesetzt, es steht in einer Suite im Luxushotel Jade Mountain, wo niemand Fenster putzen muss, weil es keine gibt. Die Zimmerfronten zum Meer hin hat der Architekt Nick Troubetzkoy einfach offen gelassen. 1000 Dollar aufwärts kostet eine solche Übernachtung mit persönlichem Butler und spektakulärem Ausblick.

Da steigen wir dem Gros Piton lieber gleich aufs Dach. Ein steiler Pfad schlängelt sich hinauf zum 770 Meter hohen Gipfel. Bei 28 Grad und enormer Luftfeuchtigkeit ist die Wanderung ein ungeheuer schweißtreibendes Unterfangen. Immer wieder muss man zudem über große Felsbrocken klettern. Die gut 40-jährige Margrit lächelt milde über ihre keuchende Gruppe. Seit 16 Jahren führt sie Besucher hinauf, viermal in der Woche. „Hier versteckten sich einst entflohene Sklaven“, weiß sie. Doch was nützte ihnen die neue Freiheit? „Sie litten an Hunger und Durst, nur wenige überlebten in dieser Wildnis“, sagt die Insulanerin. Erst 1834 wurde die Sklaverei endgültig abgeschafft.

Der alte Charme, perdu

Mit fliegenden Fahnen zu Kunden. George, unterwegs mit seinem Obstboot.
Mit fliegenden Fahnen zu Kunden. George, unterwegs mit seinem Obstboot.

© Hella Kaiser

Auch heute noch unterhalten sich die Insulaner in Patois, im französisch-kreolischen Idiom. Weich und ein bisschen kehlig klingen diese Laute, viel gefälliger als die offizielle Landessprache Englisch. Jedes Kind lernt sie in der Schule, natürlich auch in Soufrière. Den Ort hatten die Franzosen 1750 zur Inselhauptstadt erkoren und errichteten Holzhäuser mit hübsch verzierten Veranden. Der alte Charme, perdu. Zahlreiche Bauten werden nur noch notdürftig durch angenagelte Bretter zusammengehalten, manche stehen leer.

Junge Männer sitzen mit Bierflaschen da, einer mit glasigen Augen bietet sich als „guide“ an. Bananen sind zum Kauf auf dem Trottoir ausgebreitet, müde sitzen die Verkäuferinnen auf Schemeln daneben. Auf dem Platz vor der Kirche ist auf einem Schild die grausame Geschichte zusammengefasst. Im 18. Jahrhundert stand eine Guillotine hier und Sklaven wurden öffentlich ausgepeitscht.

Gerade als man Soufrière den Stempel „trostloser Ort“ aufdrücken will, passiert man das blau gestrichene Side Track Café. Eine fröhlich lächelnde Frau schaut aus der breiten Verkaufsluke. „Gibt’s hier Kaffee?“ – „Klar“, sagt Florence, holt sofort einen Becher und gießt ein. Nur einen Bruchteil dessen, was in Hotels fällig wäre, verlangt sie dafür. Und erzählt vom schwierigen Alltag in Soufrière. Viele Bewohner, vor allem die jungen, seien arbeitslos. Ab und zu schlenderten Kreuzfahrttouristen durch den Ort. „Aber die fotografieren uns nur und kaufen nichts.“

Kein Wunder, dass sich George aus dem Staub gemacht hat. Vor ein paar Tagen haben wir ihn kennengelernt, in einer Bucht im Norden. Ein Selfmademan. In seinem mit internationalen Fahnen geschmückten Boot bringt er Gemüse und Früchte zu den Jachten. Sogar frische Kräuter bietet er an, selbst gezogen an Bord. Er stamme aus Soufrière, hat er erzählt und abgewunken. „Da kann man schon lange keine Geschäfte mehr machen.“

Der „American Style“ greift um sich

Gute Schulbildung ist unerlässlich, um im Tourismus Geld zu verdienen. So eine, wie sie der kluge Inselführer David genossen hat. Was kann er seinen Gästen nicht alles über St. Lucia erzählen. Bei einem Panoramastopp weist er auf eine Pflanze am Wegesrand hin. „Wenn Regen naht, stülpt sie ihre Blätter um. Dann eilen die Leute nach Hause, um die Wäsche von der Leine zu nehmen“, erklärt David. Er liebt seine Insel und bedauert, dass mehr und mehr der „American Style“ um sich greife. Das komme vom Fernsehen. „Die Jungs tragen ihre Hosen jetzt unterhalb der Hüfte“, hat er beobachtet. „Warum? Weil sie’s so im Fernsehen gesehen haben.“

Der 41-Jährige, der seine Rastazöpfe heute unter einer weißen Wollmütze versteckt, fährt uns ins Dörfchen Aux Leon. Hier hat die Italienerin Carla Pescini 2011 das „Rainbow Bridge Project“ gestartet. „Ich konnte die Wirklichkeit hinter den touristischen Fassaden nicht ausblenden und wollte etwas tun“, sagt die heute 70-Jährige. Inzwischen kommen täglich rund 50 Kinder ins frisch renovierte Gebäude. Velika Lawrence, eine der ehrenamtlichen Betreuerinnen, sagt: „Die Kinder basteln und lernen am Computer. Vor allem aber schulen wir das Selbstbewusstsein der Mädchen.“ In der karibischen Gesellschaft haben sie das Nachsehen. „Viele Männer haben Kinder mit mehreren Frauen und fühlen sich nicht verantwortlich für sie“, kritisiert David. „Aber“, so glaubt er, „die Männer ändern sich.“

Wer St. Lucia ein bisschen verstehen will, braucht Zeit. Am Strand verfliegt sie im Nu. Dabei kann man sie so leicht anhalten auf dieser Insel. Beim Plausch mit Einheimischen etwa, in irgendeinem Dorf hinter sieben Hügeln. Und dort passiert’s. Man schließt St. Lucia ins Herz.

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