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In den Tiroler Schnee zieht es auch Berliner Schulklassen.

© promo

Südtirol: Am Seil durch weißes Land

Alta Badia, das Hochabteital in Südtirol, macht im Winter nicht nur Skiläufern Spaß.

Morgens vor zehn liegt die Hochebene noch im Schlagschatten des Monte Lagazuoi. Auf dem zugefrorenen Gaderbach am äußersten Ende des Sankt-Kassian-Tales (Valle di San Cassiano) warten zwei Schlittengespanne samt Kutscher auf die ersten Skifahrer, die aus 2778 Metern Höhe siebeneinhalb Kilometer allerschönster Piste heruntergewedelt kommen und ihre Bretter nun auslaufen lassen. Die stämmigen schwarzen Norikerpferde schnauben ungeduldig weiße Eiswolken in den knallblauen Südtiroler Himmel: Möge es doch endlich losgehen! Doch erst wenn genügend Skifahrer beisammen sind, packen diese das Seil, das der Kutscher hinten an seinem Schlitten befestigt hat, und ab geht’s!

Bis zu 40 Skifahrer kann so ein Gespann ziehen, denn die Kaltblüter sind stark. In vergangenen Zeiten als Pflug- und Ackertiere trainiert, dienen sie heute fast ausschließlich dem Tourismus. Durch das Eiswasser unter der Bachbrücke hindurch und vorbei am Langlaufzentrum Alta Badia schlängelt sich die bunte Menschenkette talauswärts Richtung Armentarola. Fünfzehn entspannte und ausgelassene Minuten lang geht es durch lichten Nadelwald bis zum nächsten Sessellift, der den Anschluss an den grandiosen Skizirkus des Hochabteitales (Alta Badia) bildet. Noch aus der Ferne kann man die Fetzen vergnügten Lachens über den Fichtenwipfeln aufsteigen hören.

Wer keine Lust hat zum Skifahren und es lieber gemütlicher angehen lässt, der nimmt im Schlitten neben dem Kutscher Platz oder spaziert längs der Loipe vorbei an tief in Schneedaunen steckenden Wiesen und Zäunen zum Hotel Armentarola. Langläufer sind in ihrem Element. Sie können 15 Kilometer lang auf einer gespurten Loipe ihres Weges ziehen. Armentarola, der letzte Flecken im Tal, besteht nur aus wenigen Herbergen und gehört zum Dorf Sankt Kassian. Es gehört zu den sechs Dörfern des Tales.

Man spricht Ladinisch. „Bun dé – Guten Morgen!“, sagt der Kellner auf der Terrasse des Hotels Armentarola, wo wir eine heiße Schokolade schlürfen und die Skifahrer, die eben noch am Seil hingen, mit dem Sessellift auf den Berg schaukeln sehen. Die Morgensonne kitzelt die Nase. Kein Autogeräusch ist hier zu hören. Nur das Klackern des Lifts und hin und wieder das Krächzen einer Dohle und das Kichern zweier amerikanischer Touristinnen, die sich schon vor dem Mittagessen mit Scotch aufwärmen.

Armentarola kommt vom ladinischen Wort Armentara und bedeutet „helllichter Ort mit Wiesen und Wäldern“, auf denen im Sommer das Vieh weidet. Viel mehr ist hier auch nicht, glücklicherweise. Auch wenn jetzt Schnee liegt. Weniger aber auch nicht. Spaziergänger geraten ins Schwärmen wegen der zumindest scheinbar unberührten Natur. Wir freuen uns über die milchkaffeebraunen Haflingerpferde auf der Schneewiese, die ihre Mäuler und Flanken aneinander reiben. Wir folgen dem Weg abseits der Straße Richtung Sankt Kassian.

Der Winter vereinnahmt sanft die Kunstwerke am Bach

Jetzt ist die Gader unser Wegweiser. Niemand sonst ist unterwegs im Märchenwald. Der Schnee knarzt unter den Stiefeln. Wir hören das Pumpern unseres Pulsschlags, und weil die Bänke wie mit Kristall überzogen sind, hauchen wir ausgelassen ein Herz in die glitzernde Kruste. Die Sonne wärmt unsere Rücken und macht den Schnee schwer, der puderweiß von Tannen und Zapfen rieselt und auf Zäunen und Steinen zu vergehen beginnt. Die Luft ist perlklar und frisch, und das Flüsschen zu unserer Seite sieht aus wie ein Schneewittchensarg mit seiner Haut aus glasklarem Eis, unter der es rumpelt und plätschert. Wie fern doch der Skizirkus auf den Bergen ist. Hier unten gehört der Winter uns allein.

In Sankt Kassian, an der sonnenwarmen Wand einer alten Scheune, haben wir ein Tête-à-Tête mit einer dicken Katze, die uns schnurrend eine Weile folgt. Dann ist sie verschwunden, und wir lassen das Treiben der Seilbahn links liegen und folgen wie gehabt dem Bachweg. Dort kauert wie fröstelnd eine rundliche Nackte. Die Bronzeskulptur eines Südtiroler Künstlers. Eines von vielen Werken, die wir von jetzt an am Wegesrand sehen. Wir befinden uns auf dem „Kunstweg“ nach La Villa. Und wer Bemühtes befürchtet, wird eines Besseren belehrt. Die Kunststücke von ausschließlich Südtirolern wurden klug ausgewählt und die Wegstrecke auch nicht damit überfrachtet. Der Winter tut seines dazu und vereinnahmt alles sanft. Da balanciert ein nackter eiserner Mann über einen Steg und trägt schwer an seinem geschulterten Sack aus Schnee, der mit jedem Schauer größer und größer wird.

In La Villa wartet Reinhold im Tal auf uns. Unter seiner warmen Joppe trägt er eine blitzeblaue Schürze mit bunten Stickereien, deren eine Ecke er in die Hose gesteckt hat, um sich während der Arbeit nicht zu verheddern. Reinhold ist nämlich mit einem Schlitten gekommen, genau genommen mit einem Hochzeitsschlitten. Der ist so bunt bemalt wie ein Bauernschrank, so zierlich wie ein Bänkchen und herrlich reich verziert. Vorne wie sonst nur an der Spitze eines alten Schiffes ragt eine Art Galionsfigur auf: ein Ziehharmonikaspieler. „Bitte Platz nehmen“, sagt Reinhold strahlend und freut sich über die beglückten Augen der Mitfahrer, breitet eine Decke über ihre Knie, schnalzt mit der Zunge, und gleich legt sich das Pferdchen ins Zeug.

Schöner Schlitten fahren geht nicht, als mit so einem Hochzeitsgefährt, wie es früher nur zu Festtagen im Gadertal zum Einsatz kam. Man heiratete im Winter, weil im Sommer zu viel Arbeit auf dem Feld war. Jetzt, wo der Tourismus das Brot bringt, dürfen hin und wieder Urlauber auf dem Gefährt Platz nehmen, und Reinhold fährt sie vom tiefsten Punkt in La Villa am stillen Bach entlang bis nach Corvara und zurück.

Die Spaziergänger bleiben stehen und lächeln bei so viel Wintermärchen. Rechts von uns gluckert der Bach unter den Eisscheiben. Vor uns der mächtige Pferdehintern mit dem weizenblonden Schweif, der sich nur einmal hebt, als uns ein anderer Schlitten begegnet und Karola vor Aufregung ein paar Äpfel fallen lässt. Ewig könnte man so fahren, auch ohne Bräutigam. Doch vor Corvara ist Schluss. Da wenden wir und fahren den Hochwald hinauf. Ganz schmal ist der Weg und tief der Schnee. Karola vorne und wir auf dem Schlitten machen die Spur, denn hier geht niemand spazieren.

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