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Schaurig schön. Zahlreiche sogenannte Höhlenbahnhöfe, wie hier Tekniska Hogskolan, bilden die Haltepunkte der Stockholmer U-Bahn.

© AFP/Jonathan Nackstrand

Tunnelbana: Kunst im Schacht

Jeder U-Bahnhof in Stockholm ist anders. Und jeder ist sehenswert. Die Metro gilt als längste Galerie der Welt.

Auf den ersten Blick ist das Stockholmer U-Bahn-System genauso verwirrend wie jedes andere Streckennetz der Welt: Drei Linien, rot, grün und blau, verbinden die 14 Inseln der schwedischen Hauptstadt miteinander. 110 Kilometer Gleisstrecke, 100 Bahnhöfe und mittendrin die Metro-Station T-Centralen, an der sich alle Linien kreuzen. Tief hinab in den skandinavischen Granit bohren sich hier Rolltreppen, Fahrstühle und Bahnsteige. Über vier Ebenen entsteht ein Labyrinth, in dem Fremde leicht die Orientierung verlieren. Hinzu kommen verzweigte Gleise in den Außenbezirken und Endstationen mit so unaussprechlichen Namen wie Fruängen oder Åkeshov.

Wer zum Weltkulturerbe-Friedhof Skogskyrkogården an der gleichnamigen Haltestelle der grünen Linie will, darf nicht in die grüne Linie mit der Endstation Skarpnäck einsteigen. Wer es dennoch tut, hat Glück gehabt, denn er kommt in den Genuss eines Kunstwerkes des US-amerikanischen Bildhauers Richard Nonas. 17 Steinblöcke hat Nonas 1994 auf dem Bahnsteig aufgestellt. Bis zum Eintreffen des nächsten Zuges kann man sich auf eines der Objekte setzen und ausruhen. Oder man schlendert durch den rot getünchten Tunnel, nimmt die Rolltreppe, schaut sich 17 weitere Skulpturen aus Granit an und endet in einer nüchternen Eingangshalle.

Wer einen Blick ins Freie wirft, entdeckt einen typischen Stadtteil der 80er Jahre: gepflasterte Gehwege, gesäumt von Bäumen und Wohnblocks aus rotem Backstein. „Die 17 symbolisiert den Namen der grünen Linie T17, die Farbgebung korrespondiert mit den Gebäuden oberhalb der Metro-Station“, erklärt Marie Andersson. Dass Skarpnäck wie fast alle U-Bahnhöfe ihrer Heimatstadt Kunst zu bieten hat und wie es dazu gekommen ist, erläutert die Kunsthistorikerin und Fremdenführerin bei einer kostenlosen Tour durch Stockholms Untergrund.

„Unsere U-Bahn ist die längste Galerie der Welt“, sagt die blonde Schwedin. Seit 13 Jahren arbeitet sie bei den Stockholmer Verkehrsbetrieben SL (Storstockholms Lokaltrafik) als Guide. Einheimische können das ganze Jahr hindurch die unterirdische Welt der Kunst mit ihr und ihren Kolleginnen entdecken. Jede Woche gibt es eine neue Route. „So kann man in einem Jahr alle 94 Stationen mit Kunstobjekten sehen“, sagt Marie Andersson. „Wir haben einige Fans, die kommen jede Woche, zu jeder Tour!“ Ausländische Gäste können in den Sommermonaten drei Mal pro Woche die Haltestellen im Zentrum der Stadt besuchen. Die englischsprachigen Führungen schärfen ihre Wahrnehmung für die kleinen und großen Schätze der Stockholmer Metro.

„Drei Dinge machen unsere U-Bahn einzigartig“, erklärt Maire Andersson. „Erstens die Anzahl der Kunstwerke: Von den 100 Haltestellen bieten 94 Gemälde, Fotografien, Installationen oder Gesamtkonzepte. Zweitens haben wir eine lange Tradition: 1957 wurde beim Bahnhof T-Centralen erstmalig Kunst installiert. Wir haben also gerade unser 55-jähriges Jubiläum gefeiert. Die dritte Besonderheit ist die spezielle Art der Architektur unserer sogenannten Höhlenbahnhöfe, die sich hauptsächlich auf der blauen Linie befinden und in den 70er Jahren entstanden.“

„Alles hat seine Bedeutung“

Eine dieser Höhlen befindet sich auf der untersten Ebene des Bahnhofs T-Centralen. Nach zwei steilen Rolltreppen, die zu den Gleisen der grünen und roten Linien führen, gleitet ein Laufband mit leichtem Gefälle hinab in die Tiefe. Kobaltblau leuchten die Wände des Tunnels. An dessen Ende öffnet sich eine grottenähnliche Halle, deren Wände dunkelblaue Silhouetten von Arbeitern zeigen. „Dem Künstler, Per Olof Ultvedt, ging es darum, eine Atmosphäre der Entspannung zu schaffen, denn du hast hier zwei Minuten Pause, bevor du in den nächsten Zug steigst. Deshalb die Farbe Blau“, erklärt Marie Andersson. Die Silhouetten sind eine Hommage an die Bauarbeiter der meistfrequentierten Metro-Station der Hauptstadt: Sie hämmern und sägen, bringen Leuchten an oder verlegen Kabel.

Die Stockholmer kennen und schätzen ihre öffentliche Kunstgalerie. „Bei einer Umfrage antworteten 96 Prozent, dass sie davon wüssten. 78 Prozent meinten, dass dies eine gute Sache wäre, die ihrer Reise positive Impulse gäbe“, so Marie Andersson. Überhaupt gilt Stockholm als Trendsetter in Sachen Kunst und Design. Obwohl es kein Gesetz gibt, das den Anteil an Kunst an einem Neubauobjekt festlegt, gibt es in Schweden eine lange Tradition, mindestens ein Prozent der Bausumme in Kunst zu investieren. „Seit 1957 kommt nun Kunst in jeden neuen Bahnhof“, erklärt Marie Andersson. Marie Andersson kennt jeden Pinselstrich, jede Skulptur und jede Anekdote. Selbst dem düstersten Bahnhof oder der kuriosesten Videoinstallation haucht sie mit ihrer Leidenschaft Leben und Respekt ein.

Die Tour beginnt mit den kunstvoll gefliesten Wänden der grünen Linie von T-Centralen, dem ersten Kunstobjekt überhaupt. „Wegen der Fliesen nennen wir die Haltestellen der 50er Jahre Badezimmer-Bahnhöfe“, sagt sie grinsend. Bei der Umgestaltung des Bahnsteigs von Hötorget wurde die ursprüngliche Architektur inklusive Fliesen komplett erhalten. Selbst die Mülleimer stammen noch aus den 50er Jahren, Wände und Säulen sind ein Badezimmertraum in blassen Türkistönen. Die schwedische Künstlerin Gun Gordillo brachte 1998 lediglich eine Lichtinstallation von 103 Neonröhren in verschiedenen Weißtönen an der Decke an.

Unerschütterlich beantwortet Marie Andersson selbst dumme Fragen, zum Beispiel, welche Bedeutung die herabhängenden Schalen an den Decken der Höhlenbahnhöfe haben. „Die sind keine Kunst“, sagt sie und lacht. „Die fangen einfach das Wasser aus dem Gestein auf. Schließlich sind wir hier tief unter der Erde und das Höhlenartige kommt vom Zement, der auf den wasserhaltigen Granit gespritzt wurde.“ Darüber hinaus erklärt sie auch den praktischen Nutzen der Kunst. „Vielen Menschen helfen die verschiedenen Farben und Objekte als Orientierungshilfe“, sagt sie. „Der blaue Bahnhof ist T-Centralen, der graue Stadshagen, der pinkfarbene Rådhuset.“

Der grüne Höhlenbahnhof Kungsträdgården ist Marie Anderssons Favorit. Er zeigt eine geheimnisvolle Grottenlandschaft mit barocken Skulpturen, echtem Efeu und plätschernden Rinnsalen. „Ulrik Samuelson hat diesen Bahnhof 1977 gestaltet“, erklärt Marie Andersson. „Der Künstler hat ihn in einen unterirdischen Garten verwandelt, der die Geschichte des einstigen Barockgartens über uns erzählt.“ Ohne die Erklärungen der Expertin würde man sich vielleicht über die weiß-roten Linien am Fußboden und an den Wänden wundern. Mit Kunst und Stadtgeschichte würde man sie wohl kaum in Verbindung bringen. Das umgekippte Ölfass bliebe unerkannt und die alte Gaslaterne fiele mit Sicherheit nicht auf. „Alles hat seine Bedeutung“, sagt Marie Andersson.

Constanze Bandowski

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