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Reise: Unter Sibiriens heißer Sonne

Auf einer Bahnreise von Berlin nach Nowosibirsk erlebt und erleidet man mehrere Welten. Wenn man will, in 89 Stunden und 22 Minuten.

Die große Bahnreise stirbt aus, leider. Es gibt noch ein paar Strecken, in Südafrika oder Ostasien, aber sie werden vor allem für Touristen am Leben erhalten, haben für die Länder selbst kaum praktische Bedeutung. Doch es gibt Ausnahmen, und eine davon beginnt vor unserer Haustür: der Direktzug Berlin–Ostsibirien, über Warschau, Minsk, Smolensk, Moskau ... Man kann es in 89 Stunden 22 Minuten schaffen. Dann ist man geografisch schon in Asien, historisch und kulturell noch an der Peripherie Europas, in der östlichsten Millionenstadt Russlands. Besser: Man lässt sich Zeit, für Aufenthalte und Abstecher in Orte, in die sich sonst kaum ein Ausländer verirrt. Die Reise ist oft anstrengend – langweilig wird sie nie.

Kai Hensel ist nicht nur der meist gespielte Dramatiker Deutschlands, sondern auch ein unruhiger Geist, der immer wieder gern aus dem Berliner Alltag ausbricht. Er war für uns unterwegs.

Richtung Warschau

Die Fahrt beginnt ruhig. In einem fast leeren Zug – zwischen Berlin und Warschau. Erst nach der polnischen Grenze füllt er sich, mit Menschen und Geräuschen. Handys klingeln, Laptops surren, E-Mails kommen an, Geschäftsgespräche in Polnisch, Englisch, Deutsch. Der Großraumwagen mutiert zum Großraumbüro, während der Zug nur mühsam vorankommt. Wo man auch aus dem Fenster schaut, eine Baustelle entdeckt man immer – neue Gleise, neue Brücken, neue Bahnhöfe.

In Warschaus Zentrum sieht man vom Sozialismus kaum noch etwas. Dafür schicke Menschen in schicken Cafés. Eigentlich hat auch Polen ein demografisches Problem, doch Warschau erscheint jung und dynamisch. Wer Polenklischees vermisst, muss allerdings nur auf die andere Weichselseite wechseln, dort sind sie alle versammelt: Plattenbauten, Fiat Polskis, betrunkene Männer in Jogginganzügen ... Ein paar Schritte weiter, und man steht auf dem „Jarmark Europa“, dem größten Freiluftmarkt Europas: Kapitalismus von unten, Händler aus allen Teilen Asiens, Berge von Kleidung, Geschirr, Elektronik, billig, billig, billig. Seltsame, disharmonische Stadt. Als laufe man ständig über tektonische Platten, die sich reiben.

Prunk in Minsk

„Letzte Diktatur Europas“, „Letzte Bastion des Sozialismus“ – das sind die Schlagworte, die man über Weißrussland liest. Das Land schottet sich ab, errichtet hohe Visahürden, entsprechend wenige Besucher kommen in die Hauptstadt. Das ist schade, denn Minsk ist ein Juwel. Von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört. Stalin ließ die Stadt als neoklassizistisches Schmuckstück neu aufbauen: Boulevards bis zum Horizont, Parks, Gärten, Springbrunnen, Prunkarchitektur, so weit das Auge reicht. Minsk wirkt wie ein Freilichtmuseum des Sozialismus: Hier geht niemand bei Rot über die Straße, lässt eine Zigarettenkippe aufs Pflaster fallen. Hier sieht man keine Bettler oder Betrunkenen, dafür an jeder Ecke Polizei und Militärs, die das straff geplante Idyll bewachen.

Auf jedem Platz erinnern Mahnmale und Ewige Flammen an den Krieg, Hotels tragen Namen wie „40 Jahre Sieg“. Schulklassen drängen sich im „Museum des Großen Patriotischen Krieges“. Man sieht kaum Touristen, doch jede Menge Wechselstuben; viele Weißrussen leben von den Devisen ihrer emigrierten Verwandten. Zudem hängt das Land am Tropf billiger Energielieferungen aus Russland; dreht Moskau den Hahn zu, ist hier schnell Schluss mit Sozialismus. Doch solange das nicht passiert, gilt eine Revolution à la Ukraine als unwahrscheinlich; und das „Haus der Gewerkschaft“ leuchtet weiterhin in der Sonne wie ein Königspalast.

Urwodka in Smolensk

Ein Krug mit gegorenem Getreidesaft auf einem Feuer, darüber ein Lammfell. Die Alkoholdämpfe steigen ins Fell, man wringt es aus – fertig ist der Urwodka. Zu besichtigen ist diese Geburt der Alkoholdestillation im Smolensker Wodkamuseum. Zu sehen ist auch der jahrhundertelange Kampf aller Arten von Obrigkeit gegen die Trunksucht der Russen. „Hat alles nichts genutzt“, sagt die Museumsführerin fast entschuldigend. Und abends sieht man, was sie meint: Nach acht Uhr ist hier kaum noch ein nüchterner Mensch auf der Straße. Soldaten torkeln in Rudeln durch die Innenstadt, Fahnen schwenkend und Lieder grölend, Fünfzehnjährige kauern im Rinnstein, mischen Wodka mit Orangensaft eins zu eins. Man weiß, Russland hat ein Alkoholproblem, wie schlimm es ist, erlebt man jedoch erst an einem Abend in der russischen Provinz. Man kann eigentlich nur noch fliehen, am besten ins Café Absinth. Auswahl zwischen 13 Sorten Absinth, der stärkste mit einem Alkoholgehalt von 70 Prozent ... Nach einem Glas findet man die Szenen vor dem Fenster nicht mehr so schlimm.

Moloch Moskau

Man reist gut in russischen Zügen. Nicht schnell, aber komfortabel. Auch tagsüber im frisch gemachten Bett, wenn man will. Trinkt Tee, schaut aus dem Fenster, lässt Birken und Dörfer vorbeiziehen ... „Siehst du dort einen Menschen?“, fragt ein mitreisender Russe. Ich sehe niemanden, auch keine Autos, bloß verwilderte Gärten, vernagelte Fenster. „Alles Geisterdörfer. Die Alten längst gestorben, die Jugend sucht ihr Glück in Moskau.“

Moskau, zehn Millionen Einwohner offiziell, in Wahrheit an die 15 Millionen. Seit dem Ende der Sowjetunion ist die Zuwanderung nicht mehr zu kontrollieren. Aus allen Teilen des Riesenreiches kommen die Menschen und suchen in der Hauptstadt ihr Glück. Straßen, Metros, Wohnungen sind überfüllt, Liebespaare vergnügen sich in Parks, auf Parkplätzen. Noch nachts um drei ist der Rote Platz voller Menschen – weil Sommer ist, aber auch weil sie nicht wissen, wo sie hin sollen. Ein Hotelzimmer im Zentrum ist unter 300 Euro nicht zu bekommen, also vermitteln Agenturen Privatzimmer an Besucher; dann teilt man sich mit fünf Menschen und mindestens einem Haustier eine Dreizimmerwohnung.

„Die Hotelmafia“, schimpft ein russischer Geschäftsmann, „verhindert, dass billige Hotelketten in Moskau Fuß fassen!“ Hotelmafia, Taximafia, Ärztemafia – glaubt man den Russen, wird jeder Bereich von irgendeiner Mafia kontrolliert. Allerdings sagen sie auch: „It has settled down.“ Die Zeit der Exzesse ist vorbei. Das glitzernd-gnadenlose Babel ist Geschichte, eine neue Nüchternheit regiert. Verwaltung und Justiz ziehen die Zügel an. Zum Beispiel sieht man die berüchtigten Klebstoff schnüffelnden Straßenkinder nicht mehr. Sie werden von der Polizei eingesammelt und in kasernenartigen Heimen interniert. Dort geht es ihnen nicht gut, doch aus dem Stadtbild sind sie entfernt.

Alte Menschen kann man nicht so einfach wegsperren. Moskau ist vermutlich die Welthauptstadt der bettelnden Rentner. Sie stehen vor jeder Kirche, in jedem Metroschacht. Dennoch – vom wachsenden Wohlstand profitieren inzwischen breitere Schichten der Moskauer Bevölkerung, nicht bloß ein paar Oligarchen; über die Situation im Land sagt das allerdings noch nichts. „Dienstleistungssektor, Mittelschicht“, fährt der Geschäftsmann fort, „entstehen nur in Moskau und St. Petersburg. Überall in der Provinz sinkt die Industrieproduktion.“

Moskau strengt an, nach neun Tagen verlasse ich erschöpft die Stadt. Oper, Museen, Nachtleben, alles war prima – aber der bleibende Eindruck: Enge und Lärm.

Der Kreml von Kasan

Kasan, Hauptstadt der Republik Tatarstan. Mitten im Kreml – „Kreml“ heißt „Zitadelle“, es gibt sie in vielen russischen Städten – steht die zweitgrößte Moschee Europas. Die Kasaner behaupten, es sei die größte. Die Hälfte der Bevölkerung sind Moslems. Doch wo sind sie? Keine bärtigen Männer, keine Frauen mit Kopftuch, dafür überall Alkohol und Schweinefleisch; in Kasan sind die Muslime, integriert bis zur Unsichtbarkeit, von Tschetschenien keine Spur. Östlich von Kasan beginnt der Ural, einst das Zentrum der sowjetischen Schwer- und Rüstungsindustrie. Viele der Städte dort waren für ausländische Besucher, oft auch für Sowjetbürger, gesperrt. Diese Städte will ich sehen und verlasse die geplante Route.

Durch den Ural

„Was hältst du von der Berliner Gay Parade?“ Seit zwei Minuten kenne ich den Direktor einer Transformatorenfabrik in Perm. Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern fährt fort: „In der deutschen Geschichte hat es einige bedeutende Männer gegeben – Bismarck, Hitler. Sie haben das Land vorangebracht, keiner von denen war homosexuell, Homosexuelle bringen nie etwas voran, nie, nie, und wenn die jetzt auch in Russland immer mehr werden ...“

Seiner Angst begegne ich noch öfter, der Angst vor dem Verfall. Nicht an den Rändern – dort sowieso –, sondern in der Mitte. Gerade einmal 145 Millionen Menschen leben in dem riesigen Land (davon zehn Prozent in Moskau), Tendenz abnehmend. Auch die Lebenserwartung sinkt, für Männer liegt sie nur noch bei 59 Jahren – Dritte-Welt-Niveau. Das hat Konsequenzen, zum Beispiel für die Infrastruktur – abseits der Hauptverkehrswege nimmt die Qualität von Straße und Schiene dramatisch ab, Großstädte wie Tscheljabinsk und Magnitogorsk sind nur durch eine verschlammte Piste verbunden, für 230 Kilometer Luftlinie zwischen Ischewsk und Perm braucht der Zug eine ganze Nacht.

Gleiches Bild innerhalb der Städte: Halbwegs intakt sind allein die Straßen im Zentrum, in den Vororten verlieren sie sich in Schlaglöchern. Straßenbahnen kommen auf den ausgefahrenen Gleisen nur im Schritttempo voran. Alle paar Stationen steigt die Zugführerin – die Straßenbahnen werden meist von Frauen gefahren – aus und legt mit einer Eisenstange die Weichen um. Die gebildete Jugend zieht es in die wenigen prosperierenden Städte, der Rest fläzt sich mit Bier- und Wodkaflaschen unter Leninstatuen und Siegesdenkmälern. Russland möchte Großmacht sein, aber abseits der Zentren ist es kaum Schwellenland.

Sibirische Sonne in Omsk

Seit Jekaterinburg befinde ich mich wieder auf der Strecke nach Nowosibirsk. Mit im Zug sind viele Touristen, die einmal etwas ganz Besonderes erleben wollen und deshalb, pauschal oder individuell, eine Reise mit der sibirischen Eisenbahn unternehmen. Leider unterschätzen fast alle die Größe des Landes (die Strecke St. Petersburg–Nowosibirsk entspricht etwa der Strecke Hamburg– Kairo) und kommen in Zeitnot. Ich unterschätze die sibirische Sommerhitze. Die Sonne brennt, man traut sich kaum aus dem Bahnhof. Gern würde ich aufs Land fahren, Dörfer besuchen. Allein, das ist in Russland nicht so einfach. Niemand spricht etwas anderes als Russisch. Zudem sind die Menschen in abgelegenen Regionen den Anblick von Fremden nicht gewohnt, reagieren verblüfft, sogar ängstlich. Die Zeiten, in denen selbst flüchtiger Kontakt zu einem Ausländer zehn Jahre Arbeitslager bedeuten konnte, wirken bis heute nach.

In den großen Städten ist das besser. Die Menschen sind freundlich, offen, hilfsbereit. Dort ist Russland ein unkompliziertes, auch sicheres Reiseland. Aber einfach so in ein Dorf voller alter Menschen einfallen? Keine gute Idee.

Immerhin gibt es in Omsk ein Operettentheater. Man gibt Emmerich Kalman, „Die Zirkusprinzessin“, glaube ich. Hauptsache schöne Melodien und bunte Kostüme. Beides gibt’s hier satt, für vier Euro. Danach hat man wieder genug Energie für zwölf Stunden Nachtzug.

Endstation Nowosibirsk

In Nowosibirsk machen auch die gehetzten Transsib-Touristen Station – vielleicht weil die Stadt ein Mythos umweht, wie Timbuktu oder Shangri-La. Allerdings schert sich die Stadt nicht um ihren Mythos. Hier wird Geld verdient, vor allem mit Öl und einer relativ leistungsstarken Industrie. Für Touristen gibt es ein Eisenbahnmuseum, ein Heimatmuseum, ein paar bunt restaurierte Kirchen. Eine Skurrilität am Rande: der Vorort Akademgorodok, ein zu Sowjetzeiten abgeriegeltes Städtchen mitten im Wald. Hier lebte die Wissenschaftlerelite des Landes, hier lag das Zentrum der Nuklearforschung. Geforscht wird immer noch. Es gibt eine Universität und Software-Firmen, die Menschen träumen von einem „Silicon Taiga“. Und sonst? Man darf ruhig sterben, ohne Ostsibirien gesehen zu haben. Gern würde ich weiterfahren, an den Baikalsee, nach Wladiwostok ...

Allein, Russland wirft seine Touristen nach 30 Tagen aus dem Land, Visumverlängerung unmöglich – also geht es morgen im Flugzeug zurück nach Berlin.

Was habe ich von Russland gesehen? Aufbruch, Verfall, Stagnation. Angst, Optimismus, Größenwahn. Bier und viel, viel Wodka. Doch das Land ist ein Ozean, und ich bin bloß ein paar Wochen darin geschnorchelt. Ich werde wiederkommen.

Kai Hensel

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