zum Hauptinhalt
1970 hat Matthias Wegehaupt mit Schreiben angefangen.

© Stefan Berkholz

Usedom: Tausend Seiten hinterm Schilf

Seit langem lebt, malt und schreibt Matthias Wegehaupt auf Usedom. Die Kaiserbäder meidet er.

Usedom sei natürlich „die Insel an sich!“, schmunzelt der Maler in seinem Atelier und man merkt, er meint es ironisch. Und doch ist die Insel sein Mittelpunkt, sein Ruhepol, der Anker in den Stürmen der Geschichte. „Ich gehe jeden Morgen ans Meer“, erzählt Matthias Wegehaupt, „und da sehe ich den gebogenen Horizont, hinter dem die Schiffe verschwinden.“ Es ist seine Sicht auf die Welt.

Matthias Wegehaupt ist 1938 in Berlin geboren. Er studierte in Greifswald und in Berlin-Weißensee. Die längste Zeit seines Lebens hat er auf Usedom verbracht. Wegehaupt hat dort Krieg, Nachkrieg, DDR, Umbruch und ein neues, anderes Deutschland kennengelernt. Und dann hat er angefangen zu schreiben.

Begonnen hat er damit 1970. „Das Schreiben machte grundsätzlich verdächtig“, sagt Wegehaupt nachdenklich. Jede einzelne Schreibmaschine war ja in der DDR registriert! Von jeder Schreibmaschine sollen sogar Schriftproben bei der Staatssicherheit existiert haben, damit auftauchende Texte im Fall der Fälle rasch zugeordnet werden konnten. Das heißt, begann da einer plötzlich zu klappern, und sei es auch im Hof eines verborgenen Anwesens nahe am Wald – schon war er verdächtig. Er hatte zu beweisen, woher die Schreibmaschine kam, wenn ein Nachbar ihn anschwärzte.

Wegehaupt kam vom Schreiben nicht mehr los. „Jeden Tag eine Seite“, erklärt er lächelnd, „es war wie ein Ritual.“ Er notierte, was er beobachtete, was ihn berührte, was ihm durch den Kopf ging. Und so kamen über mehr als drei Jahrzehnte 56 Hefte zusammen, rund dreitausend Seiten. Der Umbruch von 1989/90 platzte ihm dann irgendwie dazwischen, er war noch gar nicht fertig mit seinen Erkenntnissen, die Zeit hatte ihn überholt. Wegehaupt ließ die Seiten liegen, holte sie wieder hervor, strich zusammen, kaufte sich einen Computer, machte eine Fassung fertig, legte sie wieder weg. Die Geschichte sollte zur Ruhe kommen.

Vor sieben Jahren legte Wegehaupt seinen Text als tausendseitigen Roman vor, der Titel: „Die Insel“. Als das Buch 2005 erschien, sprachen Rezensenten von dem „ultimativen Werk über die verflossene DDR“. Das Ganze sei entstanden „aus der Frage heraus, wohin treibt die Insel?“, erklärt der Schriftsteller. Wobei die Insel als Synonym für „das Ganze“ zu verstehen sei, für die DDR also. Alles war fiktiv, die Namen, die Figuren, die Orte.

In seinem zweiten Roman, „Schwarzes Schilf“, seziert Wegehaupt nun in Teilen den Niedergang des Kapitalismus. Er nimmt unsere Gesellschaft aufs Korn, unser Getriebensein in ohnmächtiger Geschäftigkeit, unsere Illusionswelt mit ewigen Täuschungen und Enttäuschungen im Alltäglichen.

"Ich bin kein großer Reisender"

Fischerdenkmal. In Kamminke fehlt das Mondäne der Kaiserbäder. Hier hat sich Usedom in den letzten Jahren kaum verändert.
Fischerdenkmal. In Kamminke fehlt das Mondäne der Kaiserbäder. Hier hat sich Usedom in den letzten Jahren kaum verändert.

© picture alliance / ZB

Doch es ist ja ein „Roman der Reise“, heißt es im Untertitel. Ein Witz eigentlich, denn: „Ich bin kein großer Reisender“, beteuert der Künstler. Und ein „fröhliches Reisebuch“ gar ist es auch nicht. „Für Spaß, Unterhaltung und Action können andere sorgen“, sagt Wegehaupt schmunzelnd. Aber er hat tatsächlich eine Reise beschrieben, eine Irrfahrt, eine zufällig stattfindende Tour – oder vielmehr einen Törn mit einem Segelboot, rund um die Insel. Und die Insel, also „seine“ Insel Usedom, ist nun nicht mehr fiktiv, sondern ganz real. Man erkennt die Orte, kann sie aufsuchen, auf Entdeckungsreise gehen.

Die Hauptfigur sucht auf Usedom die Landschaft seiner Kindheit. Der Mann, den es in die Großstadt verschlagen hatte, nimmt die Veränderungen wahr, die Zerstörungen, den Abriss, die neu gebaute Einförmigkeit. Allmählich, sehr langsam und verwundert auch, lernt er die einfachen Dinge des Lebens zu erkennen und wahrzunehmen: die Schönheit der Natur beispielsweise, spektakuläre Aussichten aufs Meer, ein Leberwurstbrot. Der Mann heißt übrigens Sonntag. Ausgerechnet: Sonntag! Denn Sonne und Tag kontrastieren sehr schön mit dem „Schwarzen Schilf“, das in der Nacht geheimnisvoll am Ufer glänzt und leise im Wind raschelt.

Von Ückeritz ausgerechnet, dem Wohnort Wegehaupts, bricht sein Held auf, gerät mit seinem Segelboot in ein Gewitter, geht im Sturm beinahe unter, berappelt sich wieder, und lernt allmählich die Abenteuer des Lebens lieben. Die berühmten und herausgeputzten Kaiserbäder lässt sein Protagonist links liegen, „denn da knallt nur die Musik vom Strand herüber, das interessiert ja nicht so sehr, oder?“, fragt der Schriftsteller belustigt und erwähnt „Pseudoschlösschen am Ufer“. Den FKK-Strand meidet die Romanfigur – „Robbenkolonie Usedom, dachte er. Brüste, Bäuche, Beine, Hinterteile. Bei den Japanern wäre es eine schwere Beleidigung, jemandem den nackten Arsch zu zeigen.“ Touristen, erkennt sein Protagonist, „sind überall von der Wirklichkeit ausgeschlossen“.

Ein Golfer schwärmt im Roman von der Künstlerinsel Usedom und erwähnt den Schriftsteller Hans Werner Richter, der in Bansin begraben ist, den Maler Niemeyer, der auf dem Friedhof Benz liegt, und Lyonel Feininger, der mit dem Fahrrad über die Insel gestrampelt sei, auf der Suche nach Motiven.

Verborgene Orte und Mythen der Vergangenheit

Satt werden in Ückeritz.
Satt werden in Ückeritz.

© Hella Kaiser

Alles weitgehend bekannt, meint Wegehaupt, dazu gebe es ja nicht mehr viel zu erzählen. Etwas anderes interessierte ihn mehr. Und so führt der Schriftsteller lieber zu verborgenen Ecken und mystischen Orten. „Wo es schön ist, findet man immer etwas aus der Vergangenheit, hatte der Vater gesagt“, heißt es im Roman.

Und so gelangen wir nach Lüttenort, der schmalsten Stelle der Insel. Segeln am Inselchen Görmitz im Achterwasser vorbei, erkennen verrottende Fährschiffe und morsche Stege. Entdecken „das riesige eiserne Tor: die verrosteten Reste des technischen Wunders von 1932, die Hubbrücke von Karnin“. Werden auf das Gehöft des DDR-Staatsbildhauers Ludwig Engelhardt aufmerksam, der das Marx-Engels-Denkmal für Berlin schuf. Und meinen, die Überreste von Ernst Udets Anwesen in Kamminke vor unseren Augen zu sehen. „Hier also hatte des Teufels General hin und wieder gehaust. 62 Abschüsse im ersten Weltkrieg. Sportereignisse mit tödlichem Ausgang. Mann gegen Mann.“

Auch von Swinemünde und Peenemünde, den großen Polen zu beiden Seiten der Insel, ist die Rede. An die Bombenangriffe wird erinnert, an die fortdauernde Panik in schlaflosen Nächten, an irrlichternde Tagträume.

Und so öffnet dieser Roman die Augen für verborgene Orte und Mythen der Vergangenheit. Die Geschichte ruht nicht, vermittelt der Autor. Ganz im Gegenteil. Die Gespenster der Geschichte lauern an jeder Ecke. Und im Innern des Schutzumschlags hat der Verlag eine Karte gedruckt, damit der Leser, wenn er mag, mit dem Finger die Tour nachfahren kann.

„Man kann nur über das schreiben, was man kennt und erfahren hat“, erklärt Wegehaupt. Die Malerei schaffe „nur Zeichen, auch Reize, um auf einen Blick etwas erfassen zu können“. Die Literatur hingegen sei „sehr viel konkreter“. Das Schreiben eröffne Welten, die dem Maler verschlossen blieben. Und so hat der malende Schriftsteller (oder der schreibende Maler) „seiner“ Insel Usedom nun einen zweiten dicken Roman geschrieben. Es ist ein modernes Märchen mit offenem, aber zuversichtlich klingendem Ende. „Alle sind wir seltsame Reisende“, heißt es einmal. „Reisende auf der Reise ins Nichts.“

Wer demnächst mal wieder nach Usedom aufbricht, sollte sich die Muße für die Lektüre nehmen, vielleicht in einem Strandkorb, womöglich in Ückeritz.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false