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Vietnam: So viele Brücken zum Blues

Saigon schläft nie, die Geschäfte brummen. Ökotouristen fliehen – in die faszinierende Welt des Mekongdeltas.

Saigon ist laut. Sehr laut sogar. Und schnell. Verkehrsregeln scheinen nicht zu existieren im sonst so kontrollierten Vietnam. Wer ein Moped besitzt, kann mithalten. Wer sich ein Auto leisten kann, hat es geschafft. Und wer Wolkenkratzer in die historische Altstadt betoniert, macht dies 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr. Wer sich allerdings mit einem Drahtesel abstrampelt, ist arm, alt, krank – oder als Tourist unterwegs.

Dabei prägten noch vor zehn Jahren Abermillionen Fahrräder das Bild von Ho Chi Minh Stadt. So heißt Saigon politisch korrekt, aber davon will heute niemand mehr etwas wissen. Die wenigen Radfahrer gehen unter in dieser motorisierten Welt, gelten als Relikte einer Zeit, an die man sich nicht einmal mehr erinnern mag. Kapitalismus oder Kommunismus? Egal, Konsumismus heißt das neue Zauberwort Vietnams. Saigon kennt keinen Schlaf, die Rotation des Geldes hält die Sieben-Millionen-Metropole in Schwung. Diese ungebändigte Dynamik hat etwas Abschreckendes und Faszinierendes zugleich. Jedenfalls sind wir erleichtert, als wir am nächsten Morgen in Richtung Mekongdelta aufbrechen.

Nach zwei Stunden asphaltierter Ausfallstraße, vorbei an Sargtischlereien, Vulkanisierschuppen und unzähligen Garküchen vor heruntergekommenen Wohnblöcken will mein Busnachbar wissen, ob wir denn noch immer in Saigon seien. Längst raus, erklärt uns Minh Anh Vu in akzentfreiem Deutsch. Der 37-Jährige begleitet unsere Reise. Er ist der Gründer des lokalen Veranstalters Terraverde und so etwas wie der Ökopionier Vietnams, hat viele Ideen aus Europa und Kanada mit nach Hause gebracht.

Allmählich nimmt die Zersiedlung ab, die Gegend wird ländlicher, die Natur zusehends grüner. Immer öfter zerschneiden ockerfarbene Wasserläufe kleinflächige Palmenhaine, Bananenplantagen oder tropisches Gestrüpp. Wir tauchen ein ins legendäre Mekongdelta. Im Provinzstädtchen Ben Tre tauschen wir unseren Kleinbus gegen robuste Fahrräder. Jetzt kann der Urlaub endlich beginnen.

Wir wollen möglichst dicht an den Menschen sein, am Alltag hier, und radeln auf schmalen Dschungelpfaden durch ein scheinbar undurchdringliches Labyrinth aus Flussarmen und Bewässerungskanälen. Temperatur und Luftfeuchtigkeit sind zwar hoch, trotzdem ist das Klima viel angenehmer als in Saigon.

Hin und wieder sehen wir ein Häuschen, wie das von Yin Thi Doiron. Eigentlich ist es eher eine bescheidene Hütte, in die uns die grauhaarige Frau freundlich bittet. Obwohl westliche Radfahrer im Allgemeinen als reich, dynamisch und wohl auch als etwas dekadent angesehen werden, ist die Hemmschwelle zwischen den Kulturen niedrig. Ohne Verbitterung erzählt sie aus ihrem Leben. Dass sie 44 sei, seit zwei Jahren verwitwet und dass der Acker hinter dem Haus ihre kleine Familie nicht ernährt. Deshalb verdingt sie sich als Tagelöhnerin auf fremden Feldern. Zehn Stunden Unkrautzupfen bringen ihr umgerechnet zwei Euro. Selbst in Vietnam ist dies zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Aber arme Menschen gibt es viele in dem von der Natur reich beschenkten Landstrich. An höchstens 15 Tagen im Monat ergattert Yin Thi Doiron einen Job. Ihre ganze Hoffnung ruht jetzt auf ihren beiden erwachsenen Kindern.

Wer am Fluss radelt, bekommt schnell Kontakt. Auch die Kinder haben meistens noch Zeit – etwa um den exotischen Fremden als Fotomotiv zu dienen.
Wer am Fluss radelt, bekommt schnell Kontakt. Auch die Kinder haben meistens noch Zeit – etwa um den exotischen Fremden als Fotomotiv zu dienen.

© Marc Vorsatz

Die Gäste beschleicht das Gefühl, voyeuristische Eindringlinge zu sein, die viel Persönliches erfragen, jedoch nichts von sich selbst preisgeben. Wer auf Augenhöhe durch Vietnam reist, wird öfter zerrissen sein in seinen Gefühlen, betroffen in seiner Anteilnahme und Hilflosigkeit. Unser Guide Minh Anh Vu kennt dieses Spannungsfeld nur zu gut. Er trägt sowohl die westliche als auch die fernöstliche Kultur im Herzen.

Rupert Neudecks Flüchtlingsschiff Cap Anamur fischte den damals Elfjährigen und seine kleine Schwester Thao 1986 aus dem Südchinesischen Meer. Die minderjährigen „Boatpeople“ wuchsen bei Pflegeeltern in Deutschland auf, Anh studierte später in Marburg Politikwissenschaft und Volkswirtschaft, besserte sein Stipendium als Reiseleiter auf, arbeitete anschließend in Wien und dann bei der Außenhandelskammer in Toronto. 2006 ging er zurück in seine sich wirtschaftlich und politisch öffnende Heimat. Inzwischen hat er Tochterfirmen in Laos und Kambodscha und lernt gerade Burmesisch für eine neue Niederlassung in Myanmar. Der nachhaltige Tourismus besitzt ein gewaltiges Potenzial in Südostasien und steht trotz alledem erst ganz am Anfang.

Irgendwo an einer der unzähliger Wasserstraßen

Wir radeln weiter über abenteuerliche Brücken ohne Namen und durch ein paar versteckte Dörfer, in denen Schulmädchen in schmucken schneeweißen Ao- Dai-Kostümen flanieren und kleine Jungs mit großen Schweinen umhertollen. Trinken am Wegesrand frisch gepressten Zuckerrohr- und Ananassaft, überholen Flusskähne, die unter der Last von Bananen- und Kokosnussbergen unterzugehen drohen und passieren Reisfelder, die das halbe Land und ganz Saigon versorgen. Das Delta ist eine Welt für sich und die Heimat von etwa 20 Millionen Menschen.

Gegen Mittag kehren wir ein in ein charmantes Gartenhäuschen irgendwo an einer der unzähligen Wasserstraßen. Eine Adresse hat das einfache Familienrestaurant von Herrn Hai Chi nicht und ohne einen ortskundigen Führer wären wir nie in den Genuss von „Ca kho to“ gekommen. Was so viel wie „Fisch in Tontopf geschmort“ heißt und ein typisches lokales Gericht ist. Ein liebevoll zubereitetes und elegant gewürztes dazu. Es verrät uns mehr über die Mentalität der Flussmenschen als tausend Worte. Aber wer nicht auch mit dem Boot über die Lebensader Südostasiens gefahren sei, der war nicht wirklich da, im Mekongdelta, erklärt uns Meister Chi. Recht hat er.

Als wir später auf der Le Cochinchine über den mächtigen Strom gleiten, sind wir endlich richtig angekommen am Mekong. Die untergehende Sonne taucht den Horizont in ein so buntes Licht, dass man fast geneigt wäre, es als künstlich und kitschig zu betrachten. Unsere umgebaute Reisbarke zieht derweil gemächlich flussaufwärts gen Norden. Auf dem Wasser herrscht reger nächtlicher Verkehr, die großen Pötte transportieren einfach alles, was es so zu transportieren gibt. Meist haben sie Sand geladen für die unzähligen Baustellen der Metropolen Südostasiens.

Nach dem Abendessen mit südvietnamesischen Leckerbissen liegen wir auf gemütlichen Kissen auf dem Oberdeck und lauschen den leisen Liedern zur Gitarre, die Kapitän Thang Quoc Nguyen „mit dem Hals singt“. Ein eigentümlicher, melancholischer Gesang – eine schwierig zu beherrschende Kunstrichtung aus dem Delta. Für uns ist es einfach nur der Mekong-Blues. In seinen Liedern erzählt er vom harten Leben auf dem Wasser. Und von der Liebe natürlich, die der gewaltige Strom allzu oft mit sich reißt.

Aufgemuntert durch einen handgefilterten vietnamesischen Kaffee – sehr stark mit einem ordentlichen Schuss gezuckerter Kondensmilch – und gestärkt mit einem leichten Frühstück geht’s zum Einkaufen. Nein, nicht mit dem Auto und auch nicht in einen Mini- oder Supermarkt. Wir tuckern in einem uralten Holzkahn zum schwimmenden Markt von Cai Be. Cai Be ist allem Anschein nach so etwas wie ein Großmarkt für Obst und Gemüse. Ganze Schiffsladungen mit nach Vanille schmeckenden Durians oder unglaublich süßen Ananas, prallen Wassermelonen, knackigen Speiserübchen oder Longans, den „Drachenaugen“, wechseln hier den Besitzer. Per Menschenkette wird die erntefrische Ware in die kleineren Boote der Zwischenhändler verfrachtet. Trotzdem geht alles recht entspannt zu und die kleinen Kinder laden uns derweil in die gute Stube ein. Meist leben und arbeiten ja die Familien an Bord.

An Land schlendern wir durch winzige Fabriken. In einer wohnzimmergroßen Bonbonmanufaktur duftet es verführerisch nach rauchigem Holzfeuer und süßer Kokosmelasse auf dem Ofen. Wenig später schon wird die dickflüssige Masse in Formen mit mundgerechten Vertiefungen erkalten und von flinken Händen in Pergamentpapier verpackt werden. Jeder einzelne Bonbon ist hier handgemacht – und schmeckt unwiderstehlich!

Nur ein paar Schritte weiter dampft Truong Thi Noi Reisbrei über einem heißen Kessel zu hauchdünnen Fladen ein. Eine wirklich schweißtreibende Arbeit in dem ohnehin schon feuchtheißen Delta. Nicht besser ergeht es einem hageren Mann nur eine Tür weiter. Er rührt unentwegt Reiskörner in einem überdimensionalen Kessel, den er mit Reisschalen befeuert, und produziert so Puffreis.

Nach den besinnlichen Tagen im Delta wirkt die Mega-City noch überdrehter als bei unserer Ankunft. Es scheint schier unmöglich, sich dieser Hektik zu entziehen. Scheint. Insider Minh Anh Vu kennt jedoch ein paar Fluchtpunkte in Saigon. Orte, an denen er selbst Kraft schöpft und spirituell auftankt, die er gerne mit seinen Gästen teilt und wo er ganz nebenbei Gutes tut. Die Nguyen Dinh Chieu Blind School ist so ein Ort. An der Blindenschule offerieren sehbehinderte Kinder und Jugendliche Fußreflexzonenmassagen im Rahmen des „Seeing Hands Project“.

Sie wurden von der Medizinischen Universität Saigon und vom Institut für Traditionelle Medizin zu Masseuren ausgebildet. So sollen sie wenigstens eine kleine Chance für den späteren Kampf ums Überleben erhalten. Gerade mal einen Euro kostet so eine Fußmassage in der Blindenschule, in der die Hektik der Stadt draußen bleibt. Gut angelegtes Geld, eine wichtige Wertschätzung für die Teenager obendrein. Denn in einem sind wir uns einig: Niemand massiert sensitiver als blinde Menschen mit ihren sehenden Händen. Saigon kann also auch leise sein. Sehr leise sogar.

Marc Vorsatz

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