zum Hauptinhalt
207389_0_a2955479

© visum

Wandern: Gemütlich zum Gipfel

Das Etschtal in Südtirol ist das Paradies der Turnschuhwanderer. Aber es gibt auch Wege für Anspruchsvolle – mit herrlichen Aussichten

Altenburg könnte nicht schöner liegen: Der Blick fällt ins weite Etschtal hinunter, gleitet über die grünen Mittelgebirgshänge der anderen Talseite aufwärts und bleibt an den weiß leuchtenden Dolomitengipfeln hängen. Es ist Sonntag, die Frühlingssonne scheint von einem wolkenlosen Himmel, das Ausflugslokal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Auch auf dem nahen Aussichtsplateau herrscht Hochbetrieb. Picknickgesellschaften haben sich auf der Wiese verteilt, Kinder toben umher, Wanderer stehen am Holzgeländer und reichen einander das Fernglas. Sie schauen hinüber zu Weiß- und Schwarzhorn oder hinab zum türkis schimmernden Kalterer See, auf dem sich schon die Surfer tummeln.

Ein paar Schritte entfernt beginnt das andere Altenburg. Wir folgen einem in den Stein gehauenen Weg auf einem immer schmaler werdenden Gratrücken abwärts. Es geht durch ein Niemandsland mit mediterraner Vegetation, zu der die rötliche Farbe des Porphyrs einen bizarren Kontrast bildet. Der Weg endet an einem tiefen Graben, der von einer neuen Hängebrücke überspannt wird. Links davon sieht man noch die verwitterten Pfeiler ihrer mittelalterlichen Vorgängerin. Sie ragen aus einem Märchenwald, in dem die Stämme von Efeu und Herbstklematis umschlungen sind.

Nicht weniger verwunschen wirkt der kastanienbestandene Hügel, zu dem die Brücke hinüber führt. In der einzigen Lichtung trifft man auf die restaurierten Reste der St. Peter-Basilika, einer der ersten frühchristlichen Kirchen Südtirols. Fachleute datieren sie auf das fünfte Jahrhundert. Dass die markante Anhöhe schon viel früher bewohnt war, belegen die zahlreichen Schalensteine in der Nähe. Älter als die Kirche ist auch die grabähnliche Steinwanne, deren Boden noch mit Herbstlaub bedeckt ist. Sie ist gerade so groß, dass ein erwachsener Mensch darin Platz findet. In der Mitte hat sie eine sternenförmige Vertiefung, die den Archäologen Rätsel aufgibt. Handelt es sich um ein frühchristliches Taufbecken, um ein vorgeschichtliches Grab oder wurden hier gar Menschen geopfert?

Altenburg und der St. Peter-Hügel bilden den Südzipfel des Überetsch, jener sanften Einmuldung, die vom Etschtal durch den Höhenzug des Mitterbergs getrennt ist. Bis zur Eiszeit floss der wichtigste Strom Südtirols genau hier – zu Füßen des Mendelkamms, der sich bis an die Provinzgrenze zum Trentino hinunterzieht. Erst beim Abtauen der Gletscher fand die Etsch den Weg durch das Bozner Becken, wo sie das Wasser des vom Brenner herunterströmenden Eisack aufnimmt. Das Überetsch hat seither keinen Fluss mehr, dafür aber auch keine Überschwemmungen – und keinen Durchgangsverkehr. Da auch Industrie- und Gewerbegebiete fehlen, stehen die fruchtbaren Böden ganz den Winzern zur Verfügung. Immerhin 1700 Hektar sind mit Reben bepflanzt, womit Kaltern und Eppan, die beiden Überetschgemeinden, die mit Abstand größten Weinproduzenten Südtirols sind.

Das von der Sonne verwöhnte Mittelgebirgsplateau gilt als Eldorado für Spaziergänger und Turnschuhwanderer. Doch es gibt auch das, was man in einer derart heiteren Landschaft nicht erwarten würde: anspruchsvolle Bergwege, die zu begehen ein kleines Abenteuer darstellen. Wer mit Halbschuhen vom St. Peter-Hügel auf dem Wanderweg Nr. 1 in Richtung Kaltern zurück spazieren will, wird sich jedenfalls wundern. Zunächst geht es auf steilem Pfad in die düstere Schlucht hinab, die sich der Rastenbach in zehntausenden von Jahren gegraben hat. Weiter absteigend betritt man dann die eigentliche Klamm – über abgehalfterte Holzbrücken, die zu einem schwindelerregenden Aussichtspunkt mitten in der senkrechten Felswand führen. Von dort muss man auf einer rutschigen Holztreppe zum Wasserfall hinunter und auf der Gegenseite beinahe auf allen Vieren wieder hinauf.

Um so überraschender, dass man eine Viertelstunde später wieder in der pastoralen Welt der Weinbauern zurück ist. Am sanft ansteigenden Osthang verteilen sich die anderen acht Ortsteile von Kaltern, erkennbar an den spitzen Kirchtürmen, die in den azurblauen Himmel zeigen. Das urbane Zentrum bildet der Marktplatz von Kaltern Dorf, an dem sich prächtige Steinhäuser mit Arkadengängen versammeln, die von venezianischen Renaissancebaumeistern gestaltet wurden. Gemütliche Straßencafés locken hier mit Eis, Cappuccino und frischem Apfelstrudel, nebendran plätschert der opulente Dorfbrunnen. Allzu lange halten wir es jedoch nicht aus. Zu hektisch ist das Kommen und Gehen, ganze Busreisegesellschaften schieben sich durchs Bild. Eppan und Kaltern gehören nunmal zu den touristischen Hauptkampfplätzen Südtirols.

Wir entrinnen dem Trubel, indem wir durch die spektakulären Eislöcher in die obersten Weiler von Eppan hinüber gehen. Hier stehen die meisten der 40 Burgen und 120 herrschaftlichen Ansitze, die dem Weindorf das feudale Gepräge geben. Zuerst kommt Schloss Englar, dann das auch im Innern original erhaltene Schloss Moos, schließlich der Bilderbuchansitz Freudenstein. Im Hintergrund sind die Dolomitengrößen versammelt: Schlern, Rosengarten und Latemar – ein Stillleben von entzückender Schönheit.

Zum Abschluss des Wandertages wird es noch einmal abenteuerlich. Wir machen die legendäre Eppaner Burgenrunde, die wahrlich kein Spazierweg ist. Schon zur Ruine Boymont geht es auf einem Felsenpfad hinunter, der durch Holzgeländer und Halteseile gesichert ist. Nach der Querung des Wildbachs steigt man ebenso steil zum Burghügel hinauf. Das Gleiche wiederholt sich auf dem Weg nach Hocheppan, der markantesten Burgruine des Überetsch.

Das auf einem Porphyrfelsen thronende Ensemble entstand um 1200, der Blütezeit der Eppaner Adelslinie. Erst vor wenigen Jahren wurden Turm und Burgkapelle fachgerecht renoviert. In der Abendsonne sitzen wir auf der Terrasse der Burgschenke und genießen den Blick ins Bozner Becken, aber auch das Panorama im Norden – mit den noch schneebedeckten Meraner Bergen.

Kaum wahrnehmbar dämmert Sigmundskron unter uns im Dunst. An der einstmals größten Burganlage Südtirols hatte unsere Wanderung gestern Früh begonnen. Vor wenigen Jahren hat Reinhold Messner das gespenstische Gemäuer zu seinem vierten und wichtigsten Museum umbauen lassen. Die wilde Felslandschaft des Burghügels wurde dabei geschickt einbezogen. Auf steilsten Treppen geht es in dunkle Kavernen hinunter und in lichthelle Türme hinauf. Oben angekommen steht man auf durchsichtigen Glasplatten, unter denen der Abgrund gähnt. Das „Mountain Museum“ passt zur Gegend, in der es steht. Es bietet alpinistischen Nervenkitzel, Anstiege, die einen nach Atem ringen lassen – und einen weiteren, fantastischen Dolomitenblick.

Gerhard Fitzthum

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false