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Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste... Wer die anmutigste Tänzerin in cremefarbener Robe ist, wird sich gleich nach der Balleröffnung zeigen.

© p-a/PEROUTKA Günther

Wien: Ein, zwei Strähnen Lässigkeit

Die „Fête Impériale“, der Sommerball in der Hofreitschule, hat nur sanfte Regeln. Linkswalzer ist Pflicht.

Draußen köchelt der Asphalt. Das wird vermutlich in diesem Juni wieder so sein. Ausgerechnet den heißesten Tag des Jahres beim Friseur zu verbringen, mag da als recht exzentrische Idee erscheinen. Doch es geht um eine wichtige Mission. Mithilfe von 32 Nadeln verwandelt Daniela, eine Expertin für Hochsteckfrisuren, meinen ungeordneten Schopf in eine entzückende Ballkonstruktion. Kunstvoll türmt sie Strähne um Strähne, bis nur noch zwei einzelne in sorgsam geformten Wellen mein Gesicht rahmen.

„Zum Sommerball geht man ein bisschen lässiger“, erläutert sie. Daher die beiden frei schwingenden Strähnen. Damit ist es aber auch schon vorbei mit dem sommerlichen Schlendrian. Bodenlang ist auch beim Sommerball für die Damen Pflicht. Herren sollen indessen sogar schon im Smoking gesehen worden sein, ergänzt sie, und schüttelt den Kopf ob dieser bedauernswerten Laxheit. Sie kennt sich aus, schließlich bedeuten die zahlreichen Balltermine im Jahreslauf jeweils Großeinsätze für Wiens Friseurinnung.

Die „Fête Impériale“ in der Spanischen Hofreitschule ist der glanzvollste Sommerball Wiens, der im vierten Jahr an eine stolze Tradition anknüpft: Schon Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) lud zum Tanz in die Winterreitschule. Und so sitzen auch in den anderen Stühlen des Salons im Schatten des Stephansdoms fast nur Frauen, die ihre Haare für den Ball am Abend feststecken lassen. Mag in der Hofreitschule der Schweiß auch in Strömen fließen – die teuren Lippizaner, denen man derartige Temperaturen nicht zumuten würde, traben derweil auf saftigen Sommerweiden –, die Frisur muss sitzen.

Bälle sind in Wien nicht nur Gegenstand von Märchen oder Historiendramen, sondern realer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Hier hat der einstmals in vielen Ländern gepflegte Brauch überdauert, junge Erwachsene in die Gesellschaft einzuführen. Und auch im weiteren Leben wird der Wiener immer wieder die ein oder andere Nacht durchtanzen. Etwa 450 Bälle finden jedes Jahr statt, die meisten davon in der Karnevalszeit. Der größte ist der Jägerball, gefolgt von Kaffeesieder- und Opernball.

Lippizaner in voller Schönheit bei einer Probe der Hofreitschule.
Lippizaner in voller Schönheit bei einer Probe der Hofreitschule.

© p-a/Eibner-Presse

„Wien besitzt sehr viel mehr Traditionsliebe als jede andere Stadt in Europa“, weiß Thomas Schäfer-Elmayer, als Verfasser diverser Leitfäden für korrekten gesellschaftlichen Umgang eine Instanz in allen Fragen der Etikette und überdies Leiter einer der bekanntesten der 38 Tanzschulen der Stadt. Er weiß alles: dass beim Sommerball Sandaletten möglich, obschon sonst beim Ball geschlossene Schuhe vorgeschrieben sind; dass Herren hier ausnahmsweise im Dinnerjackett erscheinen dürfen statt im Frack mit Dekoration oder in Galauniform; dass ein richtiger Mann sich aber solche Lässigkeiten verkneift und auch bei 40 Grad nicht auf die Idee kommt, die Jacke abzulegen. Schäfer-Elmayer wird am Abend die Balleröffnung und mitternächtliche Quadrille überwachen. Damit dabei alles unfallfrei vonstatten geht, bereiten sich in seiner Tanzschule einige Ballbesucher in letzter Minute mit Blitzkursen oder speziellem Linkswalzertraining vor.

„Die Kleidung ist ein wichtiger Teil der Atmosphäre“, mahnt Schäfer-Elmayer. Nicht nur die. Beim Verlassen des Friseursalons halte ich den Kopf sehr gerade und betrachte aus der Höhe meines aufgetürmten Haars die Menschen, wie sie da verschwitzt und zerzaust durch die Straßen hetzen. Vorsichtig trage ich mein Haupt ins Hotel. Dort wartet mein Kleid: bodenlang, Schuhe darunter unsichtbar, das gäbe die volle Punktzahl von Benimmpapst Schäfer-Elmayer.

Ein Hauch von Pferdegeruch gehört dazu

Tanz in Perfektion. Alle bleiben exakt in ihren Reihen.
Tanz in Perfektion. Alle bleiben exakt in ihren Reihen.

© Roland Schlager/p-a/dpa

3000 Gäste streben am Abend in die Hofreitschule. Sommer- und Winterreitschule und die Stallburg sind die zentralen Schauplätze des Geschehens. Obwohl den ganzen Tag über gelüftet wurde, zeigt sich schnell, dass die Fête Impériale tatsächlich der heißeste Ball der Stadt ist. Ein Teil immerhin findet unter freiem Himmel statt; die dekorativen Strohballen, auf denen später vom Tanzen Erschöpfte Platz nehmen, gehören genauso dazu wie der kaum wahrnehmbare Pferdegeruch und das Schnauben vom Band. Es mischt sich mit dem der Pferde, die die Gäste im Fiaker zum Eingang bringen.

Dort ist eine Menge zu sehen. Wer es geschafft hat, aus dem Fiaker zu klettern, ohne sich auf den Saum des Kleids zu treten oder aufs Gesicht zu fallen, wird mit einem Glas Sekt belohnt. Obwohl mir das Manöver nach eigener Einschätzung mit einiger Anmut gelungen ist, wenden sich die am roten Teppich lagernden Fotografen gelangweilt ab. Bald jedoch erscheinen lohnendere Gäste: Fußballprofis und Olympiateilnehmer, in den Fernsehdschungel ausgewilderte Pseudomodels, schließlich Maximilian Schell: ein ganz schweres Kaliber. Unter heftigem Blitzlichtgewitter verschwinden er und seine schöne junge Begleiterin in Richtung Winterreitschule.

Nun heißt es, die Zeit bis zur festlichen Eröffnung durch das Jungdamen- und Jungherrenkomitee totzuschlagen: am Glas nippen, ein wenig Luft ins Gesicht fächeln, langsam flanieren, unnötige Anstrengungen vermeiden. Als ein Kinderballett mit bunten Steckenpferden aufgetreten ist, eine Opernsängerin die Stimme erhoben hat und die jungen Damen und Herren demonstriert haben, wie man richtig gut tanzt, darf endlich das Publikum aufs Parkett: alles Walzer. Also: linke Schulter zur Saalmitte, stets in Richtung Wand drehen, Vor-Seit-Schluss, Rück- Seit-Schluss. So war es in der Tanzstunde.

Beim Sommerball zeigt sich, was man immer geahnt hatte: Im Leben geht es rauer zu als in der Schule. Mein Wiener Tänzer fegt durch den Saal wie ein Wirbelsturm. Einzig seiner Routine – und womöglich auch seiner Geschwindigkeit – ist zu verdanken, dass es nicht zu schweren Karambolagen kommt. Dennoch fürchte ich nach den ersten rasanten Drehungen ums nackte Leben. Bloß nicht loslassen, sonst würde ich der Fliehkraft folgend wohl in die Kapelle geschleudert.

Und: nur keinen Schuh verlieren. Der würde vermutlich erst Tage später entdeckt werden, weit weg zwischen ein paar Strohballen.

Mit Sorge denke ich nun an die mitternächtliche Quadrille und die wüsten Quadrillenstörer, vor denen Schäfer-Elmayer gewarnt hatte. Aber zunächst ist es Zeit für eine Pause. In der Stallburg sind Tische für jene gedeckt, die zwischendurch sitzend ein paar Würstchen essen möchten. Der Preis für einen solchen Platz samt Ballkarte ist mit 280 Euro allerdings kein wirkliches Schnäppchen. Günstiger ist die Flanierkarte, die zum Sitzen nur auf Strohballen berechtigt und 120 Euro kostet. Wer schon am Cocktailempfang unter der Michaeler-Kuppel teilnehmen möchte, ist mit 180 Euro dabei, darf dafür aber auch noch zur Eröffnung in die Winterreitschule.

Todesmutige Wiener rasen über die Tanzfläche

Trotz der stolzen Preise ist Geld hier kein Ausschlusskriterium. Studenten gehen für 50 Euro zum Ball. Junge Menschen, die bei Schäfer-Elmayer nachgewiesen haben, dass sie den Linkswalzer beherrschen, dürfen sich an der Eröffnung in der Winterreitschule beteiligen – und tanzen die ganze Nacht lang gratis. Wer sich die Karte leisten kann, weiß, dass er nicht nur zum Vergnügen, sondern zum Wohl der Pferde tanzt.

Denn der Sommerball ist auch eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Der Erlös fließt in das teure Gut in der Steiermark, das rund 10 000 Euro pro Tag an Unterhalt verschlingt, um die berühmten weißen Lippizaner hervorzubringen.

Um Mitternacht versammelt sich das gut konditionierte Wiener Ballpublikum unaufgefordert in der Winterreitschule. Wo sonst die Pferde tanzen, stehen Damen und Herren einander gegenüber. Thomas Schäfer-Elmayer tritt ans Mikrofon. Zu Klängen aus der „Fledermaus“ diktiert er mit ruhiger Stimme: „Die Herren nach vorn, die Herren nach vorn, die Damen hinterher!“ Doch dies ist nur der Anfang.

Das Tempo der Musik steigert sich, die Worte des Zeremonienmeisters verdichten sich zu einer raschen Folge verwirrender Anweisungen: den Herrn schräg rechts bei der Hand nehmen, im Kreis drehen, zurück zum eigenen Herrn, nach vorn, zurück, zur Seite, nun andersherum – und zwischendrin stürmen Paare in nahezu selbstmörderischer Absicht im Galopp durch die lange Reihe der Tanzenden. Trotzdem bleibt das beklemmende Gefühl, dass mangelnde Routine die schlimmste Quadrillenstörung ist. Als das Chaos im Kopf größer nicht mehr werden kann, hebt das Orchester an zu einer Polka. Noch einmal steigert sich das Tempo, todesmutige Wiener rasen über die schwarz-weiß gewürfelte Tanzfläche, als gäbe es kein Morgen. Ich fliehe in die Stallburg. Auch hier wird getanzt, jedoch erklingt zeitgenössisches Liedgut vom Band. Auch der Tanz gerät deutlich weniger anspruchsvoll, wiewohl einige Paare Schrittfolgen aufs Parkett legen, die auch dem Zeremonienmeister ein zustimmendes Nicken abringen würden.

Um halb vier am Morgen fliegen im Hotel die Schuhe von den Füßen. Irgendwann sind auch die 32 Nadeln aus dem Schopf gezupft. Außer den Haarsträhnen sind nun die Erkenntnisse zu sortieren. Ganz klar, der Wiener ist in seiner Ballkultur dem gemeinen Europäer um Lichtjahre voraus. Die Unerschrockenheit vor der formellen Kleidung ist dabei ebenso beeindruckend wie der verspielte Ernst, mit dem er die Quadrille angeht. Muße (und Mut) zur zweckfreien Kunst sind schließlich wesentliche Indikatoren für den zivilisatorischen Fortschritt einer Gesellschaft.

Für Einsteiger ist der Ball ein Erlebnis, das unvergesslich bleiben wird – schon wegen der eigenen Unzulänglichkeiten. Vor meinem nächsten Wiener Tanzvergnügen in gehobener Gesellschaft werde ich einen Intensivkurs bei Schäfer-Elmayer absolvieren: Wiener Walzer und Polka – für den Ernstfall Ball.

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