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Mitglieder einer russischen Sekte, die mehrere Kinder über Jahre unter der Erde gefangen gehalten haben soll.

© dapd

Russland: Sekte hielt Kinder unter der Erde gefangen

Sie sind blass und unterernährt, viele haben noch nie die Sonne gesehen: Fast zehn Jahre lang hat eine russische Sekte mehrere Kinder in einem unterirdischen Tunnelsystem gefangen gehalten. Nun kam die Polizei der Gruppe auf die Spur.

Zuschauer des staatlichen russischen Nachrichtenkanals Rossija 24 kamen sich vor wie in einem Gruselfilm: Abgehärmte, blasse und unterernährte Kinder, von denen viele noch nie die Sonne gesehen hatten. Sie kannten keine Spiele, kein Eis, kein Badevergnügen. Fast zehn Jahre lang waren sie Geiseln eines größenwahnsinnigen muslimischen Geistlichen, der sich zum Propheten erklärt hatte und allen, die ihm nicht folgten, mit Weltuntergang und Sintflut drohte. Rettung wie seinerzeit in der Arche Noah gebe es nur für jene Gläubigen, die bereit wären, ihm in ein unterirdisches Tunnelsystem zu folgen, das die Sektenmitglieder selbst ausheben mussten.

Insgesamt 70 Menschen, darunter 27 Kinder im Alter zwischen 18 Monaten und 17 Jahren, schrieb das Massenblatt Komsomolskaja Prawda, habe eine Sondereinheit der Polizei in der Nähe von Kasan, der 800 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Hauptstadt der Teilrepublik Tatarstan, aus dem Horror-Labyrinth befreit. Eher zufällig. Eigentlich waren sie unterwegs, um nach den Terroristen zu fahnden, die Ende Juli einen Anschlag auf den Mufti – den obersten islamischen Geistlichen – und dessen Stellvertreter verübt hatten.

Video: Sekte lebte 10 Jahre unter der Erde

Seine Weltuntergangsphantasien hatte Faisrachman Satarow, der selbsternannte Prophet, schon kurz nach seiner "Erleuchtung" 1980 zu verbreiten begonnen. 1996 nahmen sie konkrete Gestalt an. Die Sekte kaufte ein etwa 700 Quadratmeter großes Gelände am Stadtrand von Kasan, errichtete dort eine Moschee, grub mehrere Brunnen und begann dann mit dem Ausheben von Tunneln und Zellen, die bis zu sieben Stockwerke tief unter die Erde gebaut wurden. Dort kamen viele der Kinder später auch zur Welt.

Eine Schule hat keines von ihnen je besucht. Unterricht erteilte Sektenchef Satarow selbst. Koran-Lesen bei Kerzenschein. Alles andere hielt er für "weltliches Teufelszeug". Ohne seine ausdrückliche Erlaubnis durfte auch keines der Sektenmitglieder das Gelände verlassen.

Die Kinder zeigen schwere Verhaltensstörungen

Die Kinder wurden inzwischen in Kliniken eingewiesen, wo sie erstmals in ihrem Leben einem Gesundheitscheck unterzogen werden. Später, sagte der Kinderschutzbeauftragte des Präsidenten, Pawel Astachow, der Agentur Ria Nowosti, würden sie in Kinderheimen betreut werden. Adoptiveltern für sie zu finden dürfte extrem schwierig werden. Bei den meisten wurden schon bei ersten Untersuchungen schwere Verhaltensstörungen diagnostiziert.

Die Sekte von Kasan ist nicht die erste, die in Russland für landesweites Aufsehen sorgt. Im Tal von Minussinsk in Südsibirien hat seit Anfang der Neunziger Vater Wissarion – eine angebliche Reinkarnation Jesu - seine Jünger um sich versammelt und diesen eine streng vegane Lebensweise verordnet. Zeitgleich machte in der Ukraine eine ehemalige Funktionärin des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol als Reinkarantion Mariä Furore.

Video: Sekte lebte 10 Jahre unter der Erde

Und 2007 hatten sich im Gebiet Pensa in Zentralrussland 30 Erwachsene und vier Kinder in Erdbunkern eingeschlossen, um dort unter ähnlich spartanischen Bedingungen wie die Muslime in Tatarstan das Ende der Welt zu erwarten. Nach vier Monaten stieß sogar noch ein orthodoxer Geistlicher zu ihnen. Er hatte ein höchstwillkommenes Geschenk dabei – die Klosterkasse. Die muslimische Sekte dagegen soll bis über die Ohren verschuldet gewesen sein. Vor allem damit versuchen einige Experten, das Abtauchen unter die Erde zu erklären. Andere warnen, Sekten hätten vor allem immer dann Erfolg, wenn die Menschen sich extrem verunsichert fühlen und in ihrer Angst vor der Zukunft das Heil bei Gurus, Zauberern oder Wunderheilern suchen.

Auch diese finden in Russland seit Jahren regen Zulauf. Bisher jedoch wandten sich Sekten vor allem an die Anhänger christlicher Konfessionen. Der Islam, so erklärte ein muslimischer Geistlicher auf Anfrage das Phänomen, sei kämpferischer und attraktiver und daher "gegen Sekten so resistent wie iranische Rosen gegen Pilzkrankheiten". Bisher stimmte das auch mehr oder minder. Traurige Berühmtheit erlangte bisher nur die Sekte der Asassinen. Auf der Burg Alamut im Nordiran wurde Männern mit Drogen das Paradies vorgegaukelt, in das sie als Selbstmordattentäter im Namen des Glaubens eingehen würden.

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