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Säure-Opfer Bahrami: Verzicht auf Rache in letzter Sekunde

Jahrelang hat sie dafür gestritten, den Mann blenden zu dürfen, der auch ihr das Augenlicht nahm, sie mit Säure verätzte. Aus Eifersucht. Ein iranisches Gericht gab Ameneh Bahrami das Recht dazu – und plötzlich verzichtet sie.

Madschid Mowahedi liegt betäubt auf einem Krankenhausbett in Teheran, vollkommen ausgeliefert, als Ameneh Bahrami an sein Bett herantritt. Mit der Pipette tröpfelt sie ihm Schwefelsäure in die Augen. Fünf Tropfen in das rechte, fünf Tropfen in das linke Auge. Erst nach dem Aufwachen wird er spüren, wie die Säure sich in seine Augen frisst, ihn erblinden lässt, es werden unvorstellbare Schmerzen sein – die auch Ameneh Bahrami durchlitten hat.

Oft hat sie sich diesen Moment vorgestellt. Fast sieben Jahre lang hat die erblindete Iranerin dafür gekämpft, dass auch sie Mowahedi nehmen darf, was ihr der verschmähte Verehrer bei seinem Säureanschlag aus Eifersucht an einem Novembertag im Jahr 2004 zerstört hat: das Augenlicht.

Für diesen Wunsch ist Ameneh Bahrami, die heute 32 Jahre alt ist, in den vergangen Jahren weltweit bekannt geworden. Sie wurde scharf kritisiert, von Menschenrechtsvertretern international wie auch im Iran – aber sie wurde auch bestärkt, gerade von Frauen, die auf die abschreckende Wirkung eines solchen Urteils hofften.

Auge um Auge. Aus westlicher Perspektive ist es eine grausame, mittelalterliche Tat – aber selbst für iranische Verhältnisse ist diese Bestrafung eine Zäsur, denn Ameneh Bahrami war das erste Opfer eines Säureattentats, das den Täter blenden will. Am 26. November 2008 spricht ihr ein iranisches Gericht nach vier Jahren Verhandlung und unzähligen Einsprüchen Bahramis Vergeltung zu. Am gestrigen Sonntag, dem letzten Tag im Juli, sollte das Urteil vollstreckt werden. Doch dann die große Überraschung: Bahrami verzichtet in letzter Sekunde.

So ist Ameneh Bahramis ungewöhnliche Geschichte nun auch die Geschichte eines abrupten Wandels geworden, der kaum nachzuvollziehen ist. Auch, weil es schwer ist sich vorzustellen, wie sich jemand fühlt, der im Begriff ist, einem anderen Menschen sein Augenlicht zu nehmen, weil derjenige dies einem selbst antat. Ist es der Rausch der blinden Rache? Genugtuung, Zufriedenheit? Zweifel? Angst vor dem eigenen Plan?

Eineinhalb Wochen vor der Urteilsvollstreckung am Sonntag ruft sie an einem Dienstagabend überraschend ein iranischer Richter an. Ameneh Bahrami soll aufbrechen aus Barcelona, wo sie seit Jahren wohnt, und nach Teheran kommen, sofort. Das Urteil werde noch vor dem heiligen Fastenmonat Ramadan vollstreckt, mit ihr oder ohne sie, und alles müsse geheim bleiben, keine Presse diesmal.

Denn schon einmal sollte Mowahedi geblendet werden, im Mai 2011, vollzogen zwar im kleinen Kreis von Bahrami, deren Vater und Mutter, eines Onkels, des Anwalts und eines beaufsichtigenden Arztes, doch beobachtet von der weltweiten Öffentlichkeit. Bahrami stand schon vor dem Krankenhaus in Teheran, da schob die iranische Justiz das Urteil auf, ohne Angabe von Gründen, auf unbestimmte Zeit. „Sie sei wütend und traurig“, sagte Bahrami der Presse damals.

Doch nach dem Anruf des Richters bucht Ameneh Bahrami nun also wieder eilig ein Flugticket nach Teheran, alarmiert ihre Eltern, die dort leben. Natürlich will sie dabei sein: „Es ist nicht das Recht der iranischen Justiz“, wird Ameneh Bahrami einen Tag später entschlossen sagen. „Es ist mein Recht, für das ich lange gekämpft habe.“

Der Morgen nach dem Anruf beginnt wie immer. Mit ihrer jüngsten Schwester Shadi sitzt Bahrami an einem Aluminiumtisch vor einem kleinen Café in Barcelona. „Ich bin erschöpft, ich will die Sache beenden und dann ein neues Leben in Barcelona anfangen“, sagt Bahrami in weichem, gedehntem Spanisch, „In den letzten Jahren gab es in meinem Leben immer nur Krankenhaus und Gericht.“

Wie die meisten Einheimischen hier wirkt die kleine, ein wenig pummelige Ameneh Barahmi leger-elegant, ihr Gesicht wird von einem Kurzhaarschnitt mit braungefärbten Strähnchen umrahmt, sie trägt eine weiße Hose, ein dunkelblaues kurzärmeliges Oberteil, eine schmale silberne Uhr am Handgelenk, schwarze Sonnenbrille. Doch alle paar Sekunden muss sie Tränen mit der Hand abwischen, die unter der Sonnenbrille hervor und über ihre Wangen rinnen.

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Sie weint nicht etwa, weil es sie nun doch erschüttert, dass Madschid Mowahedi erblinden wird, weil sie es so wollte. Sie wirkt auch nicht aufgeregt, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Vergeltung und dem Impuls zu verzeihen. Eigentlich hat Ameneh Bahrami erstaunlich gute Laune, sie lacht viel, hat eine positive Ausstrahlung. Nur ihre Augen tränen – oder das, was von ihnen übrig geblieben ist. Wenn sie ab und zu die schwarze Sonnenbrille ablegt, sticht ein blaugraues Glasauge aus ihrer rechten Augenhöhle hervor, ein paar einsame schwarze Wimpern hängen vom künstlich rekonstruierten Lidrand, auf der linken Seite ist nur Haut und ein stecknadelgroßes, gerötetes Loch geblieben. Ihr ganzes Gesicht ist vernarbt, glänzt an manchen Stellen rötlich, auch auf Händen und Armen werfen sich vereinzelte dicke Schwielen auf. Doch ist all dies kein Vergleich mit ihrem früheren Zustand direkt nach dem Attentat.

Ameneh Bahramis Gesicht sah lange so aus wie eine entzündete Maske aus ungleichmäßig modelliertem Wachs, einmal schrie eine Spanierin laut auf, als sie Bahrami sah, inzwischen hat die Iranerin 19 Operationen hinter sich, an Augen und im Gesicht. „Man sieht es jetzt fast nur noch mit der Lupe“, scherzt die junge Frau. Aber sie sagt auch, dass sich wohl kaum jemand vorstellen kann, was sie durchgemacht hat.

In ihrem ersten Leben sah Ameneh Barahmi aus wie ihre jüngere Schwester Shadi, mit der sie nun in Barcelona zusammenlebt: eine attraktive, selbstbewusste Frau mit großen, dunkelbraunen Augen, langen Haaren. Shadi ist jetzt 24 Jahre alt – so alt wie Ameneh Bahrami war, als ihr Verehrer Mowahedi anfing sie zu verfolgen und später in Sekundenbruchteilen ihre Zukunftspläne und ihr Leben zerstörte.

Im Jahr 2004 studiert Ameneh Barahmi Elektrotechnik in Teheran und arbeitet nebenher bei einem Medizintechnikhersteller. Sie rebelliert nicht gegen das starre iranische System, nimmt sich aber kleine Freiheiten heraus, ihr schwarzes Haar wallt unter modischen Kopftüchern mit Leopardenmuster hervor, manchmal schminkt sie sich auch dezent, vor allem will sie ihr Leben, ihren beruflichen Weg und ihren zukünftigen Mann selbst bestimmen, wie eine ganze Generation junger gebildeter und berufstätiger iranischer Frauen, die sich von traditionellen Rollenbildern der Islamischen Republik Iran befreien wollen. Bahramis unbeholfener Kommilitone Madschid Mowahedi, der sie an der Uni ab und zu anrempelt, wohl um sie auf sich aufmerksam zu machen, ist alles andere als ein potentieller Heiratskandidat.

Mit seiner dicken Brille sieht der unscheinbare, magere 19-Jährige aus wie ein Computernerd, er trägt immer das gleiche, abgewetzte T-Shirt, kommt aus einer armen Familie mit sieben Kindern, die ihn dennoch bei seinem Studium unterstützt. Sie kennen sich nicht, doch Mowahedi lässt seiner Mutter ausrichten, dass er Bahrami heiraten wolle. Dann belästigt er sie immer wieder selbst, ruft an, verfolgt sie monatelang durch Teheran. „Heirate mich, oder ich mache dich unglücklich“, droht er ihr, als sie ihn wieder einmal abweist. „Ich werde dich verbrennen.“

Und tatsächlich lauert Mowahedi ihr vor ihrem Arbeitsplatz auf, mit einer Karaffe durchsichtiger, öliger Flüssigkeit, die zumindest ihr Leben zerstören soll, wenn er ihr seinen Willen schon nicht aufzwingen kann. Auf dem Heimweg durch einen Park spürt Bahrami plötzlich jemand hinter sich. Als sie sich umdreht, schleudert Mowahedi ihr Schwefelsäure ins Gesicht. Es brennt wie Feuer als die Säure sich in ihr Gesicht, ihre Augen, die Lippen frisst, ihr Arme, Hände, Dekollete verätzt. Sie schreit, die Säure dringt auch in den Mund, in ihre Luftröhre ein. Sie wird von einer Klinik in die nächste gefahren, die Ärzte wissen nicht, was sie tun sollen – noch auf dem Weg frisst die Säure sich durch ihr rechtes Auge, zerstört die Augenhöhle fast völlig.

Als Ameneh Bahrami sich zum ersten Mal im Spiegel betrachtet, ist ihr Gesicht nur noch ein dunkler Fleck. Die Ärzte nähen auch das linke Auge zu, um es zu schützen, sie sieht nichts mehr, ihr ganzer Körper schmerzt. Nach ein paar Monaten wird Bahrami nach Barcelona geflogen, wo spanische Spezialisten sie immer wieder operieren. Bis zum Wahlsieg Mahmud Ahmadinedschads übernimmt der damalige iranische Präsident Mohamed Khatami ihre Arztkosten, später muss sie sich selbst durchschlagen. Spanien unterstützt sie durch Sozialhilfe, sie ist auf Spenden angewiesen, verdient ein bisschen Geld durch Interviews, spricht ihre Geschichte auf Kassetten, die im vergangenen Jahr als Buch mit dem Titel „Auge um Auge“ vom mvg Verlag herausgegeben wird – es reicht gerade so zum Leben.

„Ich bin hier glücklicher als im Iran, es ist sicherer, ich habe Vertrauen in die Menschen“, sagt Bahrami über ihr Leben in Barcelona, „aber es ist schwierig.“ Anfangs beherrschte sie die Sprache nicht wirklich gut, hat immer Schmerzen, braucht morgens zwei Stunden, um sich anzuziehen und ist auf Hilfe von anderen angewiesen. Anfangs gelingt es den Ärzten, auf dem vorher zugenähten rechten Auge eine Sehkraft von 40 Prozent wiederherzustellen. „Nach sechs Monaten Dunkelheit habe ich wieder Umrisse gesehen wie farbige Schatten, manchmal konnte ich sogar Gesichter und Hände erkennen“, sagt Bahrami. Doch wenige Monate später fließt ihr etwas über die Wange, sie wischt es mit dem Taschentuch weg – es ist ihr letztes Auge, das die Säure langsam zersetzt hat. Bahrami lebt in einem ewigen Zustand der Unsicherheit, denn die Schwefelsäure zerstört ihren Körper noch Jahre nach dem Attentat. „Wenn ich mich schlafen gelegt habe, hatte ich immer Angst, dass die Säure in der Nacht meine Zähne zerfrisst“, sagt sie. Immer wieder muss sie husten, während sie erzählt. Sie bekommt schlecht Luft, auch ihre Luftröhre und die Bronchien sind angegriffen.

All die Jahre hielt sie wohl vor allem der Kampf um Vergeltung aufrecht, er ist wohl auch ein Ausweg aus dem Gefühl der Hilflosigkeit, denn Bahrami will nicht Opfer sein, sie will stark sein – oder zumindest so wirken. Auch wenn sie mit ihrer Schwester Shadi durch die engen Gassen Barcelonas spaziert, hakt sie sich bei ihr unter, wie zwei Freundinnen, die Arm in Arm durch die Gegend schlendern, weil sie es wollen, nicht weil sie müssen. Lange hat sie sich auch geweigert, einen Blindenstock zu benutzen.

In ihrem Buch klingt er ab und zu durch, der Zorn auf Mowahedi, die Hoffnung, dass die paar Tropfen Säure in seine Augen aufwiegen können, was er ihr angetan hat. Das altarabische Stammesrecht, auf das Bahrami setzen kann, sieht entweder Blutrache oder Schmerzensgeld als Ausgleich vor – anders als vor westlichen Gerichten entscheidet das Opfer über die Bestrafung. In Barcelona versichert Bahrami immer wieder, dass es ihr vor allem um etwas anderes als um Rache geht: „Ich möchte die zwei Augen von Madschid, damit Männer danach Angst haben, Frauen zu belästigen“, sagt sie. „Es wird dann nicht mehr passieren – oder zumindest nicht mehr oft.“

Das Gericht spricht ihr erst nur Schmerzensgeld zu, Mowahedi soll dazu zwölf Jahre Gefängnis erhalten – doch Bahrami kämpft weiter, es reicht ihr nicht. Erst erhält sie das Recht auf die Blendung nur eines Auges, weil sie eine Frau ist. Bei dem letzten Urteil im Jahr 2008 wird dann sein zweites Auge gegen ihre Verletzungen in Gesicht, Armen und Händen aufgewogen.

Da das Urteil die iranische Gesellschaft in Befürworter und Kritiker teilt und der Iran sich um sein internationales Image sorgt, bitten neben Menschenrechtsaktivisten auch prominente Iraner wie der Chef der iranischen Justiz, Ayatollah Mahmoud Hashemi Shahroudi, oder die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi Ameneh Bahrami, zugunsten von Schmerzensgeld zu verzichten – um 130 000 Euro geht es am Ende. „Es ist schwierig“, sagt Bahrami, und ihr Mund zuckt dabei. Sie bräuchte das Geld, doch sie will nicht auf Vergeltung verzichten.

Mitleid mit Mowahedi und seiner Familie hat sie nicht. „Die sind mir egal“, sagt sie. Sie glaubt nicht daran, dass die Geldstrafe und eine kurze Gefängnisstrafe Mowahedi zur Räson bringe könnten. „Er ist ungebildet, er versteht gar nichts.“ Eine Spur von Reue zeigt er nicht. Bei den Gerichtsverhandlungen verhöhnt er das Opfer immer wieder, weist die Schuld von sich, hat sich bis heute nicht entschuldigt. Als er zum ersten Mal Bahramis zerstörtes Gesicht sieht, beginnt er zu kichern, im Gefängnis brüstet er sich vor anderen Insassen damit, dass er durch seine Tat ein halbes Jahr in den Schlagzeilen war. Sein Vater sagt zu Bahrami: „Es ist ja nicht Madschids Schuld, dass du ihn nicht heiraten willst.“

Am gestrigen Sonntag, um sechs Uhr morgens in Teheran ist es dann soweit. Ameneh Bahrami wird mit ihrer Familie von Polizisten ins Krankenhaus eskortiert. Als Mowahedi sie sieht weint er, beschimpft sie: „Du fette Kuh, du alte Jungfer. Zwischen dir und mir gibt es keinen Unterschied. Du wirst büßen für das was du tust.“ Doch als Mowahedi betäubt werden soll, stoppt Ameneh plötzlich die Bestrafung – er springt auf, küsst ihre Füße und Hände und bittet sie darum, seine Frau zu werden. Sie lacht und lehnt den Vorschlag nochmals ab: „Ich habe nicht deinetwegen verzichtet, sondern meinetwegen.“

Diese Version der Geschichte hat Ameneh Bahrami zumindest dem mvg Verlag am Telefon erzählt. Sie habe die Vergeltung aus diversen Gründen gestoppt, wird Bahrami zitiert, „wegen Gott, für mein Land und für mich selbst“. Auch habe ihre Familie diese Rache nicht gewollt. Zudem wolle sie nun auch keinen Cent Schmerzensgeld verlangen. Wie es letztlich zu dieser Entscheidung kam, weiß sicher nur Ameneh Bahrami allein. Niemand, sagt sie, habe sie unter Druck gesetzt.

„Ich bin stolz auf meine Tochter“, sagte ihre Mutter, als beide am Sonntag das Gefängniskrankenhaus verließen. „Sie hatte die Größe Madschid zu verzeihen. Dies wird Ameneh und unserer ganzen Familie Frieden schenken.“

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