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Grönland.

© dpa

Schiffsunglück 1963: Untergang im Eismeer

Noch einen Fang wollen die Fischer vor Grönland machen, bevor sie auf Heimatkurs gehen. Da strömt plötzlich Wasser an Bord, das Schiff kentert. Den Seeleuten bleibt nur die Rettungsinsel als Zuflucht. Klaus Gerber war dabei.

Die Bilder sind da. Wie Joachim Geißler, der Funker, Vater von fünf Kindern, in den kalten Nordatlantik stürzt und nicht wieder auftaucht. Wasser dringt durch die Plastikhülle der dünnwandigen Rettungsinsel. Die ist für elf Fischer zur letzten Zuflucht geworden. Einige beginnen damit, in die Ventile zu blasen, die Übrigen schöpfen das Wasser mit ihren Seestiefeln hinaus. Sie versuchen, den Untergang ihres Trawlers „München“ zu überleben, es ist kurz vor acht Uhr am Morgen des 25. Juni 1963, auf 63°, 27’ Nord, 51°, 23’ West, dicht vor der Westküste von Grönland. Die Bilder sind alle noch da, nur die Worte fehlen.

Einer der Fischer aus der Rettungsinsel ist Klaus Gerber. Heute, mit 68, sieht er genau so aus, wie man sich den Kapitän eines Fischdampfers vorstellt: Sein Bart ist ergraut, und die Arme sind mit Tätowierungen verziert wie die Seiten eines Bilderbuchs. Eine Unterhaltung mit Gerber gerät nicht zur Plauderei. Denn der Kapitän spricht in kurzen Hauptsätzen. Manchmal antwortet er nur mit „Jo“, oder er sagt „lange her“. Und über eine Sache will er am liebsten gar nicht sprechen.

Trotzdem sitzt er nun hier, auf der Terrasse einer Landkneipe, weil seine Freunde mithalfen, ihn zu überreden, mehr als zwei Jahre hat das gedauert. Es ist das erste Mal, dass er über das größte Unglück in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Hochseefischerei berichtet.

„Seeleute reden nicht gerne“, sagt er, „und noch weniger reden sie davon, was sie empfinden.“ Ein wenig hört man noch, dass er aus Berlin stammt.

Von der Terrasse kann man Frachter die Elbe Richtung Hamburg hinaufschieben sehen. Gerber wohnt in einem Dorf ganz in der Nähe. Auf dem Tisch vor ihm steht eine Tasse mit schwarzem Kaffee, an dem er häufig nippt, um eine Pause zu bekommen, wenn die Erinnerungen zurückkehren, die Bilder. Von den Stunden in der Rettungsinsel, in denen die Fischer nicht wissen, wohin sie treiben und ob ihre letzte Zuflucht nicht ebenfalls sinken wird. An acht Quadratmetern Plastikplane, groß wie ein Planschbecken, hängen elf Leben.

Die dramatischen Ereignisse des kalten Morgens vor Grönland ziehen seltsam undramatisch vorbei, sagt Gerber, alles laufe ab, als sähe er es durch die Augen eines anderen. Zum Überlegen, zum Fürchten blieb keine Zeit. Angst? Als ein anderer Matrose ihn an jenem Morgen wachrüttelte und rief: „Wir nehmen Wasser!“, habe er sich erst mal einen Kaffee aus der Kombüse geholt. „Kriegen wir schon hin“, dachte Gerber, dachte das auch noch, als sich die „München“ stark auf die Seite legte. Der Trawler galt als modernstes Schiff der Reederei, als Stolz der Flotte, 64 Meter lang, elf Meter breit, ausgerüstet mit Technologie, die sonst nur auf Passagierschiffen zum Einsatz kam. „Ich dachte: Wir können doch gar nicht untergehen, das geht doch gar nicht“, sagt Gerber.

Wenn er erzählt, klingen die schlimmsten Ereignisse seltsam banal, er hat so eine Stimmlage. Als gehörten Tragödien zum Leben dazu, als sei es nur wichtig, selbst stark genug zu sein, das alles auszuhalten. Die Mutter starb bei seiner Geburt, er wuchs bei seiner Tante auf und überlebte einen Bombenangriff auf Berlin, bei dem sie drei Tage lang unter den Trümmern verschüttet waren. Als Jugendlicher lernte er den Beruf des Elektrikers, entschied sich aber anders, als er seine erste Abrechnung mit einem Stundenlohn von 1,71 Mark erhielt. Inspiriert von einem Groschenroman, heuerte er auf einem Trawler an.

Was auf der letzten Reise der „München“ geschieht, beschäftigt Gerber mehr, als er zeigen mag. Vier Wochen sind die Fischer auf See, wollen einen „letzten Hol“ machen, also noch einmal das Netz ausbringen, um die Laderäume mit Kabeljau zu füllen, fünf Tonnen noch, bevor es zurück nach Cuxhaven geht, in den Heimathafen. Das Wetter: nicht gut, nicht schlecht, „Grönlandwetter“, wie Gerber es nennt, also südöstlicher Wind der Stärke sieben und Regenschauer, die von der Hudsonstraße ostwärts ziehen.

Die Besatzung befindet sich in höchster Gefahr. Immer mehr Wasser strömt an Bord, steht schon auf dem Arbeitsdeck, obwohl alle Pumpen mit voller Kraft laufen. Niemand kann sich das erklären. Das Schiff hat keinen Eisberg gerammt. Ist mit nichts anderem kollidiert. Vergeblich versucht der Kapitän, den Wind auszunutzen, um die „München“ wieder aufzurichten, zu stabilisieren. Doch der Trawler reagiert nicht mehr.

Die Fischer bilden eine Eimerkette und pützen das Wasser aus dem Arbeitsdeck ans Oberdeck. Für jeden Eimer Wasser, den sie hinaus schaffen, scheinen fünf neue hereinzuströmen. An Bord gibt es inzwischen den Verdacht, dass das Wasser durch Speigatten an Steuerbord eindringt; durch diese Öffnungen fließt sonst das Wasser ab, das benötigt wird, um den gefangenen Fisch zu verarbeiten. Die Speigatten sind durch Rückschlagklappen gesichert, doch diese sind offenbar defekt. Ein paar Männer tauchen, doch sie kommen nicht gegen die Strömung an. Tonne um Tonne Wasser dringt ein.

Mit mehr als 60 Grad legt sich die „München“ nach Steuerbord. Der Kapitän, er heißt Trodler, ruft über die Sprechfunkkanäle acht und 16 um Hilfe und gibt dem Funker Anweisung, nach anderen Schiffen in der Gegend zu suchen. Etwa 90 Minuten, nachdem einem Offizier auffiel, dass mit der „München“ etwas nicht stimmt, kommt der Befehl, die Rettungsinseln klar zu machen und Schwimmwesten anzulegen. „Ich gehe noch einmal nach unten in meine Kabine, um eine Schachtel Zigaretten und eine Dose Würstchen einzustecken“, erzählt Gerber. Er macht eine Pause. „Schon seltsam.“

Auf der Brücke des Schwesterschiffs „Bremerhaven“ geht zur gleichen Zeit eine Meldung ein, die im Funktagebuch notiert wird: „07.55 Uhr GMT: Auf 3363 kHz Dringlichkeitszeichen an alle. Liegen seit einiger Zeit mit schwerer Schlagseite, machen Wasser, zwei Stunden südlich Südsektor Faeringehavn.“ Minuten später hört man das letzte Signal des Funkers Geißler: „Komme kaum noch an die Geräte heran“, gibt er durch. Alle Trawler und Fabrikschiffe an der Westküste Grönlands, 27 sind es insgesamt, machen sich auf den Weg in den Sektor, außerdem ein Küstenwachboot der dänischen Marine, ein dänischer Frachter und einige grönländische Fischer.

Der Himmel ist grau, der Wind pfeift, und die Wellen schlagen hoch. Aber vor allem ist es kalt, das Wasser nahe am Gefrierpunkt. Da müssen sie nun rein, und alles, was sie haben, ist eine Plastikblase. „Sinkende Särge“ wird die „Hamburger Morgenpost“ die Rettungsinseln später nennen. Die gibt es erst seit ein paar Jahren an Bord. Sie entfalten sich automatisch. Aber die Fischer hatten nie Gelegenheit, den Umgang zu üben. So versuchen die ersten nun schon auf dem Vordeck, in die Rettungsinsel einzusteigen. Sie kippt um, als sie ausgebracht wird, mit einem Matrosen darin. Zwei Männer springen hinterher, um sie wieder aufzurichten, sie zerren an den Gurten, doch sie schaffen es nicht. Vermutlich, weil der Matrose im Inneren bereits tot ist.

In die nächste Insel steigen 13 Männer ein und treiben langsam davon. Gerber zieht seine Seestiefel aus und überlegt: Was soll er tun? „Klaus, spring! Spring! Komm schon, Klaus!“, rufen die Männer in der Insel, doch er zögert. „Ich wage es nicht, warum, kann ich nicht sagen. Mein Unterbewusstsein ist dagegen. Etwas in mir weigert sich, die ,München’ zu verlassen“, erinnert er sich.

Was er nicht ahnen kann: Als die Insel entlang der Bordwand schrammt, reißt der Boden auf. In den nächsten Stunden sitzen die Männer im eiskalten Wasser; nur drei von 13 können einige Stunden später lebend geborgen werden, die anderen erfrieren.

Gerber balanciert auf Strümpfen in Richtung der Brücke und beobachtet ein weiteres Drama: Ein Matrose fällt aus einem Schlauchboot, worauf zwei andere versuchen, ihn an Bord zu ziehen. Sie verlieren das Gleichgewicht, das kleine Boot kentert. Niemand überlebt.

Auf allen vieren krabbelt Gerber über die Außenhülle des Schiffs, das nun vollständig auf der Seite treibt. Außer ihm sind nur noch wenige Männer an Bord, darunter Kapitän Trodler und zwei Offiziere. Auf Höhe der Brücke gibt es noch eine einzige, die letzte Rettungsinsel. Für zehn Schiffbrüchige ist sie konzipiert worden. Elf Männer steigen ein. Eine große Welle trägt sie fort. Sie sind schon ein Stück weit entfernt, als Funker Geißler als Letzter ins Freie stürzt, mit einer Rettungsweste in der Hand. Er hat keine Zeit, sie anzulegen, rutscht ab und stürzt ins Wasser. Hektisch versuchen die Schiffbrüchigen, ihm zu Hilfe zu paddeln, doch die Rettungsinsel dreht sich nur im Kreis und bewegt sich keinen Meter vorwärts. Geißlers Leiche wird nicht gefunden. Zehn Tage später wird sein jüngster Sohn zur Welt kommen.

Niemand spricht. Um kurz nach neun versinkt die „München“ mit einem zischenden Geräusch im Meer. „Ein beklemmendes Gefühl“, sagt Gerber, „das ist, als ob das eigene Wohnzimmer untergeht.“

Unaufhörlich pusten die Fischer in die Ventile und schütten Wasser außenbords. Der Steuermann versucht, sich eine Zigarette anzustecken, was nicht gelingt, weil die Zündhölzer feucht geworden sind. Der Wind von Westen weht immer stärker und treibt die Rettungsinsel mit der Strömung auf eine Klippenlandschaft zu. Für die Schiffbrüchigen ein schwacher Trost: Von den Felsen wird man sie nicht bergen können. „Wir machen uns gegenseitig Mut. ‚Kann nicht mehr lange dauern, bis ein anderer Trawler eintrifft’, sagt jemand“, erinnert sich Gerber. Die Frage ist: Wie lange wird es dauern?

Die Zeit scheint stillzustehen, dabei läuft sie ihnen davon. Wasser leitet Kälte 25-mal besser als Luft. Beträgt die Wassertemperatur weniger als fünf Grad, bleiben einem Schiffbrüchigen, der ins kalte Meer gefallen ist, höchstens 30 Minuten zum Überleben, sofern sein Organismus den ersten Schock übersteht. Der Puls verlangsamt sich, die Atmung wird flach, der Erfrierende fühlt sich schläfrig und verwirrt. Unter 30 Grad Körpertemperatur, setzt der Herzschlag aus. Wie lange wird es dauern, bis bei ihnen auf der Rettungsinsel der Erste erfriert?

Dann ein Schrei: „Ein Schiff! Da kommt ein Schiff!“ Es ist die „Augsburg“, ein Trawler, der sie findet – und aufnimmt. Vorsichtig klettern die Schiffbrüchigen nacheinander die Strickleiter hinauf. Jede Sprosse fällt ihnen schwer, denn ihre Körper sind unterkühlt. Als man die Insel an Deck hievt, fällt sie in sich zusammen. In der Außenhülle klafft ein zehn Zentimeter langer Riss. Nur eine zweite Innenhülle verhinderte das Schlimmste.

Matrosen verteilen trockene Kleidung und warme Decken. 15 Fischer haben die Katastrophe überlebt, die meisten sitzen in der Mannschaftsmesse, rauchen, starren ins Leere. „Man kann zunächst nicht begreifen, was geschehen ist, die Erkenntnis trifft einen einige Stunden oder Tage später“, sagt Gerber.

Er kommt wieder zu sich, als er in der Turnhalle von Faeringehavn die aufgebahrten Toten identifizieren soll. 27 Seeleute sind gestorben. Drei bleiben verschwunden. Die Männer tragen Kleidung, nur die Schuhe fehlen, es sieht aus, als ob sie schliefen. Gelbe Zettel an den Zehen, längliche, gelbe Zettel, auf die man ihre Namen schreibt.

Zwölf Wochen Sonderurlaub gewährt die Reederei den Geretteten. Eine Untersuchung des Hamburger Seeamtes stellt fest, dass Kapitän und Offiziere der „München“ keinerlei Schuld trifft. Im „Spiegel“ wird die Umrüstung auf automatische Rettungsinseln diskutiert. Drei Fischer geben ihren Beruf auf. Gerber will wieder zurück auf See, so schnell wie möglich, weil es ihm hilft, mit den Ereignissen fertig zu werden. Die nächste Fangreise geht wieder nach Grönland. Vor Kap Farewell gerät der Trawler in einen schweren Sturm. Ein Brecher reißt den Deckel eines Lagerraums weg. Wasser dringt ein, viel Wasser. Gerber gehört zu den Freiwilligen, die an Deck gehen, um ein Ochsenfell als Ersatz für den Deckel zu spannen.

„Bitte nicht schon wieder“, denkt er, als die Stahltür aufschwingt und er hinaus in den Sturm tritt.

Stefan Krücken[Wilhelmshaven]

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