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Panorama: Schlimmer als Columbine

Der Amoklauf in der Technischen Universität von Virginia ist der folgenschwerste in der Geschichte der Vereinigten Staaten

Zuerst dachte sie, der Sturm, der die Schneeflocken auf dem Campus vor sich her trieb, hätte sie geweckt. Doch dann hörte die Studentin der Technischen Universität von Virginia in Blacksburg – das liegt knapp 500 Kilometer südwestlich der US-Hauptstadt Washington – etwas, das sich wie Schüsse anhörte. Ein Blick auf ihre E-Mail bestätigte ihre Befürchtungen: Die Universitätsleitung drängte alle Studenten, sich in ihren Räumen zu verbarrikadieren und von den Fenstern fern zu bleiben. So erinnerte sich Madison Van Duyne später in einem Gespräch mit dem Nachrichtensender CNN an die Ereignisse, die als der blutigste Amoklauf in der Geschichte der USA eingehen werden. Bis zum Mittag hatten die US-Medien noch von einem Toten berichtet, dann sprach Polizeichef Wendell Flinchum plötzlich von „mindestens 20 Toten“ und ebenso vielen verletzten. Später schnellten die Zahlen weiter nach oben, am späten Nachmittag meldeten die Fox-News mindestens 32 Tote, darunter auch der Täter. Universitätspräsident Charles Steger gab dann selbst am Abend die Zahl von insgesamt 33 Toten bekannt. Die Hochschule sei „schockiert und wirklich entsetzt“.

Nach ersten Angaben entwickelte sich das blutige Drama am frühen Morgen. Kurz nach 7 Uhr empfing demnach die Polizei einen Notruf, wonach jemand in die Schlafräume der Studenten eingedrungen sei und einen Studenten erschossen habe. Zwei Stunden später wurde vom anderen Ende des weitläufigen Campus, der Platz für 25 000 Lernende bietet, eine zweite Schießerei gemeldet. Dieses Mal habe der Angreifer auf Studenten und Lehrer in ihren Klassenräumen geschossen.

Die US-Fernsehkanäle, die sich sofort live zuschalteten, zeigten Bilder von schwer bewaffneten Spezialeinheiten der Polizei, die auf den Campus stürmten. In den Nebenstraßen reihten sich mehrere Dutzend Krankenwagen auf, die nach und nach mit Blaulicht die Szenerie verließen. CNN präsentierte ein mit einem Mobiltelefon aufgenommenen Kurzfilm eines Augenzeugen, in dem Polizisten vorsichtig zum vermutlichen Ort des Täters vorrücken. Es fallen mindestens 30 Schüsse. Sie klingen wie kurze, scharfe Peitschenhiebe. Auf seiner Pressekonferenz gab Polizeichef Flinchum bekannt, der Amokläufer sei tot. Er verteidigte, nach der ersten Schießerei am Morgen den Campus nicht sofort abgesperrt zu haben: „Wir haben nach den Informationen gehandelt, die uns zu dem Zeitpunkt vorlagen. Wir hatten Anlass zu der Vermutung, dass der Schütze den Campus oder vielleicht sogar den Bundesstaat verlassen hatte.

Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelt. Das Fernsehen zeigte zudem Bilder von einem am Boden liegenden Mann, den die Polizei in Handschellen abführte. Um wen es sich dabei handelt und was er mit dem Amoklauf zu tun hat, war offen. Die Uni hatte Anfang April zwei anonyme Bombendrohungen erhalten und war evakuiert worden. Die Polizei stufte sie später als üble Scherze ein. Außerdem war der Campus vor einiger Zeit geschlossen worden, nachdem aus einer nahen Haftanstalt ein Gefangener entkommen war und auf seiner Flucht zwei Sicherheitsbeamte erschossen hatte. Der Mann wurde später in einem Wald nahe der Uni festgenommen. Bislang galt ein Ereignis aus dem Jahre 1966 als der blutigste Amoklauf in der Geschichte der USA. Damals hatte sich Charles Whitman auf einem Turm auf dem Campus der Universität in Austin in Texas verbarrikadiert, tötete 15 Menschen und verletzte 31 weitere, ehe ihn die Polizei erschoss. Schockwellen sendete aber vor allem das Schul-Massaker an der Columbine Highschool in Littleton, Colorado, durch die USA. Am 20. April 1999 erschossen zwei Teenager zwölf ihrer Mitschüler und einen Lehrer, ehe sie sich selbst das Leben nahmen. Danach brandete eine heftige Diskussion über die lockeren Waffengesetze in den USA auf. Trotzdem verpasste es der Kongress 2004, das von Präsident Bill Clinton zehn Jahre zuvor unterzeichnete Gesetz gegen semi-automatische Waffen zu verlängern. Die einflussreiche Waffenlobby war gegen die Regelung Sturm gelaufen. In vielen US-Bundesstaaten kann man bis heute gegen Vorlage eines gültigen Führerscheins Pistolen, Revolver und Gewehre sowie die dazugehörige Munition in Supermärkten, Waffengeschäften und auf Waffenshows kaufen. Nach dem Massaker gestern bekräftigte eine Sprecherin des US-Präsidenten Bushs Haltung, „dass Menschen ein Recht haben, Waffen zu tragen“.

Nach der Columbine-Tragödie änderte die Polizei ihre Taktik in solchen Notfällen. Statt wie bislang das fragliche Gebäude zu umzingeln und auf die Aufgabe der Täter zu hoffen, versuchen die Spezialeinheiten, so schnell wie möglich vorzudringen und die Schützen zu eliminieren. Während viele Schulen und Unis ihre Sicherheitsvorkehrungen nach Columbine drastisch verschärften und ihre Schüler und Studenten zum Teil durch Metalldetektoren schleusen, ehe sie auf das Gelände dürfen, bleibt eine bewaffnete Campus-Polizei die Ausnahme.

Auch an der Virginia Tech University waren sie bislang unbewaffnet. Nach den ersten Meldungen über einen Amokschützen hatte die Universitätsleitung alle Angestellten und Studenten zunächst angewiesen, sich nicht vom Fleck zu rühren. In E-Mails und mit Lautsprecherdurchsagen versuchte sie, das Ausbrechen eines Chaos zu verhindern. David Harris erreichte die Nachricht gegen 9 Uhr 30 per E-Mail an seinem Arbeitsplatz im Center for Applied Behavorial Systems. „Es war ziemlich nervenaufreibend“, sagte er später CNN, „es gab Gerüchte, wonach der Täter aus dem Fenster gesprungen sei und sich den Nacken gebrochen habe. Dann kam eine zweite Nachricht, dass der Schütze noch vermisst werde.“ Erst nachdem die Polizei die Lage unter Kontrolle gebracht hatte, war es ihnen erlaubt, ihre Räume nach und nach zu verlassen.

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