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Panorama: Schluss mit dem Theater

Ein Schauspieler hat den „FAZ“-Kritiker angegriffen – was alles bei der Premiere in Frankfurt geschah

Es möchte gern ein bisschen wehtun, das Theater von Sebastian Hartmann. Denn wir, das Publikum, sind ja so furchtbar abgestumpft von den Fernsehnachrichten, ob’s jetzt um Abu Ghraib, Melilla oder die Vogelgrippe geht, da muss das Theater als Überbietung her und einen draufsetzen, und wir, die wir nichts mehr davon hören wollen, müssen eben fühlen. Ein bisschen Frust, weil die Schauspieler nicht pünktlich mit dem Spielen anfangen – was sie uns netterweise auch sagen –, ein bisschen Ekel, weil auf der Bühne rumonaniert und in eine Flasche uriniert wird, ein bisschen Ziehen im Kreuz, weil wir aufgefordert worden sind, unsere Plätze zu verlassen und uns anderswo die Beine in den Bauch zu stehen, während ein Schauspieler so tut, als ob es doch um ein Stück von Ionesco ginge.

„Das Grosse Massakerspiel oder Triumph des Todes“ heißt es, handelt vom Zusammenbruch einer Zivilisation unter dem Druck einer namenlosen Seuche und wäre heute vielleicht aktueller als 1970, als es entstand.

Beurteilen kann man das an diesem Abend nicht. Das Ganze ist so kindergartenmäßig und auf den Hund gekommene Avantgarde, dass es ganz traurig macht. Ach Kinder, möchte man sagen, lasst gut sein, das kennen wir schon, Tabus, die hunderttausendmal gebrochen worden sind, sind keine mehr, ihr macht euch nur lächerlich.

Eine halbe Stunde ungefähr ist der Abend auf dem Holzweg der Publikumsunterforderung unterwegs, da fällt dem Schauspieler Thomas Lawinky etwas ein, was in der Inszenierung nicht vorgesehen ist und vielleicht doch noch wehtut. Dieser Kritiker, der da vorhin nicht mittun wollte beim interaktiven Ortswechsel –, traut der sich doch tatsächlich zu grinsen darüber, wie er, Lawinky, und seine Kollegen sich abstrampeln. Das muss aufhören.

Es ist der Augenblick, in dem der schwangere Bauch der Schauspielerin Anita Iselin aufgeschlitzt wird und unten ein toter Schwan rausfällt. Den bekommt der Kritiker jetzt aufgedrängt: „Schreiben Sie, was für ein schönes Kind das ist!“ Und: „Sie sind wohl zu intelligent!“ Auf die für den Rest im Saal unhörbare Replik hin wird dem Kritiker sein Schreibblock entrissen, Lawinky will die daraufstehenden Notizen vorlesen, kann es nicht, gibt den Block zurück. Kurz darauf verlässt der Kritiker den Saal, Lawinky rennt ihm nach, beschimpft ihn: „Hau doch ab, du Arsch.“ Und tatsächlich – es funktioniert. Es hat nichts mehr mit Theater zu tun, es tut wirklich weh. Eigentlich unbegreiflich, dass sich die anderen Kritiker im Saal nicht mitgetroffen fühlen und dem Angegriffenen auf dem Fuß folgen. Selbst wenn sie die gefürchteten Polemiken des Kollegen – es handelt sich um den „FAZ“-Kritiker Gerhard Stadelmaier – nicht schätzen mögen: Das geht alle an.

Hier ist eine Grenze überschritten worden, die nicht nur den einzelnen Kritiker schützen sollte und auch nicht nur die Kritik oder die Pressefreiheit im Allgemeinen. Betroffen ist das ganze Gefüge, in dem Theater stattfindet. Wenn die Kunst mit dem Leben nicht mehr symbolischen Umgang pflegt, sondern wie das Leben selbst sein will, liegt die Barbarei nie fern.

Die Intendantin von Schauspiel Frankfurt, Elisabeth Schweeger, die sonst in der Öffentlichkeit pflichtgemäß bedingungslos hinter ihren Künstlern steht, hat die Konsequenz gezogen und den unglückseligen Amokläufer mit sofortiger Wirkung aus seinem Vertrag entlassen.

Ruth Fühner[Frankfurt, Main]

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