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Gott sei Dank für jeden Toten – mit solchen Parolen provoziert die Sekte. Die obersten Richter meinen: Das darf sie. Foto: N. Kamm/AFP

© AFP

Sekte in den USA: Demonstrieren für mehr tote Soldaten

Eine amerikanische Sekte darf Begräbnisse von gefallenen Soldaten mit hasserfüllten Demonstrationen stören. Angehörige sind entsetzt.

Dieses Urteil rüttelt an den Grundfesten des amerikanischen Selbstverständnisses. Was steht höher: Das Recht jeder Familie, ihre Verstorbenen in Ruhe und Würde zu begraben? Oder das Recht auf freie Rede? Die Verfassungsrichter haben mit der überwältigenden Mehrheit von acht zu eins Stimmen entschieden: Das Recht auf freie Rede hat den Vorrang, selbst wenn es dazu missbraucht wird, Hass zu säen und anderen Schmerz zuzufügen. Eine nahezu einmütige Haltung der neun obersten Richter ist selten geworden. Doch in dieser Frage stimmten der liberale und der konservative Flügel überein: „Als Nation haben wir uns dafür entschieden, dass die öffentliche Rede, selbst wenn sie verletzend ist, geschützt werden muss, um zu garantieren, dass wir die öffentliche Debatte nicht ersticken“, schreibt der Vorsitzende John Roberts, ernannt 2005 unter George W. Bush, in der Begründung.

Den Anlass gab eine kleine Sekte, die Westboro Baptist Church aus Kansas, wo die Bibeltreue besonders hoch ist. Seit anderthalb Jahrzehnten stört sie Begräbnisse mit Demonstrationen, Sprechchören und Plakaten, die für die Angehörigen wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Anfangs richtete sich der Protest gegen Homosexuelle. 1998 war, zum Beispiel, der bekennende Schwule Matthew Shepard in Wyoming so schwer zusammengeschlagen worden, dass er starb. Beim Prozess gegen die Täter und bei Shepards Beerdigung demonstrierte Fred Phelps, der Gründer der Sekte, mit wenigen Getreuen. „Gott hasst Homos“, riefen sie. Über Aids-Opfer sagten sie, die habe doch nur die gerechte Strafe Gottes für ihre Sünden getroffen.

Bald verlegte sich der Protest zu Beerdigungen gefallener Soldaten. Damit bekam die Auseinandersetzung eine neue Qualität. Wer neu in die USA kommt, lernt schnell: Der Kult um die Ehrung Gefallener wird mindestens so wichtig genommen wie die Grundrechte der Verfassung. Schließlich haben sie für Amerika und seine Werteordnung ihr Leben gegeben. Doch Phelps und seine Anhänger forderten in Anwesenheit der trauernden Angehörigen: „Betet für mehr tote Soldaten!“ Auf anderen Plakaten stand: „Gott sei Dank für jedes I.E.D.“ Das ist die Abkürzung für selbstgebastelte Bomben, die Aufständische im Irak und in Afghanistan am Straßenrand vergraben, um US-Soldaten zu töten. Mehr als 600 Beerdigungen hat die Sekte in den letzten Jahren gestört. 43 der 50 US-Bundesstaaten erließen Gesetze, die einen Mindestabstand zwischen einem Begräbnisort und einer Gegendemonstration vorschreiben, in der Regel wenige hundert Meter.

Die jüngste Provokation erlaubte sich die Sekte nach der Schießerei in Tucson im Januar, bei der die Abgeordnete Gabby Giffords schwer verletzt wurde und sechs Menschen starben, darunter die neunjährige Christina Taylor Green. Auch bei ihrer Beerdigung wollten die Phelps-Anhänger protestieren – mit dem Spruch: „Besser für Christina, dass sie tot ist“. Amerika sei wegen seiner Sünden dem Untergang geweiht. Arizona erließ ein Eilgesetz, das Demonstrationen im Umkreis von 300 Metern verbot.

Albert Snyder, dem Vater eines 20-Jährigen, der 2006 im Irak fiel, genügten die Mindestabstände nicht. Er klagte gegen Phelps und seine Sekte und verlangte Entschädigung für die Schmerzen, die sie ihm durch die unwürdige Störung der Beerdigung seines Sohnes zugefügt haben. Die erste Instanz gab ihm Recht. Die Sekte gewann jedoch den Berufungsprozess. Vor den Gerichtsgebäuden standen mehr als tausend Snyder-Sympathisanten einer Handvoll Sekten-Anhängern gegenüber. Das Verfassungsgericht entschied für die Redefreiheit. Nur Samuel Alito, auch er von Bush ernannt, sprach dagegen: Die Redefreiheit sei „keine Lizenz für vergiftende verbale Attacken“.

Im Internet kursieren nun Ratschläge, wie die Zivilgesellschaft sich ohne richterliche Hilfe gegen die Sekte wehren kann. Romaine Patterson, eine enge Freundin des 1998 in Wyoming erschlagenen Schwulen Matthew Shepard, gab das Vorbild. Sie bastelte für sich und ihre Mitstreiterinnen weiße Engelskostüme mit hohen Flügeln. In dieser Verkleidung umstellten sie die Protestierer von der Sekte. So konnte niemand ihre hasserfüllten Plakate lesen.

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