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Bridgend

© dpa

Selbstmordserie: Werther in Wales

Zahlreiche Jugendliche aus der Gegend rund um die Stadt Bridgend im Süden von Wales haben sich in den vergangenen Monaten umgebracht. Vieles deutet auf Nachahmereffekte hin.

Von Markus Hesselmann

Was in Wales geschieht, interessiert die übrigen Einwohner des Vereinigten Königreiches nur selten. Zurzeit aber beschäftigten sich die Briten regelmäßig mit Nachrichten aus dem westlichen Winkel ihrer Insel – mit zutiefst beunruhigenden Nachrichten. Innerhalb eines Jahres haben sich in der Region um den Ort Bridgend 17 junge Menschen das Leben genommen. Theorien über einen „Todespakt“ oder „Jenseitskult“ mit Verabredungen zum Selbstmord im Internet machen die Runde.

Die Polizei widerspricht den Mutmaßungen der britischen Medien. Eine schlüssige Erklärung für die ungewöhnliche Häufung von Suizidfällen in der südwalisischen Region, die auf halber Strecke zwischen Cardiff und Swansea liegt, haben aber auch die Ermittler bislang nicht anzubieten. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die vielen Medienberichte über die Todesfälle zu weiteren Selbstmorden führen. Das Phänomen der Nachahmertaten wird mit Bezug auf den Goethe-Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ auch als „Werther-Effekt“ bezeichnet.

Die britischen Medien verweisen in ihren Berichten darauf, dass 17 Selbstmorde junger Menschen in einem Gebiet mit weniger als 200 000 Einwohnern innerhalb von etwas mehr als einem Jahr doch sehr rätselhaft und kaum mit Zufällen zu erklären seien. Zudem hätten sich mehrere der Suizidopfer aus Bridgend gekannt und im Internet miteinander kommuniziert.

Doch auch das sei längst kein Beweis für einen Suizidpakt oder Freitodkult, hieß es bei der Polizei. So sei der Selbstmord einer 16-Jährigen, die sich in der vergangenen Woche in einem Waldstück erhängte, höchstwahrscheinlich auf die Trennung von ihrem Freund zurückzuführen, erklärten die Ermittler. Die Jugendliche sei suizidgefährdet gewesen und habe bereits einige Male versucht, sich umzubringen. „Sie hat das Ende ihrer Beziehung nicht verwunden, um die sie gekämpft hatte“, hieß es.

Enttäuschte Liebe sei auch in anderen der aktuellen Fälle als Motiv anzunehmen: Vor dem 16-jährigen Mädchen hatten sich in der Woche zuvor ein 15-jähriger Junge und seine 20-jährige Cousine nacheinander das Leben genommen.

Angehörige der toten Jugendlichen machen die Medien für die Serie von Selbsttötungen mitverantwortlich. Es sei ein großer Fehler, die Suizidopfer „auf ein Podest“ zu stellen, sagte einer der betroffenen Väter dem Rundfunksender BBC: „Es ermuntert andere Jugendliche, dasselbe zu tun.“

Auf einer Pressekonferenz sagte eine der betroffenen Mütter, die Berichterstattung hätte ihren Sohn auf die Selbstmordidee gebracht. Wissenschaftliche Untersuchungen stützen die Sicht der Eltern. Keith Hawton vom Institut für Suizidforschung an der Universität Oxford hat weltweit Studien zu dem Thema ausgewertet. „Medienberichte über Selbstmorde können demnach die Häufigkeit von Selbstmorden erhöhen“, sagte Hawton. Das beziehe sich sowohl auf die Gesamtzahl der Fälle als auch auf die Häufigkeit bestimmter Suizidmethoden. In Bridgend haben sich auffällig viele junge Menschen erhängt, eine vor allem für Mädchen und junge Frauen ungewöhnliche Art sich umzubringen.

In britischen Medien wird die Berichterstattung über Suizide deshalb inzwischen selbstkritisch diskutiert. In seiner Kolumne für das Polit-Magazin „New Statesman“ spricht sich der Medienforscher und frühere Journalist Brian Cathcart allerdings gegen einen Bann über Selbstmordberichte aus. Ohnehin bestünde der Konsens, über Einzelfälle nicht zu berichten. „Schon das hat den beunruhigenden Unterton, als habe unsere Gesellschaft etwas zu verbergen“, schreibt Cathcart. Die Berichterstattung über Selbstmorde sei auch deshalb wichtig, weil die Behörden Fehler in der Einschätzung von Todesursachen machen könnten.

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