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© dpa

Sexuelle Langeweile: Ohne Tabu ist Sex tabu

Die Allgegenwart von Sex hat dazu geführt, dass immer mehr junge Menschen immer weniger triebhaft sind und dementsprechend seltener Geschlechtsverkehr haben. Der vermeintliche Grund: Was nicht tabubehaftet ist, ist auch nicht reizvoll. Ist die "Kultur der Lüste" in Gefahr?

Was mit Tabus belegt ist, reizt am meisten. Nirgends wird das so offenkundig wie beim sexuellen Verhalten. Die kontinuierliche Enttabuisierung von Sex seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, seine Allgegenwart in der Öffentlichkeit, in der Werbung, im Fernsehen, in der Presse und in der Literatur, hat nicht etwa dazu geführt, dass mehr Sex praktiziert wird, sondern dazu, dass den Menschen die Lust darauf offensichtlich mehr und mehr vergeht.

Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung "Gehirn & Geist" (Heidelberg) verzeichnet Expertenbefunde, wonach die sexuelle Aktivität der Deutschen seit den 1980er und 1990er Jahren stetig abnimmt. Eine Studie der Universität Göttingen, für die 13.483 Männer und Frauen in festen Beziehungen befragt wurden, ergab, dass 17 Prozent während des Untersuchungszeitraums von vier Wochen überhaupt keinen Geschlechtsverkehr hatten. 57 Prozent, also die Mehrheit der Paare, gab an, im fraglichen Monat einmal mit dem Partner verkehrt zu haben. Nur rund jeder Vierte tat dies regelmäßig ein- bis zweimal pro Woche, hält der Bericht fest, über den es auf der Titelseite heißt "Keine Lust auf Sex? Warum die Liebe Tabus braucht".

Sexfaule Singles

Singles haben noch seltener Sex. Eine Untersuchung des Sexualwissenschaftlers Gunter Schmidt an knapp 800 Hamburgern und Leipzigern ergab, dass 60 Jahre alte Partner im Durchschnitt sexuell aktiver sind als 30 Jahre alte Singles.

Der Forscher Peter Fiedler, der klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg lehrt, schreibt dazu in "Gehirn & Geist": "In dem Maß, wie die traditionelle Sexualmoral mit ihren Verboten, Sanktionen und Schuldgefühlen verschwand, machte sich scheinbar Langeweile breit. Offensichtlich besaßen gerade die unerfüllten, oft verbotenen oder tabuisierten sexuellen Wünsche und Bedürfnisse eine große Triebkraft."

Ein wichtiges Element der Begierde geht verloren

Die früher nur heimlich mögliche Sexualität hat nach Fiedlers Deutung erheblich zur wechselseitigen Anziehung der Geschlechter beigetragen und war auch ein Kernelement jeder guten schöngeistigen Literatur, Operette oder Oper. Es sehe fast so aus, als seien gerade Tabus eine notwendige Voraussetzung für eine "Kultur der Lüste". Heute hingegen scheine in Sachen Sex fast alles möglich. "Die öffentlichen, teils banalen Dauerdarstellungen von und über Sexualität in den Medien tragen ihr Übriges dazu bei, dass ein wichtiges Element sexueller Lust und Begierde verloren geht."

Das Editorial des Magazins veranschaulicht das unter der Überschrift "Überall Sex - Sex über alles" mit alltäglichen morgendlichen Eindrücken in der Rush-Hour: "Hinter den plumpen Domina-Plakaten einer regionalen Erotikmesse grüßt von einer Hauswand eine überdimensionale Bierflasche, an deren Kurven sich ein Nacktmodel lasziv schmiegt. An der Bushaltestelle prangt in fetten Lettern der Slogan einer Boulevardzeitung: "Nein, ich bin nicht gekommen". Untertitel: "Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht." Soso..."

Last statt Lust

Im Zuge der sexuellen Liberalisierung scheinen zwar früher typische Probleme psychischer Verdrängung weniger geworden zu sein, auch neurotische Phänomene infolge von Konflikten zwischen Verbotseinhaltung und sexuellem Trieb. Doch Psychotherapeuten stellen fest, dass Probleme mit der Sexualität weiterhin ein Konfliktthema sind, das ratsuchende Menschen belastet. Zwar sind viele äußere Zwänge mittlerweile verschwunden, doch gilt das keineswegs für die inneren Zwänge, die Menschen im Privaten aufbauen.

Schon vor der Jahrhundertwende waren negative Auswirkungen der Allgegenwart des Themas Sex in der Öffentlichkeit deutlich absehbar. So heißt es zum Beispiel in einem Buch des Soziologie-Professors Reimer Gronemeyer (Gießen) mit dem Titel "Die neue Lust an der Askese" (Berlin 1998) im Kapitel über den öffentlichen Sex: "In der Treibhausschwüle des sexualisierten Alltags scheint die erotische Phantasie nicht mehr Tat werden zu können. Der öffentliche Sex tötet den privaten Eros". Die starken Gefühle stürben und die leidenschaftlichen Sehnsüchte verdämmerten, heißt es da auch. Man wolle nur noch wissen: Wer schlief mit wem.

Rudolf Grimm[dpa]

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