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Tänzer auf dem Seil. Freddy Nock, Spross einer alten Zirkusdynastie. Foto: dpa

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Panorama: Sieben Rekorde in sieben Tagen

Freddy Nock hat Deutschlands höchsten Berg auf dem Trägerseil der Zugspitzbahn erklommen – das reicht ihm aber nicht

Die Zugspitze ragt an diesem Nachmittag im August in einen grellblauen Himmel, die Sonne scheint auf ein paar Wanderer, die sich Deutschlands höchsten Berg hinaufmühen, auf 2962 Meter. Sie folgen einem Pfad durch Erde und Geröll, den tausende, die vor ihnen kamen, in den Berg getrampelt haben. Freddy Nock dagegen wagt den Aufstieg auf die Zugspitze auf einem Weg, den vor ihm noch niemand beschritten hat – 150 Meter über den Köpfen der Wanderer balanciert der Schweizer Hochseilartist in schwindelerregender Höhe über ein Tragseil der Gletscherbahn, deren Stahlseile wie Geraden durch den Himmel ins Tal schneiden. Ganz in Weiß gekleidet balanciert der 46-Jährige konzentriert Schritt für Schritt freihändig Richtung Gipfel, ohne Sicherung, ohne Balancierstange. Nur mit seinem Körper hält er die Balance. Er breitet manchmal die Arme aus, um sich abzufangen, dann wieder schwebt ein Bein über dem Abgrund, einmal fällt er fast, stützt sich dann mit den Händen auf das Seil. Es ist ein waghalsiger Akt, 995 Meter auf die Zugspitze legt Nock so zurück, Schritt für Schritt, ohne eine einzige Pause. 80 Minuten später hat Freddy Nock den längsten und höchstgelegenen Seillauf hinter sich, es ist sein siebter Weltrekord.

Man könnte das, was Freddy Nock tut, Wahnsinn nennen – Nock selbst hält sich allerdings nicht für einen Spinner. Er wisse, was er riskieren könne, sagt er.

Wie fühlt man sich also, vor solch einem Rekordversuch, bei dem jeder falsche Schritt eine Todesgefahr ist? Als Freddy Nock um zehn Uhr morgens, ein paar Stunden vor dem Seillauf, in den Panoramasaal der Bergstation auf der Zugspitze stürmt, wirkt er adrenalingeladen, aufgeputscht. Er sagt, er sei ganz normal, entspannt – höchstens ein bisschen schneller gereizt, vielleicht ein bisschen aggressiver. Ein paar Restzweifel hat er doch: „Das wird happig ohne Stange“, sagt er. „Ich hoffe, dass es windstill bleibt.“ Die Zugspitze ist eine besondere Herausforderung. Nock muss steile Stellen überwinden, der Wind lässt das Seil gefährlich schwingen. „Auf einer Schwierigkeitsskala von eins bis zehn liegt dieser Lauf bei 100“, sagt Nock.

Freddy Nock reizt es, bis ans Limit zu gehen, auszuprobieren, was möglich ist. Sechs Weltrekorde hat er vor dem Lauf bereits hinter sich, Balanceakte über Seilbahnen oder den Zürichsee. Mit dem Lauf über das Gletscherbahnseil hat er sich diesmal selbst herausgefordert: Vor drei Jahren lief Nock bereits über das Drahtseil, damals allerdings mit einer Balancierstange. Beim ersten Versuch verhüllte Nebel das Bergmassiv, Nock konnte nur wenige Meter geradeaus sehen, es regnete, das Seil war nass, rutschig, stellenweise vereist – Nock gab nach 225 Metern auf, kletterte in die Bahn, einen Tag später gelang ihm der Balanceakt dann doch. Angst habe er nicht, nur Respekt. „Sonst könnte ich das nicht machen.“ Vielleicht werden Zweifel aber auch einfach verdrängt, positives Denken als Erfolgsstrategie. „Ich denke nicht über einen Absturz nach“, sagt Nock.

Wenn man Freddy Nock fragt, wie er sich auf den Lauf vorbereitet hat, sagt er: mein ganzes Leben. Der Schweizer ist Sprössling einer berühmten Zirkusdynastie, mit vier Jahren stand er zum ersten Mal auf dem Seil, damals nur ein paar Meter hoch, mit elf Jahren entdeckte er seine Leidenschaft für den Hochseillauf, räumte bald artistische Nachwuchspreise ab. „Das Seillaufen habe ich im Blut“, sagt Nock. Auch seine Mutter, eine Trapezkünstlerin, sei „ein Höhenfreak“ gewesen. Doch in der Kuppel einer Zirkusmanage zu laufen, war Freddy Nock irgendwann nicht mehr genug. Ihn faszinieren Wege, die noch niemand beschritten hat. Eine Faszination für Seile, die auf Berge führen, entwickelte Nock schon als kleiner Junge: Als sein Zirkus in St. Moritz gastierte, sah er die Pendelbahn, wollte den Lauf auf dem Drahtseil wagen. Doch selbst die Zirkuseltern rieten ab, das Seil wackle zu stark. Nock dachte sich damals: „Warum eigentlich nicht?“

Heute also ist das imposante Bergmassiv der Zugspitze seine Manege. Die Zirkusgrundregel ändert das nicht: Kunst braucht Publikum. Als Freddy Nock seinen Weltrekord wagt, wirken die 1500 Zuschauer des Spektakels aufgeregter als Freddy Nock, er ist hochkonzentriert, sieht starr nach vorne – bis er im Ziel eintrifft. Dann ist es plötzlich vorbei, die Anspannung fällt von ihm ab, auf den letzten Metern stellt er sich wie ein Surfer auf das Seil, winkt dem Publikum, lacht, reckt die Faust in den Himmel, die Zuschauer jubeln. Es sind überwältigende Glücksmomente – aber sein ganzer Körper schmerzt. Als er nach 80 Minuten, gegen 17 Uhr 30, vom Seil steigt, lässt er sich auf den Gitterboden der Bahnstation fallen, krümmt sich zusammen, seine Arme schmerzen, die Beine, die Finger zittern noch. „Ein bisschen Schmerz gehört dazu“, wird er später sagen, er zieht sich erst mal die Schuhe aus. Langsam fällt die Anspannung von ihm ab: „Ich bin froh, dass ich angekommen bin“, sagt er. Und doch denkt er bereits an die nächsten Rekorde: Denn der Lauf über die Zugspitzbahn war der Auftakt zu einer Rekordserie, sieben Rekorde in sieben Tagen will Nock im August bestritten haben – darunter den steilsten Seillauf, den längsten Seillauf mit einem Fahrrad, den längsten und höchstgelegenen Seillauf talabwärts sowie auch die längste Wasserüberquerung auf einem Seil. Nock ist aber schon jetzt erleichtert: „Den schwersten Lauf habe ich als erstes hinter mich gebracht.“

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