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Kindesmissbrauch: "Solidarität der Kinderschänder" erschüttert Türkei

In einer Provinzstadt vergewaltigen mehr als drei Dutzend Männer über Jahre hinweg immer wieder vier Schülerinnen - und die Behörden sagen, sie wüssten von nichts. Geschockt steht die türkische Öffentlichkeit vor dem, was sich seit dem Jahr 2006 in der Stadt Siirt abgespielt haben soll.

Eine "Solidarität der Kinderschänder" habe im südosttürkischen Siirt eine Aufklärung des Verbrechens und eine Bestrafung der Schuldigen jahrelang verhindert, berichten die Zeitungen. Nun wurde gegen 20 Verdächtige Anklage erhoben. Doch es gibt Zweifel, ob die ganze Wahrheit als Licht kommen wird.

"Ist denn da niemand?" Unter dieser Schlagzeile brachte ein Bericht der Zeitung "Hürriyet" den Skandal Ende April ans Tageslicht. Niemand in Siirt wolle über die Vergewaltigungen reden, weil auch Honoratioren in den Fall verwickelt seien, meldete das Blatt. Die Behörden gaben sich zugeknöpft, ein Gericht in Siirt erließ eine Nachrichtensperre.

Doch der Skandal war nicht mehr unter dem Teppich zu halten, auch wenn die Behörden in Siirt angesichts immer neuer Enthüllungen beklagten, hier werde die Bevölkerung einer ganzen Stadt zu Schuldigen erklärt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Frau aus Siirt stammt und der einen Siirter Wahlkreis im Parlament von Ankara vertritt, warf den Medien unverantwortliche Sensationsgier vor.

Die Staatsanwaltschaft ist da anderer Ansicht. In ihrer vor wenigen Tagen eingereichten und an die Presse durchgesickerten Anklageschrift gegen 20 Verdächtige schildert sie, wie die zur Tatzeit noch keine 15 Jahre alten Mädchen mit einer Mischung aus Drohungen und Gewalt zu Sexsklaven gemacht wurden. Laut Presseberichten stammten die Opfer aus armen Familien und hatten keine Möglichkeit, sich zu wehren. Von Kleinhändlern und anderen angeblich ehrbaren Bürgern wurden die Schülerinnen demnach immer weiter gereicht und in dunklen Hinterzimmern vergewaltigt. Die Mädchen schwiegen aus Angst.

Bis zu 100 Verdächtige

Erst als sich eine der Schülerinnen im vergangenen Herbst einer Lehrerin anvertraute, kamen die Ermittlungen in Gang. Der stellvertretende Schulleiter zählt zu den Verdächtigen und ist auf der Flucht vor der Polizei. Bald werde es für 19 weitere Beschuldigte eine zweite Anklageschrift geben, sagte der Oppositionsabgeordnete Ahmet Ersin, der den Missbrauchsskandal untersucht. Die Angeklagten müssen mit Haftstrafen bis zu 15 Jahren rechnen. In einigen Medienberichten war von insgesamt bis zu 100 Verdächtigen die Rede.

"Sehr interessant, dass die Provinzverwaltung, der Gouverneur selbst und auch der Polizeichef nichts von dem Sex-Terror gewusst haben, der sich seit 2006 hier abgespielt hat", sagte Ersin. Dabei hätten Sicherheitsbehörden und Geheimdienste wegen des Kurdenkonflikts in Siirt überall ihre Spitzel und seien bestens darüber informiert, was in der Stadt geschehe. Gouverneur Necati Sentürk gab den Schwarzen Peter weiter. "Mich wundert, dass Schulleitung und Lehrer sagen, sie hätten keine Ahnung von der Sache gehabt", sagte er einer Parlamentsdelegation aus Ankara. Die vier Mädchen wurden inzwischen in staatliche Obhut genommen und in eine andere türkische Stadt gebracht. Die Opfer seien stark traumatisiert, heißt es in der Anklageschrift.

Birsen Gökce, die Vorsitzende des türkischen Soziologenverbandes, spricht von "Anzeichen eines gesellschaftlichen Wahnsinns". Denn Siirt ist kein Einzelfall. Nur wenige Tage, nachdem der Siirter Skandal bekannt wurde, nahm die Polizei im westtürkischen Manisa 26 Männer unter dem Verdacht fest, zwei Mädchen und einen Jungen vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen zu haben. Nach einer kürzlich veröffentlichen Studie wird jedes dritte Kind in der Türkei zum Opfer psychischer, physischer oder sexueller Gewalt. Hauptbetroffene sind Mädchen. "Wo Gewalt zum Alltag gehört, gilt auch Gewalt gegen Frauen als normal", sagte die Ankaraner Soziologin Dilek Cindoglu.

Die Behörden sehen trotzdem häufig keinen Grund zum Einschreiten. In einem staatlichen Internat für Dorfkinder in der Nähe von Siirt sollen halbwüchsige Schüler zwei kleine Kinder vergewaltigt und eines davon getötet haben - doch der Bürgermeister der betroffenen Gemeinde Pervari, Ismail Bilen, sieht keinen Handlungsbedarf. Das seien doch alles nur "Kindereien" gewesen, sagte er vor Journalisten. "Wir haben die Sache unter uns geregelt." Pervari sei schließlich ein kleiner Ort, wo alle mit allen verwandt seien. Bisher hat niemand wegen des Schicksals der kleinen Kinder die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

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