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Joseph Joachim (rechts) war ein bei Amerikanern beliebter Geigenlehrer - und konnte fuchsteufelswild werden, wenn ein Schüler faul war.

© bpk

Amerikaner in Berlin: Hier spielt die Musik!

Wer es um 1900 in Berlin schafft, schafft es überall. Auch die junge Pianistin Alma Stencel kommt aus Kalifornien an die Spree – und trifft auf eine große amerikanische Gemeinde.

Im Sommer 1900 ist Berlin der Nabel der musikalischen Welt. So groß ist der Ruhm der noch jungen deutschen Reichshauptstadt, dass von überall her, aus Amerika, Russland und England, aus Prag oder Lemberg junge Musiker und Musikerinnen strömen, um sich hier den künstlerischen Feinschliff zu holen und in den Konzertsälen oder Opernhäusern der Stadt aufzutreten. Annähernd 1000 musikalische Veranstaltungen finden pro Saison statt; abends kann man in die Kroll-Oper und die Philharmonie gehen, zur Sing-Akademie oder zu einem Schülerkonzert des Stern’schen Konservatoriums. Ein positiv verlaufendes, glänzend besprochenes Berliner Konzert ist in diesen Jahren eine Eintrittskarte in den internationalen Jetset des Konzertwesens – wer es in Berlin geschafft hat, wird es überall schaffen.

Längst ist der Ruhm als europäische Musikhauptstadt bis nach Kalifornien gedrungen. Und so bereitet sich im Frühsommer 1900 auch die 13-jährige Alma Stencel, eine musikalische Hochbegabung am Klavier, gemeinsam mit ihrer Mutter Martha auf die Reise vor.

Eine ehrgeizige Mutter

Das Unternehmen ist kostspielig und damit nicht ohne Risiko, zumal die Stencels keineswegs vermögend sind. Woher haben sie das Geld? Alma hatte noch vor der Abreise aus Kalifornien ein Benefizkonzert in eigener Sache gegeben, und der Mutter war es überdies gelungen, bei einer Zwischenstation im Staat New York vermögende Mäzene auszumachen, die Alma ein monatliches Stipendium zahlen. Eine Investition, die sich vielleicht am Ende auszahlt, in einem harten Geschäft.

Für die Stencels, die Europa nach einer fast zweiwöchigen Überlandfahrt nach New York und einer langen Schiffsreise über den Atlantik erreichen, ist Wien mit seinem ausgezeichneten Konservatorium zunächst ebenfalls interessant, und sie versuchen es erst mal dort. Doch der Klavierlehrer interessiert sich nicht für Almas Fortkommen, außerdem ist Berlin viel spannender in diesen Jahren. Es gibt dort eine richtige amerikanische Gemeinde, das noch junge Berliner Philharmonische Orchester, hervorragend aufgestellte Konzertagenturen und die Auswahl unter einer ganzen Reihe Bildungsinstitutionen mit exzellentem Ruf. So packen Mutter und Tochter schon im Frühjahr 1901 wieder die Koffer und machen sich auf.

Patriotische Exilanten in Berlin

Hier also, in der so musikbesessenen „Kaiser’s Capital“, wie James F. Dickie, seit 1894 Pfarrer der Amerikanischen Gemeinde, die Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches in einem Handbuch nennt, lassen die beiden sich im Frühjahr 1901 nieder. Um diese Zeit hat Berlin knapp 1,9 Millionen Einwohner. Etwa 2000 von ihnen sind amerikanischer Herkunft, eine Gruppe, in der man einander gut kennt, häufig sieht und Feiertage wie den 4. Juli mit dem Enthusiasmus der freiwillig Exilierten gemeinsam begeht.

Groß ist die Faszination der Amerikaner für das zum Teil noch recht junge Berliner Stadtbild. Dickie blickt voller Bewunderung auf die Prachtstraße Unter den Linden, die er für den überhaupt interessantesten Ort hält: „Von majestätischer Erhabenheit, stets von Leben erfüllt!“ Die Stencels mieten eine großzügige Wohnung mit mehreren Zimmern und Balkonen an. Bald trifft auch Almas kalifornischer Klavierlehrer Hugo Mansfeldt ein, um das Mädchen vor Ort zu unterrichten, jeden Tag nach einem strengen Plan, aufstehen, Frühstück mit Brötchen und Kaffee, um halb acht die erste Unterrichtsstunde, um neun Uhr Kraftübungen im Wohnzimmer.

Mansfeldt selbst kennt Deutschland bereits, insbesondere die Pianistenszene, seit er 1884 eine Zeit lang in Weimar bei dem großen Franz Liszt studierte. Im Anschluss an die Weimarer Monate hatte er eine kleine Konzertreise durch Deutschland unternommen und seinen letzten Klavierabend auf dem europäischen Kontinent in Berlin gegeben, bevor er sich wieder nach Amerika einschiffte.

Ein Wunderkind als Covergirl

Shampooing in Preußen. Ein amerikanisches Friseurgeschäft in Berlin.
Shampooing in Preußen. Ein amerikanisches Friseurgeschäft in Berlin.

© Ullstein

Mansfeldt ist mit der Reichshauptstadt ebenso vertraut, wie er seine Schülerin zu führen weiß, und so umfassend will er sie nun vorbereiten, dass sie ihre für den Herbst geplanten Konzerte im Beethovensaal, dem Anbau an die 1888 eingeweihte Philharmonie zwischen Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof, erfolgreich bestreiten kann.

Bis dahin nun sind noch einige Monate Zeit, und so taucht die amerikanische Wohngemeinschaft tief in den Berliner Lebensalltag ein. Ob die Stencels Dickies Handbuch gelesen haben? Schließlich schreibt auch er über das Anmieten von Wohnungen (und empfiehlt, bei der polizeilichen Meldung nicht mit dem Alter zu mogeln), über das Einstellen eines Dienstmädchens (unbedingt nach Zeugnissen fragen) oder das Zurechtkommen mit Portiers (Achtung, können autoritär sein).

Ferner berichtet Dickie, dass einige der jungen amerikanischen Musikstudenten es mit der Disziplin nicht besonders genau nehmen. Insbesondere der bei den Amerikanern beliebte Violinist Joseph Joachim von der Akademie der Künste könne sich darüber sehr echauffieren, schreibt er, „Joachim hatte keine Geduld mit Studenten, die sich auf den monatlichen Geldern aus Amerika ausruhten, sie in Windeseile durchbrachten und dann ihre Freunde anbettelten. Und wenn Schüler zum Unterricht kamen und nicht geübt hatten, konnte er furchtbar toben.“

Almas erste Erfolge

Unterdessen wird die kleine amerikanische Zelle ein anderes Detail aus Dickies Handbuch über das Berliner Leben wohl nicht gekannt haben: die Warnung nämlich, die Mittagsruhe unbedingt einzuhalten, weil andernfalls ein Bußgeld droht. Hugo Mansfeldt zumindest schreibt in seinen Lebenserinnerungen, dass seine Schülerin täglich bereits um 14 Uhr ihre nächste Klavierlektion erhielt.

Zu seinem Bericht gehört auch, dass die beiden Stencels abends gern unter Leute gingen, Mansfeldt erzählt von „ziemlich vielen Verwandten und Freunden“. Tatsächlich knüpft Martha Stencel rasch auch Verbindungen zum amerikanischen Botschafter in Berlin, Andrew White. Es wird nicht lange dauern, bis ihre Tochter bei den entsprechenden Veranstaltungen spielt, zum Beispiel im Herbst 1902 im Hotel Kaiserhof, bei einem glanzvollen Abend, zu dem nicht nur wichtige Vertreter der amerikanischen „Kolonie“ kommen, sondern auch Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow, mehrere Minister und einige Herren vom diplomatischen Corps nebst Damen.

Joseph Joachim (rechts) war ein bei Amerikanern beliebter Geigenlehrer - und konnte fuchsteufelswild werden, wenn ein Schüler faul war.
Joseph Joachim (rechts) war ein bei Amerikanern beliebter Geigenlehrer - und konnte fuchsteufelswild werden, wenn ein Schüler faul war.

© bpk

Von solchen Höhepunkten des amerikanischen Kulturlebens in Berlin erfährt die geneigte Leserschaft daheim in den USA vor allem durch die New Yorker Musikzeitschrift „The Musical Courier“. Die unterhält in der Berliner Linkstraße ein eigenes Büro und widmet eine ihrer größten Rubriken allein dem Musikleben in der Reichshauptstadt. Nur verständlich also, dass Almas Mutter auch an einer guten Verbindung zu dieser Redaktion gelegen ist. Regelmäßig tauchen die Stencels in den Räumen des „Musical Courier“ auf, pflichtschuldigst erstatten die Redakteure Otto Floersheim und Marc Blumenberg in ihrer Berlin-Rubrik darüber Bericht. Bereits im August 1901 zeigt die Titelseite des Blatts eine Fotografie von Alma als Inbegriff des amerikanischen Wunderkindes, das in Berlin vor dem internationalen Durchbruch steht.

Teure Investitionen in die eigene Zukunft

Im Inneren der Zeitschrift ist Alma ein großer Text gewidmet, in dem ihr Berliner Debüt angekündigt wird, schließlich richtet sich die Zeitschrift nicht nur an die große amerikanische Öffentlichkeit, sondern auch an die musikinteressierten Landsleute in Berlin: „Unter der Ägide der Konzertagentur Hermann Wolff wird Alma am 26. Oktober im Beethovensaal debütieren. Sie spielt Konzerte von Emil Sauer und Franz Liszt und wird vom philharmonischen Orchester begleitet. Am 8. November spielt sie im selben Saal ein Solo-Recital.“

Es ist ein Coup, dass es Martha Stencel in der Zwischenzeit gelungen ist, ihre Tochter bei der zu dieser Zeit wichtigsten Berliner Agentur unterzubringen, bei Hermann Wolff, der in der laufenden Saison annähernd 500 Konzerte in Berlin betreut. Es war sicher nicht einfach, kostspielig überdies. Denn die Konzertdirektion verlangt Geld; Saalmiete und Werbung wollen ebenfalls bezahlt werden.

Was für ein Aufwand! „Und wofür das Ganze?“, fragt auch Marc Blumenberg vom „Musical Courier“ in einem Grundsatztext zum europäischen Musikleben. Und antwortet gleich selbst: „Für eine Berliner Musikkritik. Und was ist die wert? Sehr viel sogar, als Investition in die eigene Laufbahn, in Deutschland, in ganz Europa und natürlich auch bei uns in Amerika.“

Berlins unerbittliche Konzertkritiker

Joseph Joachim (rechts) war ein bei Amerikanern beliebter Geigenlehrer - und konnte fuchsteufelswild werden, wenn ein Schüler faul war.
Joseph Joachim (rechts) war ein bei Amerikanern beliebter Geigenlehrer - und konnte fuchsteufelswild werden, wenn ein Schüler faul war.

© bpk

Tatsächlich gelingen die zwei Berliner Konzerte der inzwischen 14-jährigen Alma – zumindest aus Sicht der Mutter, die noch in der Nacht nach dem ersten Konzertabend mit den Berliner Philharmonikern einen „sensationellen Erfolg“ zurück nach Kalifornien kabelt, direkt an Hugo Mansfeldt, der inzwischen wieder zu Hause angekommen ist.

Auch deutsche Kritiker sind angetan. Ein „entschiedenes Klaviertalent“, nennt der Fachmann der „Neuen Zeitschrift für Musik“ die junge Alma. Ein anderer findet hingegen, dass es im Beethovensaal „wieder einmal ein Wunderkind zu hören gab, mehr Kind freilich als Wunder“, und ein dritter meint, dass „das ganze Experiment sowohl im Interesse der Kunst wie des Kindes zu bedauern“ sei.

Ehrlichkeit oder anti-amerikanisches Ressentiment?

Verständlicher Argwohn angesichts einer noch im Werden begriffenen jungen Pianistin, deren wichtigster Lehrer Tausende von Kilometern entfernt längst wieder andere Schüler unterrichtet – oder schlicht anti-amerikanisches Ressentiment? Denn auch davon weiß der „Musical Courier“ zu berichten, die potenziell anreisenden Landsleute warnend, die nichts wissen wollen vom „kaum verhohlenen Spott und der schneidenden Selbstgefälligkeit“, mit der das Berliner Publikum den amerikanischen Debütanten mitunter begegnet. So bekannt ist die Situation, dass man ihr bereits im Vorfeld zu begegnen sucht. Nur wenige Jahre später wird die Tageszeitung „San Francisco Call“ berichten, dass man soeben Mary Carrick, eine andere Mansfeldt-Schülerin, nach ihrem Abschiedskonzert in Kalifornien auf den Weg nach Berlin gebracht habe, und dass „die Wertschätzung, die ihr zuteil wurde, ihr sicher genügend Selbstsicherheit geben wird, auch die Nervenprobe zu bestehen, die sie in der deutschen Reichshauptstadt erwartet“.

Ein neuer Lehrer für Alma

Alma Stencel jedenfalls gibt nicht auf, nicht nach den beiden gemischt rezensierten Abenden in Berlin, nicht nach weiteren Rückschlägen. Nachdem Mansfeldt nicht mehr an ihrer Seite ist, versucht sie es mit dem 32 Jahre alten Leopold Godowsky als neuem Berliner Lehrer. Der gebürtige Pole gilt seit seiner Auswanderung in die USA ebenfalls als Amerikaner. Er hatte ein knappes Jahr vor Alma sein Debüt in Berlin gegeben, seine Ehefrau hatte auch regelmäßig im Büro des „Musical Courier“ vorgesprochen, all das mit so viel Erfolg, dass er sich Berlin als Hauptwohnsitz auswählt und seine großen europäischen Tourneen nun von dort aus unternimmt. Alma jedoch kommt mit Godowsky als Lehrer nicht gut zurecht, schon bald gibt sie ihn wieder auf.

1904/05 schreibt sie sich doch am Wiener Konservatorium ein, um in der Meisterklasse von Emil Sauer zu studieren, Mansfeldts einstigem Unterrichtskameraden aus Weimarer Tagen bei Liszt. Der Studiengang in Wien ist gerade erst eingerichtet worden, Alma bleibt aus unerfindlichen Gründen abermals nicht lang und macht auch keinen Abschluss. Hie und da gibt sie noch Konzerte, spielt in London und Wien, Budapest oder Leipzig.

Goodbye Berlin!

Im Januar 1906 tritt sie ein weiteres Mal in Berlin auf und wird inzwischen sehr kritisch beurteilt. „Fast noch ein Kind und ein irregeleitetes Talent“, schreibt der Abgesandte des „Berliner Tageblatts“, von einer „Täuschung über die Leistungsfähigkeit“ spricht der Kritiker der „Berliner Volkszeitung“. Wenige Jahre darauf kehrt Alma Stencel Europa für immer den Rücken und zieht zurück in die USA, nun nicht mehr nach Kalifornien, sondern an die amerikanische Ostküste.

Während ihre Berliner Zeitgenossen am Klavier, der fast gleichaltrige Artur Rubinstein oder der Landsmann Leopold Godowsky, von Erfolg zu Erfolg eilen, tritt Alma im fernen Amerika nur mehr bei kleinen Konzerten und informellen Bildungsveranstaltungen auf. Ihr Lebensweg dürfte typisch sein für viele junge Mädchen und ihrer Mütter, die von der ganz großen Karriere träumten. Immerhin, der frühe Ruhm als international erfolgreiche Pianistin, die ihre ersten Schritte einst in Berlin tat, bleibt ihr bis zu ihrem Tod 1933 erhalten.

Die Autorin ist Herausgeberin des Buches „A Californian Liszt Legacy“, das auch die Geschichte von Hugo Mansfeldt und Alma Stencel erzählt. Es wird mit Klaviermusik am 24. Juni um 19.30 Uhr in der Universität der Künste, Fasanenstr. 1 b, präsentiert. Der Eintritt ist frei.

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