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Ufo. Schalenbetonkurmuschel in Sassnitz auf Rügen.

© photocase.de

An der Ostsee und anderswo: Phänomen Kurmuschel

Polonaise, Pommes, Parteitagsreden: Vor der Kurmuschel sind alle gleich. Noch sind die kuriosen Kleinarchitekturen unerforscht. Wie eine bunte Kette ziehen sie sich entlang der Ostseeküste.

Muscheln werden ja zum Land hin immer größer. Die kleinsten schwappen im Spülsaum und beherbergen Meerestiere, unter den Polyesterstrandmuscheln am Strand liegen die panierten Kinder und schlafen, und die Muscheln auf den Promenaden beherbergen schon ganze Orchester. Doch achtlos geht man an ihnen vorbei. Sie gehören zum Mobiliar der Küste. Ganz Ohr ist kaum einer.

Die Kurmuschel ist mehr als ein Windfang am Meer, in deren Windschatten Jugendliche abends ihre Kippen rauchen. Es ist eine Anwendung ganz eigener Art, für deren Genuss es keine Bewilligung einer Krankenkasse braucht. Man kauft sich ja keine Karte, sondern gerät zufällig in ihren Klangraum. An der Ostseepromenade, darauf wartend, dass endlich das Großschach frei wird, das garantiert von älteren Herren besetzt ist. Rummel, Waffelduft und Sonnencreme. Auf der Promenade die Muschelvariante für diejenigen, die sich am Strand nicht mehr bücken können. Eine bunte Kette zieht sich entlang der Seebäder, die zum Teil in den 90ern wiederentdeckt und aufgemöbelt wurden.

Auf Rügen schallt es aus Baabe und Sassnitz, entlang der Küste von Usedom hat fast jeder Ort seine Muschel. In Trassenheide steht eine, in Ückeritz, Heringsdorf. In Karlshagen prangt ein schwebendes Dach aus fünf aufgefächerten, halben Betonröhren. Die in Bansin ist innen kugelig und außen eckig. Auch das polnische Swinemünde hat eine.

Doch die Vorkommen sind noch ungezählt, bis vielleicht irgendwann ein arbeitsloser Architekt die Gattung entdeckt, sich der Architekturanamnese widmen und die Lücke im Bücherregal füllen wird.

Es gibt verwegene Entwürfe in Nicaragua

Wie viele Konzertmuscheln gibt es in Deutschland? Sind sie ein Küstenphänomen oder ein Kurortphänomen? Musikpavillons in den Parks von England und Frankreich haben oft die Form eines Karussells ohne Tiere. Die Muschelform scheint besonders deutsch zu sein. Es ist ja nicht einmal ein Gebäude, und doch geht es auch hier um Licht, Akustik, Statik. Aber es ist keine endemische Art an der Ostsee. Es gibt die Konstruktion aufblasbar und transportabel in Kanada mit der grün-gelben Gummi-Anmutung einer Hüpfburg. Es gibt sie majestätisch aus Stein von 1923 im Central Park, Martin Luther King sprach dort. Es gibt verwegene Entwürfe in Nicaragua und auf Hawaii. In Littlehampton, England, hat jemand ein Betonband aus dem Boden geführt, um den analogen Musikgenuss wieder zu fördern. Und in Mönchengladbach und in Konstanz, im Stadtpark Remscheid und in Bad Kissingen, sind die bewährten Pavillons noch immer in Benutzung.

Sie sind heimisch in Stadt- und Kurparks, in Oberstdorf und Baden-Baden. Ulrich Müther, der ostdeutsche Spannbetonkünstler, hat in Sassnitz ein berühmtes Exemplar geschaffen, eher untypisch ähnelt es einem Pilz. Aber dann hat es sich auch schon mit den bekannten Architekten. Die entwerfen nämlich gerne Stühle, aber keine Konzertmuscheln. Vielleicht gibt es zu wenig Freiheiten in der Form.

Die Muschel, in der einst Helmut Kohl sprach

Igel. Musikpavillon in Heringsdorf auf Usedom.
Igel. Musikpavillon in Heringsdorf auf Usedom.

© laif, Montage: TSP

Dabei sind die Kriterien für ein gutes Exemplar nur einen Anruf weit entfernt. Im Norderstedter Architekturbüro Rave + Oschkinat arbeitet Vicky Rave, deren Vater in den 90er Jahren den Auftrag bekam, die Kurmuschel für die Promenade in Heringsdorf auf Usedom zu entwerfen. Es entstand am Schreibtisch zunächst etwas, das sie alle einfach schön fanden, sagt Rave. „Darin hören aber nur die Musiker gut“, eröffnete ihnen dann ein Akustikbüro. Also wurde umgeplant. Die Krümmung der inneren Form leitet sich nun aus akustischen Kriterien ab. Der ideale Prototyp, erfuhren sie, ist eine Viertelkugel. Der Schall soll ja über eine bestimmte Strecke nach vorne ausgeworfen, ohne jedoch so reflektiert zu werden, dass ein Echo entsteht und ein Brei hervorkommt. Wie ein Trichter trägt das Gebäude den Schall nach außen. Trotzdem gebe es viele Muscheln, die ohne die Mitarbeit eines Akustikers entstehen. „Die klingen dann halt schlecht“, sagt die Architektin.

Der Kurgast ist heute Leistungsempfänger einer Krankenkasse

Sie zogen Stahlrippen ein, und damit das Gebilde nicht geschlossen wie eine Kinderwagenkuppel aussieht, hängt am Rande Glas. Die Konstruktion muss dem Wind standhalten, wenn er unter die Wölbung fährt und das Ganze die Zugkraft eines Segels entwickelt.

Verschwunden ist wohl leider der einst zur Kurmuschel gehörige Kurgast, der keine sozial glamouröse Figur mehr ist, die sich wie die Intellektuellen des 19. Jahrhunderts im Sommer in Bad Gastein, in den Ostseebädern oder in Marienbad trafen. Der Kurgast ist auch längst kein Genießer mehr, sondern Leistungsempfänger einer Krankenkasse. Und braucht der noch Musik an der Promenade, wenn jeder einen Knopf im Ohr und einen Fernseher auf dem Zimmer hat?

Ein Konzertsaal dient der Konzentration, eine Konzertmuschel der Zerstreuung. Das Panorama, die Promenade, Eis in Reichweite. Der Wind saust um die Ohren. Was gespielt wird, ist der Muschel einerlei. Vicky Rave erinnert sich, dass Helmut Kohl in ihrer einmal eine Wahlkampfrede hielt.

Praktische Tipps zum Usedomer Musikfestival

Klassik am Wasser: Das Usedomer Musikfestival.
Klassik am Wasser: Das Usedomer Musikfestival.

© Stefan Sauer/dpa

PRAKTISCHE TIPPS FÜR USEDOM

Bis zum 14. Oktober sind bei 30 Konzerten in den Kirchen, Ateliers und Hotels auf Usedom zum Beispiel der Eric Ericson Kammerchor aus Stockholm oder die schwedische Mezzosopranistin Ann Hallenberg zu erleben. Auf dem ehemaligen Raketen-Testgelände in Peenemünde tritt das NDR Elbphilharmonie Orchester auf. Einen Ausflug in den Jazz bietet die Hommage an den 2008 verstorbenen Pianisten Esbjörn Svensson. Seit 23 Jahren wirbt das Usedomer Musikfestival für Völkerverständigung durch Musik, indem es jedes Jahr eines der Ostsee-Anrainerländer vorstellt.

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