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Militärs und Zivilisten freuen sich gemeinsam über den Sturz des Diktators.

© Reuters

Aufstand in Portugal: Die Nelkenrevolution

Im April 1974 putscht in Portugal das Militär – es ist das Ende der jahrzehntelangen Diktatur. Die Menschen feiern ihre Soldaten mit Blumen. So beginnt die Demokratisierung Südeuropas.

Erhaben thront die „Brücke des 25. April“ über den Ebenen des Alltags. Unten fahren die Eisenbahnzüge der portugiesischen Staatsbahn, oben die Autos über die Estrada do Sul. 2277 Meter über den Tejo von Lissabon ins Nachbarstädtchen Almada. Wer die Hügel hinaufmarschiert zur riesigen Christus-Statue, hat einen wunderschönen Blick auf die Brücke, sie leuchtet so rot wie einst das Meer der Nelken in den Straßen der portugiesischen Hauptstadt. Auch James Bond ist schon in seinem Aston Martin rübergebrettert, vor 35 Jahren „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ (wenn auch nur in Gestalt von George Lazenby, den echte Bond-Fans bis heute nicht als echten Bond anerkennen).

Die „Ponte de 25. Abril“ über den Tejo zählt zu Lissabons Wahrzeichen, aber sie hieß nicht immer so. Zu ihrer Eröffnung am 6. August 1966 ließ António de Oliveira Salazar die Brücke auf seinen Namen taufen. Das führt schon ein wenig näher heran an die tatsächliche Bedeutung des 25. April. António de Oliveira Salazar war von Beruf Professor für Volkswirtschaft und von Berufung einer der dienstältesten Diktatoren der Welt. Mit einem brutalen Polizeiapparat knechtete er 36 Jahre lang das portugiesische Volk. Nach seinem Tod hielt sich das halbfaschistische Regime noch knapp vier Jahre an der Macht, bis es in sich zusammenfiel, vertrieben von einer der fröhlichsten Revolutionen aller Zeiten, ihr Name ist Programm: Nelken-Revolution, portugiesisch: „Revolução dos Cravos“. Mit Nelken an den Bajonetten stürzte eine bunte Mischung aus linken und konservativen Militärs die ohnmächtige Nomenklatura.

Der Tag der Revolution hat sich am Freitag zum 40. Mal gejährt. Jener 25. April 1974, an den die rot über dem Tejo leuchtende Brücke erinnert. Es fällt dieses Jubiläum zusammen mit einem anderen Umsturz. 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges verblasst die Erinnerung daran, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur im Osten Europas diktatorische Verhältnisse herrschten. Im Westen und Süden der Alten Welt regierte damals die Reaktion.

Die Nelken-Revolution war der Anfang vom Ende dieser Regimes, die sich selbst als Bollwerke gegen den Kommunismus verstanden. Nicht einmal drei Monate nach dem Zusammenbruch des portugiesischen „Estado Novo“ (Neuer Staat) streckten in Griechenland die Obristen ihre Waffen. Ein weiteres Jahr später, im November 1975, verstarb in Madrid der greise Generalísimo Francisco Franco. Der noch vom spanischen Diktator eingesetzte König Juan Carlos leitete sofort die „Transicion“ ein, den Übergang zur Demokratie. Das franquistische Regime zuckte noch ein wenig, genau genommen bis zum spektakulären und gescheiterten Putschversuch 1981, als der Oberstleutnant António Tejero mit einer Pistole in der Hand in den Plenarsaal des Parlamentsgebäudes von Madrid stürmte.

Dass die rechten Diktaturen so schnell hintereinander wie Dominosteine purzeln würden, ist kaum abzusehen, als es Ende der 60er Jahre zum ersten Sturz kommt, zu einem vergleichsweise unbedeutenden, es ist sozusagen der Sturz vor dem Sturz. António de Oliveira Salazar, 1932 von den portugiesischen Militärs mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet und mit 79 Jahren schon ein wenig hinfällig, döst im Liegestuhl auf der Veranda seines Hauses. Der Stoff reißt, Salazar stürzt und trägt eine Hirnblutung davon. Zweimal wird der Diktator operiert, aber Besserung mag sich nicht einstellen. Im Gegenteil, nach einem sich anschließenden Schlaganfall bleibt Salazar für die restlichen beiden Jahre seines Lebens handlungsunfähig. Nach seinem Tod im Juli 1970 hinterlässt er seinem Nachfolger Marcelo Caetano ein kompliziertes ständestaatliches Geflecht, das seinem Erfinder längst entglitten ist. In Salazars Estado Novo sicherte sich der Diktator die Macht durch die Aufteilung der Pfründe unter Kirche, Militärs, Großgrundbesitzern, Fabrikanten und, besonders problematisch, den Kolonialisten.

Der riesige Besitz in Afrika und Asien zehrt schwer an den Ressourcen des jenseits einer schwerreichen Oberschicht bettelarmen Landes. Als älteste Kolonialherren Europas verteidigen die Portugiesen ihr vermeintliches Eigentum noch, als die klassischen Kolonialmächte Frankreich und England sich längst zurückgezogen und den Unabhängigkeitsbestrebungen in Afrika und Asien freien Lauf gelassen haben. Das erwachende Selbstbewusstsein der jahrhundertelang Unterdrückten führt immer häufiger zu bewaffneten Aufständen, vor allem in Angola und Mosambik.

Ende der 60er Jahre steckt die Lissaboner Regierung die Hälfte ihrer Steuereinnahmen in den Kolonialkrieg. Das nicht einmal zehn Millionen Einwohner zählende Portugal leistet sich eine Armee mit 200 000 Soldaten, knapp 80 Prozent davon sind in Afrika stationiert. Immer weniger junge Portugiesen wollen einsehen, warum sie vier Jahre Wehrpflicht leisten müssen für eine ohnehin verlorene Sache, nur damit eine kleine Oberschicht weiterhin ihre einträglichen Geschäfte machen kann. Und viele Militärs sehen es auch nicht mehr ein.

Die politisch fortschrittlich orientierten Offiziere gründen 1973 eine Organisation, die sie Movimento das Forças Armadas (MFA) nennen, Bewegung der Streitkräfte. Aber auch der konservative Flügel der Armee mag den Kurs der Regierung nicht mehr mittragen. Sein einflussreichster Repräsentant ist der stellvertretende Generalstabschef António Sebastião Ribeiro de Spínola, in den Tagen der Nelkenrevolution wird er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt als der „Mann mit dem Monokel“. Spínola hat im spanischen Bürgerkrieg unter Franco gekämpft und der deutschen Wehrmacht vor Leningrad sekundiert. Politisch hat er an seiner Regierung nicht viel auszusetzen, militärisch aber sehr wohl. Darüber schreibt der Mann mit dem Monokel das Buch „Portugal und die Zukunft“, das Anfang 1974 erscheint und dessen Quintessenz sich so zusammenfassen lässt: Der Krieg in Afrika ist nicht zu gewinnen.

Regierungschef Caetano, wie sein Vorgänger Salazar ein früherer Hochschullehrer und erbitterter Verteidiger des Kolonialreichs, reagiert panisch. Kritik von links interessiert ihn nicht, aber von hoher militärischer Seite mag er sich hineinreden lassen in seine Politik. Spínola und sein Vorgesetzter, Generalstabschef Francisco da Costa, müssen den Dienst quittieren. Das Signal zeigt Wirkung. Die links orientierte MFA spürt den stillschweigenden Rückhalt des konservativen Flügels und macht sich an die Organisation des Umsturzes. Der Staatsstreich ist gut und von langer Hand vorbereitet. Gewährsleute der MFA sitzen in allen Kasernen.

Zur Folklore der Nelkenrevolution gehört das Zeichen, das die Aufständischen verabreden für den Zeitpunkt des Losschlagens: Am 25. April 1974, eine halbe Stunde nach Mitternacht, sendet eine katholische Radiostation „Grândola, Vila Morena“. Der linke Liedermacher José Afonso hat das Kampflied komponiert, es ist wegen seiner vielen politischen Anspielungen verboten. Die erste Strophe geht so: „Grândola, braun gebrannte Stadt, Land der Brüderlichkeit. Es ist das Volk, das bestimmt!“

Also bestimmt das Volk, erst einmal in Gestalt eines Panzerregiments, das ins Zentrum von Lissabon, zur Praça do Comércio marschiert. Die Revolutionäre machen, was Revolutionäre machen: Die Gewährsleute der MFA übernehmen die Kontrolle über die Kasernen, sie besetzen den internationalen Flughafen von Lissabon und das Sendezentrum des staatliche Rundfunks, dann überzeugen sie die wenigen regimetreuen Einheiten zum Überlaufen. Wo es vereinzelt zögerlichen Widerstand gibt, brechen ihn die freudetrunkenen Lissabonner, die zu Hunderttausenden den Sturz des Regimes feiern.

Nur einmal drohen die Dinge außer Kontrolle zu geraten. Als sich eine wütende Menge aufmacht in die Rua Cardosa, zum Hauptquartier der verhassten Geheimpolizei. Schüsse fallen, vier Tote sind zu beklagen. Es bleiben die einzigen der ansonsten gewaltlosen Erhebung.

Später am Nachmittag kommt es zu einer zufälligen Begegnung, die der Revolution ihren Namen gibt. Eine Frau steckt einem der aufständischen Soldaten eine rote Nelke an den Gewehrlauf. Ein Fotograf steht daneben und dokumentiert die Szene, sie findet hunderttausendfache Nachahmung. In den kommenden Tagen leuchtet ganz Lissabon nelkenrot.

Staatschef Caetano ist wie seine Getreuen im Schlaf überrascht worden. Der entmachtete Diktator fliegt ins Quartel do Carmo, eine Kaserne, die der regierungsloyalen Nationalgarde als Hauptquartier dient. Jetzt beginnen die politisch heikelsten Stunden. Weil Caetanos Kabinett die MFA nicht als Verhandlungspartner akzeptieren mag, schicken die linken Militärs den General Spínola als Parlamentär. Spínola gehört nicht zu den Initiatoren des Kommandos, er ist erst am Vorabend eingeweiht worden. Aber der General akzeptiert den Auftrag, und die Regierung wiederum akzeptiert den Machtverlust unter der Bedingung, dass Spínola die Geschäfte übernimmt.

Die Dunkelheit naht schon, als Caetano seine Niederlage eingesteht und sich nach Madeira ausfliegen lässt. Spínola übernimmt die Führung einer Junta.

Das Volk feiert andere Helden. Zum Beispiel Mário Soares, den Führer der in Bonn gegründeten Sozialistischen Partei. Nach drei Jahren im Exil macht er sich mit dem Nachtzug aus Paris auf in die Heimat. Bei seiner Ankunft am 28. April kommt es auf dem Lissaboner Bahnhof Santa Apolónia zu einer spontanen Massenkundgebung.

Soares übernimmt in der provisorischen Regierung das Amt des Außenministers. Spínola setzt auf seine internationalen Kontakte bei der Handhabung des Kolonialkonflikts, aber dessen Lösung gestaltet sich schwierig. Schon in diesen ersten Tagen nach dem Sturz des Regimes offenbaren sich die Probleme unter den neuen Machthabern, denn sie haben nicht viel miteinander gemein. Die MFA drängt auf eine sofortige Preisgabe der Kolonien. Die von Spínola repräsentierten konservativen Militärs wollen zwar den Krieg beenden, aber grundsätzlich nicht vom Überseebesitz lassen. Als Zugeständnis bieten sie eine Föderation unter Lissabonner Vorherrschaft an, eine Art portugiesisches Commonwealth.

Das Zweckbündnis bricht auseinander. Die Entlassung Guinea-Bissaus in die Unabhängigkeit nimmt Spínola noch hin. Bei Angola und Mosambik mag er nicht mehr nachgeben. Im März 1975 unternimmt er einen Vorstoß, um den Lauf der Dinge zu ändern. Er warnt öffentlich vor Anarchie und ruft auf zu einer Kundgebung der „schweigenden Mehrheit“. Die gar nicht so schweigende Mehrheit hat die starke Rolle des Generals nur unter größten Vorbehalten hingenommen – und reagiert jetzt mit Gegendemonstrationen und Straßenkämpfen. Der konservative Putschversuch scheitert. Spínola legt sein Amt nieder und emigriert ins franquistische Spanien.

Die MFA übernimmt die Macht, und jetzt dreht sich der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Rote Fahnen wehen in Lissabon, eine Abordnung von Arbeitern besetzt das Regierungsgebäude. Portugal diskutiert einen Austritt aus der Nato, die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot richtet eine Verbindung Havanna – Lissabon – Moskau ein. Linke Militäreinheiten rufen auf zur Rebellion und für eine paar Tage steht Portugal am Abgrund eines Bürgerkrieges. In der Luft liegt ein neuer Putsch, diesmal von links. Er scheitert am Widerstand der loyal zur Republik stehenden Mehrheit der Streitkräfte.

Es ist der Sozialist Mário Soares, unter dem sich die Lage beruhigt. Am 25. Juni 1975 wird Mosambik in die Unabhängigkeit entlassen, Angola folgt am 11. November. Am zweiten Jahrestag der Nelken-Revolution gewinnen Soares’ Sozialisten die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung und ein paar Wochen später auch die Wahlen zur Nationalversammlung. Mário Soares tritt das Amt des Ministerpräsidenten an.

40 Jahre später interessiert sich das Ausland mehr für die Nelkenrevolution als die Portugiesen selbst. Sie haben andere Sorgen – wie die damals ebenfalls von Rechtsdiktaturen befreiten Spanier und Griechen. Hunderttausende Portugiesen sind aus den Kolonien in die Heimat zurückgekehrt und haben den Arbeits- und Wohnungsmarkt schwer belastet. 2013 lag die Arbeitslosenquote bei 17,5 Prozent. Seit drei Jahren hängt das Land am Finanztropf der EU.

Die politische Freiheit ist selbstverständlich geworden, die wirtschaftliche Not ist es auch. Schon das 39. Jubiläum der Nelkenrevolution wurde vor einem Jahr überschattet von Protesten gegen die Sparpolitik der Regierung, sie wechselt in schöner Gewohnheit alle paar Jahre, so oft wie sonst nur in Italien.

Wer heute unter jüngeren Portugiesen eine Umfrage macht, wofür denn der 25. April stehe, der bekommt von einer überwältigenden Mehrheit zu hören: „So heißt doch unsere große Brücke!“

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