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Die deutsch gebürtige Autorin Lily Brett in Paris.

© dpa

Autorin Lily Brett: "Ich hatte drei Analytiker auf zwei Kontinenten"

Ihre Eltern überlebten Auschwitz, in ihren Büchern beschreibt sie das Leben danach. Lily Brett über das beste Mittel gegen Stress – und Donald Trump.

Frau Brett, essen Sie gerne Hackbällchen?
Nicht aus Fleisch, höchstens Geflügel. Aber anderen brate ich gerne Bouletten!

Sie sind zur Premiere des Theaterstücks „Chuzpe – You Gotta Have Balls“ nach Berlin gekommen, das auf Ihrem gleichnamigen Roman basiert. Es geht um die Stadtneurotikerin Ruth, die praktisch nur Salatblätter isst, und ihren fröhlichen Vater Edek, einen Holocaust-Überlebenden, der mit zwei Freundinnen ein Klops-Restaurant in Manhattan eröffnet.
Die beiden Frauen fielen mir auf dem Laufband ein. Ich hatte sofort ein Bild vor Augen, dreidimensionale Menschen. Ich wusste, welche Kleidergröße Valentina hat, dass sie stiller ist als Zofia.

Laufband und Hometrainer als Inspirationsquelle?
Nein, oft denke ich nur, oh Gott, wie lang muss ich noch, wann kann ich endlich absteigen? Allerdings, wenn ich trainiere, mache ich nichts anderes. Die meisten Leute hören ja Musik oder sehen fern, ich nicht, ich versuche nur, meine 50 Minuten zu überstehen.

Bei Edek mussten Sie nicht lange nachdenken, oder? Er hat viel Ähnlichkeit mit Ihrem Vater.
Ja, er hat seinen Humor, seine Liebenswürdigkeit. Im Prinzip ist alles, was ich schreibe, autobiografisch, wenn auch nicht eins zu eins. Mein Vater kann so heftig lachen, dass ich jetzt, wo er alt ist, manchmal Angst habe, dass es ihn umbringt. Er ist hundertundeinhalb. Bis 99 war alles gut, dann wurde vieles zu gefährlich, Duschen zum Beispiel. Jetzt hat er eine Pflegerin. Doch sein Humor ist intakt. Er liebt es, wenn ich mich blöd anstelle. Neulich zum Beispiel, als ich meinen Zahnarzt statt des Taxiunternehmens anrief, um einen Wagen zu bestellen, weil die beiden Nummern untereinanderstehen. Mein Vater fand das zum Brüllen.

Ihre Bücher vermitteln den Eindruck, dass er immer fröhlicher wird, je älter er ist.
Da ist was dran. Früher musste er sehr hart arbeiten. Trotzdem, wenn er was Komisches gesehen hatte, konnte er darüber lachen. Er sah immer die lustige Seite; meiner Mutter fiel das schwer. Ich wurde ja kurz nach dem Krieg geboren. Wobei: Ich hasse es, in diesem Zusammenhang vom Krieg zu sprechen, für alle anderen war es die Zeit des Kriegs, für die Juden war es ein Genozid. Sie hat so schreckliche Sachen erlebt, war im KZ, hat alle verloren, Brüder, Schwestern, Nichten, Neffen, ich weiß gar nicht, wie man da weitermachen kann.

Und was, glauben Sie, gab Ihren Eltern die Kraft, im Displaced Persons Camp eine Familie zu gründen?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich geplant war. Nach der Befreiung ist eine der besten Freundinnen meiner Mutter aus dem obersten Stock eines Hauses gesprungen, sie selber dachte darüber nach, sich von einer Brücke zu stürzen. Doch dann unternahm sie einen letzten Versuch, meinen Vater wiederzufinden. Mit Erfolg. Das war der Grund, warum sie weitermachen konnte. Nur: Die Toten blieben immer bei ihr.

Wieso brachten Sie Ihren Vater, der ebenfalls in Auschwitz war, in den 1990ern nach Deutschland?
Ich hatte ihm schon oft erzählt, dass es nicht das Land war, das er verlassen hatte, dass es dort eine andere Generation gab, eine Regierung, die Verantwortung übernimmt, dafür sorgt, dass die Schulkinder die Geschichte kennen. Ich habe ihn nicht überredet, er wollte, mit 84, mitkommen. Meine Eltern haben auch nie schlecht über die Deutschen gesprochen. Mein Vater sagte immer: Ich liebe sie! Sie machen die besten Autos und das beste Brot.

Und wie verlief der Wirklichkeits-Check?
In Frankfurt, unserer ersten Station, lief er immer an der Hauswand lang. Ich fragte ihn, ob es ihm nicht gut gehe. Er erklärte, wenn wir im Lager Deutsch hörten, haben wir versucht, uns unsichtbar zu machen. Ich sagte: Hier sprechen alle Deutsch. Nach der Lesung am Abend meinte er, hast du den Applaus gehört? Sie haben nicht nur mit den Händen geklatscht, sondern mit dem Herzen. Danach war er nicht mehr zu bremsen. Wie bei Kindern, du lässt sie zwei Minuten aus den Augen und denkst, wo sind sie denn jetzt wieder. Zwei Minuten – und er hielt eine Riesenwurst in der Hand und hatte an jeder Seite eine Frau.

Wie erklären Sie sich seine Wirkung auf Frauen?
Ich weiß es nicht. Sie lieben ihn. Und er liebt sie. Wenn wir uns unterhalten, unterbricht er mich manchmal, mit seinen 100 Jahren: Guck mal, guck mal, was für eine Schönheit! Und ich denke: Oh, mein Gott.

"Wenn ich Angela Merkel sähe, ich würde sie umarmen"

Joachim Briese als Edek Rothwax mit Ulrike Folkerts als Ruth Rothwax im Theaterstück "Chuzpe - You Gotta Have Balls" nach dem Roman von Lily Brett.
Joachim Briese als Edek Rothwax mit Ulrike Folkerts als Ruth Rothwax im Theaterstück "Chuzpe - You Gotta Have Balls" nach dem Roman von Lily Brett.

© imago

Wenn Sie nach Berlin kommen, steigen Sie immer im Savoy ab. Was zieht Sie so an?
Es ist ganz eigen, anders als jedes Hotel, in dem ich je war. In jeder Beziehung das Gegenteil einer Kette: die Einrichtung, die Mitarbeiter, gucken Sie sich nur mal das Gästebuch an, Simone de Beauvoir, Helmut Newton, Schriftsteller, Schauspieler, es ist ein kulturelles Zentrum. Und niemand hetzt dich. Sie geben dir einfach das Gefühl, zu Hause zu sein. Bei einem Berlin-Besuch wurde ich mal in ein Luxushotel in Mitte einquartiert. Ich war fünf Minuten dort und habe gefragt: Kann ich bitte ins Savoy zurück?

Nichts zu meckern?
Doch. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich die Frau vermisse, die den Frühstücksraum geführt hat und die nun in Rente ist. Sie hatte auf alles ein Auge. Wenn sie mich am ersten Morgen entdeckte, rief sie vom anderen Ende des Frühstücksraums „Frau Brett! Ich habe Joghurt mit keine Fett!“ (sagt Lily Brett auf Deutsch) „Keine Fett!“ Der ganze Raum starrte mich an: Wer ist diese Frau, die „keine Fett!“ braucht? Wunderbar, als würde sich die beste Mutter der Welt um einen kümmern.

Ihre Eltern lebten in Australien. Wieso haben Sie Ihren Vater als alten Mann, nachdem Ihre Mutter gestorben war, nach New York verpflanzt?
Er wollte in meiner Nähe sein, und ich wollte ihn in meiner Nähe haben. Er hat seinen Koffer gepackt und nicht mehr zurückgeschaut. Wenn du alles verloren hast – seine Familie war sehr wohlhabend gewesen, und er musste später in Australien sein Leben lang in der Fabrik arbeiten –, ich glaube, dann wird man entweder sehr starr und kann gar nichts mehr tun. Oder sehr flexibel.

Im Moment werden Neuankömmlinge in den USA nicht gern gesehen. Wie haben Sie die Wahl erlebt?
Verheerend. Ich habe nie so viele Menschen so verzweifelt gesehen, fast wie nach 9/11. Horror. Wenn ich Freunden erzählt habe, dass ich nach Deutschland fahre, meinten sie: Sei froh, das ist eins der letzten Länder, dessen Oberhaupt noch bei Verstand ist. Wenn ich Angela Merkel sähe, ich würde sie umarmen. Trump ist ein widerlicher Mensch, ich kann ihn gar nicht angucken. Wie er Frauen angrapscht, über sie redet, als wären sie ein Stück Fleisch. Ekelhaft. Und Frauen haben für ihn gestimmt! Er hat das Schlechteste aus den Menschen rausgeholt, hat es hoffähig gemacht, bigott zu sein, misogyn, hasserfüllt. Wenn wir mit so viel Hass herumlaufen, sind wir verloren. Dann haben wir nichts gelernt.

Haben Sie das Gefühl, dass es da ein Amerika gibt, das Sie nicht kannten?
Nein, ich habe das Gefühl, dass er diese Leute für sich eingenommen hat, so wie Hitler es getan hat. Es wurde ja niemand gezwungen, in die NSDAP einzutreten. In den USA waren viele es leid, politisch korrekt zu sein. Aber wenn man ihnen bei einer Veranstaltung den Dalai Lama vorsetzt, kämen sie möglicherweise mit einer anderen Sicht der Welt raus.

Trump kommt aus New York, wo Sie seit 1989 leben, und das eine große Rolle spielt in Ihren Büchern und Kolumnen. Als überraschend freundlicher Ort.
New York ist anders als alle anderen Städte, fast wie eine Figur im Leben der Leute. Ich schreibe gern über New York, weil man immer etwas Interessantes entdeckt. Als Ihr Kollege eben Aufnahmen von mir machte, musste ich an eine Begegnung vor zwei Wochen denken. Auch ein Shoot, mit Schirmen, Lampen, allem, was dazugehört, in einem Park. Dort wurde ein Hund fotografiert. Wenn der Fotograf ihm sagte: Guck hoch, guck runter, schau in die Kamera – dann guckte er in die Kamera, neigte den Kopf, wenn er den Kopf neigen sollte. Unglaublich. Ich dachte, der ist ein viel besseres Model als ich.

Wieso haben eigentlich so viele New Yorker, vor allem junge, einen Hund? Die Wohnungen sind doch viel zu klein dafür.
New York ist eine extrem schnelle, wettbewerbsorientierte Stadt – und ein Hund ist etwas sehr Weiches. Nicht nur wegen des Fells. Er schleckt dich, setzt sich auf deinen Schoß. Hundebesitzer reden auch immer mit anderen Hundebesitzern, wollen wissen, wie das Tier heißt. Als ob das eine Rolle spielt! Es ist so ähnlich wie bei Babys. Auf dem Weg hierher, am Flughafen, war ich auf dem Klo, da wickelte eine Mutter gerade ihr Kind. Ich habe mich so gefreut, habe „Hi“ gesagt. Es ist ein Gegengift zu all dem Stress: Ist der Flug pünktlich, werde ich meinen Anschluss schaffen, ich will nicht müde sein, wenn ich ankomme, schon wieder zehn neue E-Mails … Wenn du ein Baby anlächelst, lächelt es zurück. Es weiß ja nicht, dass es dich nicht kennt.

Empfinden Sie New York als extrem stressig?
Nein, ich finde es erhebend. Wenn ich rausgehe, egal ob einkaufen oder spazieren, kriege ich immer gute Laune. In der U-Bahn zum Beispiel.

Die meisten hassen die Subway.
Ich liebe sie! Weil du auf Leute von überall triffst, denen du nie begegnen würdest, wenn du nur in deinem kleinen Kreis bleibst. So nah an seinem Nachbarn zu sitzen, das hat für mich etwas sehr Schönes: das Gefühl, Teil der Menschheit zu sein.

Leben Sie noch in Soho?

Nein, wir sind weggezogen. Alle normalen Läden haben zugemacht, einer nach dem anderen. Jetzt gibt’s nur noch Designerboutiquen. Unsere Bäckerei hat geschlossen, unser Café, der Copyshop, die Buchhandlung – alles, was das Viertel ausgemacht hat. Nun leben wir am unteren Ende der Lower East Side. Dort gibt es unterschiedliche Generationen, Schichten, Sprachen. Wie richtiges Leben. Ich fühle mich sehr zu Hause dort.

"Ich dachte, Psychoanalyse ist wie eine zweite Geburt"

Lily Brett lebt mit ihrem Ehemann, dem australischen Maler David Rankin, in New York.
Lily Brett lebt mit ihrem Ehemann, dem australischen Maler David Rankin, in New York.

© imago

Sind Sie noch die Stadtneurotikerin, über die Sie so oft geschrieben haben, oder werden Sie mit dem Alter entspannter?
Mein früherer Verleger sagte kürzlich zu mir: Weißt du noch, wie wir immer dafür sorgen mussten, dass du gedünsteten Brokkoli bekommst? Ich war ziemlich rigide. Heute bin ich lockerer. Neulich haben wir unsere Tochter in Seattle besucht. Irgendwann merkte ich: Ich gucke gar nicht in meine Mails. Mein Leben lang habe ich Albträume, seit ich klein war, hatte nie einen schönen Traum. Und in jener Woche hatte ich keinen einzigen Albtraum.

Ein Zaubermittel?
Wir haben gar nichts Großes gemacht, sind spazieren gegangen, einkaufen, ich war einfach glücklich, mit meiner Tochter zusammen zu sein. Ich vermisse meine Kinder sehr, sie leben ganz verstreut in den USA. Wenn man seine erwachsenen Kinder besucht, denken viele ja, man fährt in Wirklichkeit wegen der Enkel hin. Als ob die Liebe zu den eigenen Kindern mit der Geburt der nächsten Generation weniger würde.
Sie haben Ihre Leser auch an Ihrer Psychoanalyse teilhaben lassen. Gehen Sie noch da hin?
Nein. Das habe ich viele Jahre gemacht, ich hatte drei Analytiker auf zwei Kontinenten. Einen Großteil meines Einkommens habe ich dafür ausgegeben.

Hat sich die Investition gelohnt?
Ich glaube, es ist gut, seine weniger angenehmen Seiten kennenzulernen. Auch wenn es sich in dem Moment nicht gut anfühlt. Früher dachte ich, Psychoanalyse ist wie eine zweite Geburt, ich gehe als neuer Mensch da raus, als bessere Version meines früheren Ichs. Aber das passiert nicht. Es ist ein sehr langer Prozess. Ich weiß nicht, ob ich das jedem empfehlen würde, sich auf diesen weiten Weg zu begeben, aber ich bin froh, dass ich es getan habe.

Und was ist die wichtigste Lektion?
Wenn ich an die Dinge denke, die die größte Bedeutung haben in meinem Leben, dann ist es etwas, was mein Sohn am Telefon gesagt hat, mit meiner Tochter einen Kaffee zu trinken, jeden Morgen neben meinem Mann aufzuwachen. Auf dem Sterbebett denkst du nicht an den Literatur-Nobelpreis, den du nicht bekommen hast.

Was sagen Sie zum aktuellen Nobelpreisträger?
Ich hab mich total gefreut! Einige seiner Songtexte sind unglaublich, Bob Dylan hat einer ganzen Generation eine Stimme gegeben. Mein Mann ist hysterisch vor Glück.

Mit 19 fingen Sie an, für ein australisches Rockmusik-Magazin zu arbeiten, haben Stars wie Jimi Hendrix und Mick Jagger interviewt. War Bob Dylan auch dabei?
Nein. An meinem allerersten Tag in der Redaktion haben sie mich gebeten, Bob Dylan zu interviewen, der gerade in Melbourne war. Und ich habe abgelehnt. Ich wusste nicht, wie man das Papier in die Schreibmaschine einzieht, geschweige denn, wie man jemanden interviewt, hatte noch nie ein Tonband in der Hand gehabt, die waren damals riesig. Dann habe ich gemerkt: Das war ein Fehler. Also habe ich die Kollegen im Büro gebeten, mir zu zeigen, wie man das Papier einzieht und wie das Tonband funktioniert. Das war meine journalistische Ausbildung. Ich habe nie wieder Nein gesagt.

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