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In Ingolstadts historischem Zentrum.

© imago/CHROMORANGE

Bayerische Großstadt: Ingolstadt: Die unbekannte Boomtown

Jeder weiß, was Audi ist, doch Ingolstadt ...? Dabei boomt die Stadt an der Donau enorm und zieht, dank der Autoproduktion, Leute aus aller Welt an. Nun startet der Fußballverein sogar in der ersten Liga. Zu Besuch in Horst Seehofers Heimat.

Wer an manchem Freitagabend durch die Gassen von Ingolstadts Altstadt streift und zum Hof der „Hohen Schule“ gelangt, die mit ihrem Satteldach und dem kupfergrünen Türmchen die umliegenden Gebäude überragt, kann Geräusche hinter den Mauern vernehmen: Diabolisches Lachen und eine Männerstimme, die von einer Schriftstellerin und ihrem literarischen Monster erzählt.

Die Stimme gehört Michael Klarner, ihm lauschen bei einbrechender Dunkelheit regelmäßig bis zu 120 Touristen bei der „ersten Gruselstadtführung Deutschlands“. Klarner, gewandet in schwarzen Mantel und Zylinder, berichtet dort als Dr. Viktor Frankenstein von der Entstehung jenes Schauerromans, den jeder kennt, den aber nur die wenigsten in Oberbayern verorten würden. „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ heißt das Werk über einen künstlich erschaffenen Menschen, das die 19-jährige Britin Mary Shelley schrieb und das an der Universität Ingolstadt spielt – obwohl die Autorin die Stadt nie betreten hat.

Doch in jener Hohen Schule im historischen Stadtkern hatte fast 300 Jahre lang die erste bayerische Landesuniversität ihren Sitz, bevor sie 1800 nach Landshut weiterzog und schließlich die LMU München aus ihr hervorging. Auch eine Anatomie gab es damals in Ingolstadt, ein guter Schauplatz für Gruselgeschichten.

„Dr. Frankensteins Mystery Tour“ verbindet fast 200 Jahre nach Erscheinen des Romans Stadtgeschichte mit Humor und ein wenig Schauder. Klarner, geboren in Ingolstadt und heute stellvertretender Stadtsprecher, hat das Konzept erdacht; gerade konnte seine Tour 20-jähriges Jubiläum feiern.

So sehr sich die meisten Ingolstädter über die Sanierung ihrer Altstadt freuen, Michael Klarner betrachtet sie auch mit Wehmut. Die verfallenen Fassaden voller Patina, die in den 90er Jahren noch häufig zu finden waren, sind weitgehend verschwunden – und mit ihnen ein Stück Morbidität, das so gut zu einer Frankenstein-Führung passen würde.

Erst mit der Landesgartenschau 1992 lernten die Einheimischen die historische Bausubstanz der Stadt wirklich schätzen, danach wurde viel restauriert. Ingolstadts Glück: Lange war es zu arm gewesen, um Betonbausünden zu begehen, wie man sie anderswo finden kann.

Die Arbeitslosenzahl liegt bei paradiesischen 3,1 Prozent

Die Zeiten der Armut sind lang vorbei. Mit dem Aufstieg der zum Volkswagenkonzern gehörenden Marke Audi vom bürgerlichen Kleinwagen ins Premiumsegment kam der Wohlstand; das Unternehmen hat hier seinen Hauptsitz, das Werksgelände, so groß wie Monaco, befindet sich im Norden der Stadt.

So darf sich Ingolstadt heute mit dem inoffiziellen Titel der am schnellsten wachsenden Großstadt Bayerns schmücken, auch deutschlandweit nimmt man einen der vorderen Plätze ein. In einem Ranking aus dem Jahr 2014 liegt die Stadt an der Donau gleich zweimal ganz vorn: in den Kategorien „Wirtschaftsleistung pro Erwerbstätiger“ und „Anstieg des Bruttosozialprodukts“. Zudem hat Ingolstadt eine paradiesisch niedrige Arbeitslosenquote von derzeit 3,1 Prozent. Im „Dynamikranking“ der Studie reichte es hinter Wolfsburg für Platz zwei.

Zwar ist auch der Name der niedersächsischen Stadt mit einer Automarke verbunden. Doch während Wolfsburg erst 1938 gegründet wurde, blickt Ingolstadt auf eine jahrhundertelange Tradition zurück. Als Besucher wird man das Gefühl nicht los, es handele sich hier um ein sehr ungleiches Paar: auf der einen Seite die urbayerische Stadt, Heimat des bayerischen Reinheitsgebots von 1516, auf der anderen Seite der Autohersteller mit dem Willen zur Weltgeltung. Ingolstadts Hauptbahnhof mit seinem kleinen Supermarkt und dem Zeitungsladen wirkt zum Beispiel unterproportioniert und verschlafen. Nur wenige Meter weiter befindet sich dann die „Audi Lounge“: Hier wird dem Neuwagenabholer in einem Ambiente kühler Eleganz zur Begrüßung der Cappuccino gereicht, bevor ihn der „VIP-Shuttle“ zum Werk chauffiert.

Dass sich Ingolstadt kaum wie eine Großstadt anfühlt, liegt auch an der besonderen Topografie. Den mittelalterlichen Kern umgibt ein begrüntes Band, das ehemalige Schussfeld der Garnisonsstadt. Heute finden sich dort ein Freibad und ein Festplatz, mehrere Fußballfelder und der Hindenburgpark. Effekt dieses Erholungsrings: Innen darf der Charme vergangener Jahrhunderte gedeihen, außen finden Audianer und andere ihr ruhiges Eigenheim. Beides ist auf seine Art beschaulich – gemeinsam kommt man seit 1989 auf Großstadtgröße.

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer lebt im Stadtteil Gerolfing und mischt gerne in der Kommunalpolitik mit. Er ist ein „Schanzer“, wie die Einheimischen sich nennen, seit ihre Stadt 1537 bayerische Landesfestung wurde und damit „die Schanz“. Ein typischer Ingolstädter sei Seehofer, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ kürzlich in einem Stadtporträt, „weil er bescheiden lebt, aber sich unterm Strich schon für was Besseres hält“. Ingolstadt, so die SZ weiter, habe sich Audi „auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das ist ein Deal, solange es mehr auf Gedeih ist als auf Verderb.“ Mehr als 41 000 Mitarbeiter sind vor Ort bei dem Unternehmen beschäftigt, fast ein Drittel der Bevölkerung.

In einer Stadt der PKWs, mit angeblich der dritthöchsten Autodichte Deutschlands, bleibt der öffentliche Nahverkehr ein Problem. Die Mentalität, erzählt ein Ingolstädter, sei hier: Ich baue ein tolles Auto, ich will auch damit fahren. So gerät der Zentrale Busbahnhof an einem Samstagmittag zur Endstation. Auf die Frage, welche Linie denn zum Baggersee fahre, einem beliebten Ausflugsziel, winkt die Frau am Steuer ab. „Am Wochenende geht hier gar nichts. Wir sind zwar offiziell Großstadt …“

Als im März ein CSU-Mann im Stadtrat dem Autohersteller vorwarf, zu wenig für die Beförderung seiner Beschäftigten zum Arbeitsplatz zu tun, gab es Krach. Ein Audi-Vorstand drohte gar, den Ausbau des Standorts zu stoppen. Unruhe ist man nicht gewohnt in Ingolstadt, der Friede zwischen Audi und Politik kennt zu viele Nutznießer, um ihn nachhaltig aufs Spiel zu setzen.

Monate später verlieren sich an einem Nachmittag Ende Juli bei blauem Himmel 2421 Zuschauer im Stadion des FC Ingolstadt, dem „Audi Sportpark“. Nicht nur die Stadt selbst ist in der Außenwahrnehmung fest an das Unternehmen gekettet. „Ohne Audi wärt ihr gar nicht hier“, skandierten schon in der Zweiten Liga die gegnerischen Fans, dabei ist der FC kein Werksclub. Wie zum Trotz zieren in der kommenden Saison nicht mehr die allgegenwärtigen vier Ringe die Trikots der Spieler, sondern der Schriftzug der Elektronikkette Media Markt, deren Holding ebenfalls in Ingolstadt sitzt.

Auf dem Fußballticket wird vor dem "erhöhten Lärmpegel" gewarnt

Das Audi-Stammwerk.
Das Audi-Stammwerk.

© Mauritius/imageBROKER/Stefan Kiefer

Zum ersten Mal in seiner Geschichte spielt der FC erstklassig. Allerdings reicht diese Geschichte gerade elf Jahre zurück, als sich die beiden rivalisierenden Clubs MTV und ESV zusammenschlossen. An diesem Nachmittag findet ein Freundschaftsspiel gegen den spanischen Erstligisten Celta Vigo statt. Neben dem Stadion steht seit Kurzem eine Blockhütte, das Signal: Auch wir sind Bayern, nicht nur jener Weltverein aus München 70 Kilometer weiter südlich oder der 1. FC Nürnberg 80 Kilometer nördlich. Auf der Eintrittskarte wird vor einem „erhöhten Lärmpegel im Fanbereich“ gewarnt.

Ihr Wachstum verdankt die Stadt zu einem nicht unerheblichen Teil dem Zuzug aus dem Ausland: Zwischen 2004 und 2014 gewann sie mehr als 11 000 Einwohner dazu, über die Hälfte von ihnen besaßen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Natürlich findet sich auch hier die Ursache bei Audi und seinen „Impats“, den Mitarbeitern aus dem Ausland, die zum Arbeiten oder für Schulungen nach Ingolstadt kommen. Das Unternehmen betreibt mit VW und Seat Werke in China und Katalonien, so wuchs etwa die Zahl der Spanier in Ingolstadt in zehn Jahren von 172 auf 473. Ähnlich sieht der Anstieg an chinesischen Einwohnern aus. Im mexikanischen San José Chiapa entsteht derzeit ein neues Audi-Werk, mit Folgen auch in Oberbayern. Lebten im Jahr 2004 noch 39 Mexikaner in Ingolstadt, waren es im vergangenen Jahr 528.

Auch Marc und Josep arbeiten bei Audi, beide stammen aus Katalonien und haben sich in Ingolstadt eingerichtet. Ihre Stammkneipe „La Diva“ liegt zentral in der Altstadt, hier schauen sie die Spiele des FC Barcelona. Bei allem Integrationswillen: Wer Weltklassefußball gewohnt ist, wird nur schwer für den heimischen Aufsteiger zu begeistern sein. Immer mal wieder treffen sich Marc und Josep auch mit der spanischen Community in Ingolstadt. Etwa im März, um im Rahmen des Volksfests Calçotada zu fünfzig am Baggersee Calçots zu grillen, eine Lauchzwiebel und Spezialität der katalanischen Küche.

Internationalität oder bayerische Tradition? Es sind konträre Ansprüche, die in Ingolstadt aufeinanderprallen, wegen des schnellen Wachstums vielleicht heftiger als anderswo. Auf der einen Seite sind da die alteingesessenen Bewohner der Altstadt, die ab 22 Uhr ihre Ruhe wollen. Auf der anderen Seite Spanier, die gewohnt sind, abends auf der Straße vor einer Bar zu sitzen.

Als Zhi Till im Januar 1996 nach Deutschland kam und in seinem ersten kalten Winter durch die Straßen Ingolstadts ging, da drehten sich die Leute nach ihm um. Ein chinesischer Teenager in Oberbayern, das war damals noch ungewöhnlich. Till stammt aus der Millionen-Metropole Shiyan, einem Zentrum der Autoindustrie. Dass es ihn erneut in eine Autostadt verschlug, war Zufall. Die Mutter, Germanistin und Dolmetscherin, hatte sich in einen Ingolstädter verliebt und war ihm ins ferne Europa gefolgt.

Der Sohn kam nach, ohne ein einziges Wort Deutsch zu sprechen. Er wusste, dass Deutschland ein wohlhabendes Land ist und wunderte sich deshalb, dass es in Ingolstadt keine Wolkenkratzer gibt. Eine Woche lang ging Till auf die Hauptschule, doch dort war er überfordert. Also ließ ihn die Mutter für ein halbes Jahr vom Unterricht befreien und schickte ihn in eine Sprachschule. Auch zu Hause wurde Deutsch gesprochen. Mit Erfolg. Till ging aufs Gymnasium, wurde nebenher bayerischer Vizemeister in Lateinamerikanischem Tanz, er schaffte das Abitur, studierte Maschinenbau und Fahrzeugtechnik in München und kam zur Promotion zurück nach Ingolstadt. Heute spricht der 32-Jährige akzentfrei Deutsch, mit einem Anflug von Bayerisch. Statt „China“ sagt er „Kina“.

Zhi Till ist ein Musterbeispiel gelungener Integration. Für seinen Arbeitgeber, für den er schon während der Schulferien in der Produktion gearbeitet und später Besucher durchs Audi-Museum geführt hat, ist Till ein willkommenes Werbegesicht. Einmal nahm er an einer Imagekampagne teil und fand sein Foto kurz darauf im „Spiegel“ wieder.

Vor wenigen Wochen hat Till eine „Schanzerin“ geheiratet, ihr gemeinsamer Sohn wurde im vergangenen Jahr geboren; die Mutter spricht Deutsch mit ihm, der Vater Chinesisch. Ihm selbst habe als Jugendlicher die offene, ehrliche Art der Ingolstädter geholfen, sagt Till. Die Schulfreunde hätten ihn bei Fehlern korrigiert, in China sei das unüblich.

Internationaler sei Ingolstadt geworden, sagt Till, weltoffener. Dass es den Chinesen, die heute in die Stadt kommen, einfacher gemacht wird als ihm selbst vor fast 20 Jahren, dafür ist auch seine Mutter Zhengyan verantwortlich.

An diesem Nachmittag veranstaltet ein Ingolstädter Gymnasium sein Sommerfest, Zhengyan Huang-Till sitzt am Stand der Chinesischen Schule und übersetzt allen, die zu ihr kommen, ihre Namen in chinesische Schriftzeichen. Die Schule hat sie 2002 allein gegründet, als gemeinnützigen Verein. Räumlichkeiten stellt ihr seitdem die Stadt zur Verfügung, Unterrichtsmaterialien die chinesische Regierung. Als sie begann, unterrichtete sie vier Kinder, heute sind es 35 im Alter zwischen sechs und 18 Jahren. Huang-Till ist nicht nur Lehrerin, sondern auch Ansprechpartnerin für alle Chinesen, die Hilfe in der Schule brauchen oder bei Behördengängen.

Der CSU-Oberbürgermeister regte inzwischen einen vierteljährlichen ChinaStammtisch an, Zhengyan Huang-Till organisiert ihn seit Januar dieses Jahres. Ein Konfuzius-Institut soll entstehen und bald der erste bayerische China-Tag unter Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten in Ingolstadt stattfinden.

Hinter der „China-Strategie“ der Stadt steckt vor allem wirtschaftliches Kalkül, und letztlich auch wieder Audi. Im chinesischen Foshan, der jüngsten Partnerstadt Ingolstadts, rollt schließlich der A3 vom Band. Und das Land in Fernost bildet den weltgrößten PKW-Markt. In Zukunft sollen chinesische Investoren dazu bewegt werden, ihre Unternehmen in Ingolstadt anzusiedeln.

Für Fußball interessiert sich Frau Till nicht sonderlich, doch der Aufstieg des FC freut sie trotzdem. „In China verfolgen viele die Bundesliga“, sagt sie. „Jetzt werden dort mehr Menschen etwas mit dem Wort Ingolstadt anfangen können – nicht nur mit dem Wort Audi.“

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