zum Hauptinhalt
Kleinkinderparadies. Keine Malaria, keine Lastwagen – nur ein riesiger Buddelkasten. Foto: fotolia

© Martin Valigursky - Fotolia

Berlins Buddelkiste: Von der Liebe zu Usedom

Welt der Kurmuschel und des Fischbrötchens: Auf Usedom würde selbst der Kaiser heute Windbreaker anziehen.

Gründe für Urlaub am Strand gibt es wie, ähem, Sand am Meer. Ein entscheidender: Usedom! Es gilt als Buddelkiste Berlins und liegt ja so nahe. In aller Herrgottsfrühe auf der Prenzlauer Allee Gas geben, am Autobahndreieck Uckermark die Nerven behalten – und schon funkeln die drei Kaiserbäder in der Morgensonne.

(Selbstverständlich, man kann auch freitags nach Dienstschluss mit der Regionalbahn anreisen, ab Züssow gehts dann weiter mit der Usedomer Bäderbahn. Vier Stunden mit fremder Fahrradklingel zwischen den Rippen und dem hechelnden Rehpinscher des Sitznachbarn auf dem Schoß, können allerdings echt lang werden.)

Und wie ist es dort? Die nackten Tatsachen zuerst: In Usedom gibt es überdurchschnittlich viele junge Familien mit Kindern und natürlich Mitbürger im Rentenalter – hier treffen sich also jene, die zu jung oder alt für die Caprivi-Zipfel-Safari sind. Darauf hat man sich natürlich längst eingestellt, zum Beispiel mit einer Skyscraper-Rehaklinik, Spielplätzen, einem Restaurant, wo das Bier mit der Modelleisenbahn an den Tisch gefahren wird („Stellwerk“) und einer Therme mit Kleinkinderbereich.

Das tägliche Brathering-Brötchen ist hier ein Muss, und Jack-Wolfskin-Windjacken sind eine Frage der Ehre. Ferienstammgast Friedrich Wilhelm II. hätte bestimmt auch eine getragen, wenn es sie zu Kaisers Zeiten schon gegeben hätte.

Neureiche und Jungs mit Runen-Tattoos

Problem: Ist einem zum Beispiel der Atlantik in schöner Erinnerung, wirkt die Ostsee, besonders bei Schlechtwetter, grau und träge. Der Golfplatz mit dem unerträglichen Namen „Baltic Hills“ lockt die Neureichen aufs Green, im Edeka Pfitzmann kaufen Jungs mit Runen-Tattoos Fleischkonserven, die Heringsdorfer Seebrücke ist durch eine transparente Wand längs in Links- und Rechtsverkehr geteilt, das Achterwasser ist wirklich sterbenslangweilig und beim Fahren auf dem klapprigen Leihrad bläst der Wind stets direkt von vorn, ist klar.

Mit all dem muss man sich arrangieren. Wenn es gelingt, ist es in Usedom möglich: das perfekte lange Wochenende am Strand. Ein Schnapsglas voller Unendlichkeit.

Am schönsten ist der erste Tag. Das Meer sehen und die große Wasserwaage Horizont ist jedes Mal eine kleine Uraufführung: Handtuch ausrollen, bäuchlings drauflegen. Möwenkreischen. Die Hände in den Sand graben, bis es kühl und feucht wird. Luft und Sonnencremeduft atmen. Bald britzelt die Haut, der Kopf wird so leer wie ein angespültes Ölfass. Über Muschelscherben zur Sandbank waten. Von den Wellen verschaukeln lassen. Untertauchen. Nach ein paar Zügen mit Tangverzierung wieder auftauchen. Fürs Foto ans Ufer winken.

Sanddorneis. Sommerfrische.

„Hallo Sie, kann ick ma die Kurkarten sehen, bitte!“

Wer nun denkt, Strandurlaub sei was für Faule, irrt ganz einfach. Das Gegenteil ist der Fall. Man tut eine ganze Menge, doch diese Handlungen sind für einen typischen Hinterland-Wanderer und Kathedralen-Besichtiger nicht immer als solche zu erkennen.

Man guckt, was die anderen so machen und wie sie dabei aussehen. So ein Sonnensegel aufzuspannen, das kann schnell zur unfreiwilligen Hommage an Loriot werden. Ladys, die sich unter oben festgezurrten Strandkleidern umziehen – herrlich. Väter, die von ihren Kindern bis unters Kinn verbuddelt werden und Panik kriegen.

Sollen sie doch allesamt tun und lassen, was sie wollen. Ist genug Platz für jeden da, von manchen Augustnachmittagen mal abgesehen.

Der Strand von Usedom ist ein Paradies für Menschenfreunde. Hier kommt sich niemand in die Quere, alle dürfen friedlich nebeneinander existieren. In Badezeug sind alle gleich. Gemecker verdunstet im Meeresrauschen. Kurzum, es ist das präzise Gegenteil des Berliner Straßenverkehrs.

Kann übrigens gut passieren, dass man beim Sandburgenbauen, Softball, Volleyball, Strand-Krocket, Schubkarrespielen und ausdauerndem Trampolinspringen selbst wieder zum Kind wird. Immerhin, Experten verschreiben das Gehüpfe sogar gegen Depressionen. Es stimmt. Auf dem Trampolin mit Meerblick traurig sein, ist unmöglich.

Diese Aktivitäten sind übrigens durch und durch analog. Wer seine empfindlichen Gadgets mit an den Strand bringt, ist verrückt – ein einziges Sandkorn hat die Macht, das Innenleben einer Minimaschine zu zerstören. Ein Buch dagegen nimmt den Sand dankbar auf und speichert ihn als Lesezeichen zwischen den Seiten.

Liebe Kathedralenfreunde, diese vielen Aktivitäten machen sehr, sehr müde. Aber es ist doch eine so viel bessere Müdigkeit als in der Stadt! Das milde Reizklima und die Gewissheit, dass morgen immer noch Wochenende ist, lassen die Augen bereits zu Unzeiten glasig werden wie die eines gedünsteten Boddenzanders.

Mit Sicherheit gibt es schönere Strände als den Usedomer. Einsame Buchten, die den Traum vom Insulanerleben schüren oder solche, die von umwerfenden Wassersportlern bevölkert oder majestätischen Bergen eingerahmt werden. Aber wie aufwendig und teuer ist es, dort hinzukommen? Das Gute liegt so nah. Wer das Abenteuer sucht, kann ja mal versuchen, in Bansin wild zu campen.

Eine dieser weiß getünchten Ferienwohnungen ist besser für die Nerven. Bis auf einmal, als sich das „Gartengeschoss“ als finsteres Souterrain entpuppte.

Der vorletzte Gedanke am Ende eines langen Strandtages: War da Sand auf dem Laken? Und der letzte: Schon wieder den Blues-Abend im O’ Man River verpasst.

Usedom muss man sich ein bisschen schönreden. Es hat all die Vorzüge einer arrangierten Ehe, wenn sie gut läuft. Mit der Zeit gewöhnt man sich aneinander, dann lernt man sich zu schätzen, und schließlich entsteht so etwas wie Liebe zur Kurmuschel.

Bleibt eine Frage an die Firma Jack Wolfskin: Wann nennt ihr eure Bikinimodelle von „Ipanema“ und „Acapulco“ in „Zinnowitz“ und „Peenemünde“ um?

Zeit wird’s.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false