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In Frankreich ein Star: Édouard Louis (22) lebt heute in Paris.

© Promo

Bestsellerautor über Homophobie: Erinnerungen an ein Familiendrama

Édouard Louis’ Kindheit war die Hölle, sein Buch darüber ist in Frankreich ein Bestseller. Vom Spott der Eltern und dem Hass des Bruders. Ein Protokoll

MEINE MUTTER
Wütend. Mit diesem einen Wort würde ich sie beschreiben. Ich sehe sie vor mir, wie sie Fernsehen guckt, in Jogginghosen, ohne Make-up – denn das verbot ihr mein Vater –, und wie sie die Politiker auf dem Bildschirm anschreit. Wie sie sich über die Araber aufregt, die uns alles wegnehmen würden. Oder wie sie im Wohnzimmer unseres erbärmlichen Hauses stand und über die Frauen im Dorf herzog: „Alles Huren!“

Ich bin in einem kleinen Kaff in Nordfrankreich aufgewachsen. Bereits in früher Kindheit war ich anders als die Jungen im Dorf. Ich schwang meine Hüften mehr als sie, weinte öfter. Meine Mutter schrie, ich sei zu feminin. „Eddy, du bist eine Schande für mich! Warum tust du mir das an? Warum spielst du keinen Fußball wie die anderen Jungs? Warum hast du nur Mädchen als Freunde?“

Ich war ein anhängliches Kind. Im Alter von drei oder vier Jahren habe ich vor der Toilette gewartet, bis meine Mutter wieder herauskam. Ich habe mich an sie geschmiegt, sie hat nur gesagt: „Lass mich in Ruhe!“

Ihre Wut kam daher, weil sie wusste, wie arm wir waren. Im kleinen Lebensmittelladen im Dorf ließ sie oft anschreiben. Die Besitzerin warf ihr vor, dass sie arm sei, faul, nichts tauge. Dabei hatte meine Mutter drei Jahre lang eine Arbeit. Sie ging zu alten Menschen nach Hause, pflegte und wusch sie. Mein Vater verbot ihr auch das, weil sie mehr als er in der Fabrik verdiente. „Der Mann muss die Familie ernähren“, sagte er.

Mit den Jahren erschöpfte sich ihre Wut. Sie war ausgezehrt davon, eine Mutter zu sein. Ihr erstes Kind bekam sie mit 16 Jahren, meinen Halbbruder. Elf Jahre später wurde ich geboren, sieben Jahre darauf meine Zwillingsgeschwister. Von einem Mädchen wuchs sie übergangslos in die Rolle einer Mutter hinein, sie hatte keine Jugend, keine Zeit für sich.

Obwohl sie alles Bürgerliche verabscheute, ermutigte sie mich, weiter zur Schule zu gehen. Sie war stolz auf mich, weil ich besser als meine Geschwister in der Schule war. Als ich mit 14 Jahren in das Internat des Gymnasiums umzog, lief sie durch das ganze Dorf, schwenkte in der Bäckerei, der Bar, dem Lebensmittelladen meinen Zulassungsbescheid und rief: „Der Junge hat es geschafft!“

Ich fuhr einmal pro Monat aus Amiens, wo die Schule lag, nach Hause. Jedes Mal wurde die Distanz zwischen uns größer. Sie rügte mich, wenn ich Fremdworte benutzte: „Warum redest du wie ein Bürgerlicher?“ Trug ich einen Wollpullover, warf sie mir vor, ich würde mich wie ein Pfaffe kleiden.

Mit 19 Jahren erzählte ich ihr, dass ich schwul sei. Sie weinte eine Woche lang. „Was habe ich falsch gemacht?“ Später sagte sie: „Ich akzeptiere dich.“ Ein Satz, den ich gehasst habe. Ich wollte, dass sie es weiß, nicht, dass sie es akzeptiert.

Etwa zur selben Zeit habe ich meinen Namen geändert, um mit meinem Geburtsnamen Eddy Belleguele abzuschließen. Wenn ich Eddy hörte, klang „die Schwuchtel“ nach. Der Name stand für eine Erinnerung, die ich versuchte, loszuwerden. „Das Ende von Eddy“ heißt deshalb mein Buch.

Ich denke nicht an meine Mutter, ich liebe sie nicht, ich spreche nicht mit ihr. Das letzte Mal habe ich sie vor zweieinhalb Jahren gesehen. Sie hat mit meinem Vater Schluss gemacht. Vor ein paar Wochen ist sie in einen anderen Ort gezogen. Das habe ich von meiner kleinen Schwester erfahren.

Der Vater verbot Gemüse zu Hause - zu weibisch

So sah der kleine Édouard aus.
So sah der kleine Édouard aus.

© privat

MEIN VATER
Er war während meiner Kindheit eigentlich nie da. Entweder arbeitete er in der Fabrik, hockte in der Bar mit seinen Freunden, oder wenn er zu Hause saß, schien er geistig abwesend. Seine Gegenwart lastete wie ein unsichtbarer Druck auf dem Haus. Meine Mutter sagte einmal, wie froh sie sei, wenn Vater nicht im Haus war.

Seine Schweigsamkeit hatte etwas Gewalttätiges, seine Taten auch. Wir hatten eine Katze, als ich klein war. Wenn sie Nachwuchs bekam, was bis zu zwei Mal pro Jahr passierte, nahm er die Kätzchen, steckte sie in einen Sack und warf ihn solange auf das Pflaster, bis das Gewimmer erstarb. Ich hasste ihn dafür. Jedes Mal weinte ich, als Einziger in der Familie.

Er genoss es, Schweine zu töten. Mehrere Familien legten einmal im Jahr Geld zusammen, kauften ein Tier, mästeten es und teilten das Fleisch unter sich auf. Mein Vater war es, der das Schwein tötete. Er nahm das nicht als Gewalt wahr, es gehörte für ihn dazu, ein Mann zu sein.

Genauso wie Fleisch zu essen. Wegen ihm habe ich meine erste Tomate erst mit 18 Jahren probiert. Er fand Gemüse weibisch, meine Mutter durfte es nicht kaufen, höchstens Kartoffeln und Pommes frites. Nur wenn wir im Sommer grillten, gestattete er ihr, einen Salat zuzubereiten. Er sagte dann zu ihr: „Du frisst Kuhfutter.“

Ich erinnere mich an ihn, wie er im Fernsehsessel saß, neben ihm sein Glas Pastis, im Mund eine Zigarette. Er rauchte 50 Zigaretten am Tag. Um sie zu bezahlen, stahl er seiner Schwester Geld. Den ganzen Tag lief der Fernseher, selbst wenn er schlief, ließ er das Gerät manchmal an. Er mochte Reality-Shows und sah sich Dokumentationen über das Fischen an, weil er gern angelte. Als ich zwölf war, saß er einmal mit seinen Freunden vor dem Fernseher, ich kam ins Wohnzimmer, er nannte mich vor allen eine Schwuchtel – und alle lachten. Ich weiß, was ihn zu dem Mann gemacht hat, der er ist. Sein Vater schlug seine Mutter regelmäßig vor seinen Augen. Er ist ein Produkt seiner Umgebung Aber das heißt nicht, dass ich ihm vergebe.

Kam ich vom Gymnasium nach Hause, war er selten da. Meine Mutter sagte: „Dein Vater erzählt ganz stolz jedem, dass du auf die Universität gehen wirst.“ Für ihn war das wie eine amerikanische Fernsehserie, in der ich mitspielte – ein Campus mit Grünflächen, auf dem ich studieren würde, eine fremde Welt.

Erst als mein Buch vor einem Jahr in Frankreich erschien, redeten wir wieder miteinander. Er schickte mir eine SMS: „Bin stolz auf dich.“ Dann rief er mich an, es war komisch, seine Stimme zu hören. Er sagte mir, dass er mich lieb habe. Und er nannte mich zum ersten Mal in seinem Leben Edouard, nicht Eddy. Später kaufte er sogar 20 Exemplare des Buches und verschenkte sie an seine Freunde.

Im Januar hat er mich angerufen, als die Redaktion von „Charlie Hebdo“ angegriffen wurde. Ich wohne im Pariser Marais, dem alten jüdischen Viertel, wo viele Schwule leben. Mein Vater sagte: „Junge, sei vorsichtig!“ Ich war froh über den Anruf. Auch wenn wir sofort wieder stritten. Denn für ihn war klar: „Die Araber sind an allem schuld!“

Liebe ich meinen Vater? Nein. Diese Frage stelle ich mir nicht mehr, dieses Kapitel ist abgeschlossen. Ich habe mich weiterentwickelt, Freunde sind mir nun wichtiger als meine Familie.

Der Bruder wollte ihn windelweich prügeln

In diesem Haus in Nordfrankreich lebte die Familie.
In diesem Haus in Nordfrankreich lebte die Familie.

© privat

MEINE GESCHWISTER

Eines kann ich mit Gewissheit sagen: Meinen elf Jahre älteren Halbbruder hasse ich von ganzem Herzen. Er wollte mich einmal zusammenschlagen, als ich noch ein kleiner Junge und er völlig betrunken war. Ich sei eine Schande für die Familie, nur meine Mutter und dann mein Vater hielten ihn davon ab. Als ich meiner Mutter von meiner Homosexualität berichtete, erzählte sie das sofort meinem Stiefbruder. Ich musste abreisen, weil er drohte, mich windelweich zu prügeln. Das war keine leere Drohung. Er ist mit einer Frau zusammen, die bereits Kinder hat, und die er regelmäßig schlägt.

Wie glücklich ich mich fühlte, als er alt genug war, um auszuziehen. Er hat oft mein Spielzeug geklaut, meine Playstation zum Beispiel, und verkaufte es, um vom Geld Zigaretten, Drogen oder Alkohol zu kaufen. Ich fühlte mich ohnmächtig, konnte nichts dagegen tun. Meine Eltern hat es überhaupt nicht geschert.

Die Zwillinge sind sieben Jahre jünger als ich. Als ich auf das Gymnasium ging, habe ich mich um sie gekümmert. Ich wollte nicht, dass sie so enden wie meine Eltern, und ihnen die Möglichkeit eines anderen Lebens bieten. Wenn sie mich in Amiens besuchten, schleppte ich sie in Museen oder ins Kino. Im Musée de Picardie, einem wunderbaren Regionalmuseum, habe ich ihnen die mittelalterlichen Kirchenmalereien gezeigt. Ich habe sie in Programmkinos geschleppt, wenn Godard-Filme liefen.

Das war lächerlich, ich gebe es zu. Sie waren gerade einmal sieben Jahre alt. Aber ich hatte Angst, dass sie diese Dinge sonst nie sehen würden in ihrem Leben. Meine Geschwister haben mich dafür gehasst. Diese Erlebnisse brachten uns eher auseinander, als dass sie uns zusammenschweißten. „Du bist so bourgeois“, hat mein kleiner Bruder mir gesagt.

Sie wohnen nun zusammen mit meiner Mutter und erwarten wenig vom Leben. Meine Schwester will Sekretärin werden, mein Bruder Wachmann. Sie werden nicht auf die Universität gehen, sie werden nicht ihre Heimat verlassen. Es ist ein wenig so, als würden sie in dieselbe Falle laufen wie meine Eltern.

Édouard Louis’ „Das Ende von Eddy“ ist im S. Fischer Verlag erschienen.

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