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Die Library of Birmingham der Architektin Francine Houben, mit dem Bücherturm in der Mitte. Fotos: Darren Staples/Reuters (2), Library of Birmingham

© REUTERS

Bibliotheksneubauten: Aufregende Moderne: Neue Volkspaläste

Das Buch ist tot, glauben manche. Fest steht: die Bücherei nicht. In Seattle, Birmingham, Stuttgart – großartige Bibliotheken werden zum Zentrum der Städte. Nun geht es um Berlin.

In Birmingham brummt’s. Die Massen schieben sich über den Weihnachtsmarkt, erst den deutschen, dann den englischen – und von dort geradewegs in die Bibliothek. Da hilft das Schieben allerdings auch nichts mehr, die Drehtür stockt, dem samstäglichen Ansturm ist sie nicht gewachsen. Befreit aus der gläsernen Falle strömen die Leute durchs riesige Foyer, stocken selber einen Moment, überwältigt, rollen dann samt Einkaufstüten und Schaumküssen die Treppen hoch und runter, setzen sich erst mal rechts ins Café, drehen sich in den roten Designerohrensesseln oder breiten sich mit ihren Unterlagen an den Coffeeshop-ähnlichen Theken vor den großen Fenstern aus.

Anfang September wurde die Library of Birmingham eröffnet, die größte Stadtbibliothek Europas. Seitdem wissen die Bibliothekare selbst nicht mehr, wie ihnen geschieht. Als „großartig und beängstigend“ beschreibt Paul Hemmings, zuständig für „special collections“, das Gefühl bei der Eröffnung. Eine Million Besucher werden es bis Ende des Jahres sein.

Die kommen nicht nur zum Lesen. Um ehrlich zu sein, tun das, außer den Kindern, im Augenblick die wenigsten hier. Sie kommen, um in Büchern zu blättern, Filme zu gucken, im Internet zu surfen, für Schule oder Uni zu arbeiten, mit Freunden abzuhängen oder eine Ausstellung anzugucken, um Musik zu hören oder zu machen, ein Klavier steht bereit, oder um Pingpong zu spielen im Hof. Aber vor allem kommen sie, mit Kind und Kegel, Liebhabern und Großeltern und Weihnachtseinkäufen, um zu gucken und zu staunen. Wie die Kinder unterm Tannenbaum.

Es wird noch mindestens acht Jahre dauern, bis Berlin so was Großartiges bekommt: In der kommenden Woche werden die Ergebnisse des Architekturwettbewerbs für die neue Zentralbibliothek bekannt gegeben, 2021 soll der Bau stehen. Wenn nicht noch was (oder wer) dazwischenkommt: die Gegner der Bebauung des Tempelhofer Felds etwa oder Kritiker, die finden, dass man dem Berliner Volk keine 270 Millionen teure Bildungsanstalt hinstellen sollte oder dass man doch die Gesamtberliner Zentral(!)bibliothek ins abgehalfterte ICC ans westliche Ende der Stadt packen könnte. Vielleicht hat der Flughafen die Stadt ja auch bis zum Baubeginn endgültig in den Ruin getrieben. 5,7 Milliarden soll er nach den jüngsten Berechnungen des Projektsteuerers kosten. Und praktisch täglich kommen noch ein paar Milliönchen dazu.

Schon jetzt hinkt Berlin gnadenlos hinterher: Während die Landesbibliothek fast ein Vierteljahrhundert nach der Wende noch immer geteilt ist in West und Ost, untergebracht in veralteten Gebäuden, werden auf der ganzen Welt spektakuläre Bibliotheksbauten hochgezogen. (Aufsehenerregende Museen haben die Städte inzwischen genug.) Das wirkt nur auf den ersten Blick absurd: dass in einer Zeit, in der die Zukunft des handfesten Buches mehr als ungewiss ist und die Menschen sich überall und jederzeit mithilfe von Laptop, Tablet, Smartphone und E-Book alle Informationen dieser Welt holen können, solche Paläste entstehen. Die neuen Bibliotheken, verkünden ihre Bauherren stolz, werden gar nicht in erster Linie für Bücher, sondern für Menschen gebaut. Das mag nach einer blöden Floskel klingen, trifft aber den Kern.

Als „Papiermuseen“ hat Kathrin Passig Bibliotheken vor kurzem abgetan. Offenbar ist die Berliner Netzspezialistin noch nicht in Seattle, Amsterdam oder Stuttgart gewesen. Die schwäbische Hauptstadt hat sich 2011 vom koreanischen Architekten Eun Young Yi einen atemberaubenden Bau ins neue Bahnhofsviertel setzen lassen, auf dass dort mit all den Banken und Versicherungen und dem Mega-Einkaufszentrum nicht nur der Kommerz ein Zuhause hat, sondern auch Geist und Kultur. Die Bibliothek als Leuchtturm: Im Dunkeln leuchtet sie in magischem Blau.

Der Bau sorgt für Reibungen, „die Leute sind entweder dafür oder dagegen“, erzählt Elisabeth Halászy, Leiterin der Belletristik. Sie findet, „das spricht fürs Haus“. Langweilig ist es auf keinen Fall. Sie selber ist „sehr happy“ hier.

Die Älteren vermissen ihr altes Wilhelmspalais, vielen ist das ganze Weiß zu steril, der Kubus aus Glasbausteinen mit den gleichförmigen Fensterreihen erinnert sie an ein Gefängnis: „Stammheim 2“, den Spitznamen hatte der knapp 80 Millionen teure Bau schnell weg. Die meisten Älteren kommen, holen sich ihre Bücher, essen vielleicht noch ein paar Maultaschen im Café und verschwinden wieder. Die Jungen aber bleiben. Die ganz Kleinen lümmeln sich auf den Liegewiesen, auf denen auch ein Erwachsener schon mal Mittagsschlaf hält, ziehen sich mit ihren Büchern in Lesehöhlen zurück. Die Jugendlichen leihen sich Laptops aus, treffen sich zu Arbeitsgruppen in den Studienräumen, machen ungestört von häuslicher Fernseherdauerbeschallung oder kleinen Geschwistern Schularbeiten in cooler Umgebung. Nur das Essen und Trinken an den Tischen ist nicht mehr erlaubt: Der Müll wurde ein zu großes Problem.

Denn auch das puristische Stuttgarter Haus, sechs Tage die Woche von morgens neun bis abends neun geöffnet, muss seine Popularität erst mal verkraften. Gerade wurde der Bau zur Bibliothek des Jahres gekürt, nicht wegen der Architektur, wie es heißt (wobei die Juroren die Augen vor dieser mit Sicherheit nicht verschlossen haben), sondern wegen ihres vielfältigen Angebots, zu dem auch berufliche Fortbildungen und Internetschulungen gehören. Ein CDU-Politiker hat schon die Sonntagsöffnung beantragt. Aber die ist bisher nur Unibibliotheken erlaubt. Immerhin können sich Nachtschwärmer noch morgens um drei mit Stoff versorgen, sich an einem Eingang aus Automaten Bücher von Stephen King und Filme von Jim Jarmush ziehen: „Night on Earth“. Die „Bibliothek der Schlaflosen“ wurde von Azubis bestückt.

Als „People’s Palace“ hat die niederländische Architektin Francine Houben ihren Bau in Birmingham bezeichnet. So fühlt er sich auch an. Wenn die Besucher (15 000 sind es an Samstagen) durch die großzügigen Räume streifen, um dann auf eine der beiden Gartenterrassen zu treten, die jede Berliner Fünfsternehotelbar schmücken würden, und in der Kälte auf ihre von Wirtschaftskrisen gebeutelte Stadt blicken, merkt man ihnen Rührung und Stolz an.

In Birmingham, und nicht nur hier, soll der Bibliothekspalast als Anziehungspunkt zum Aufschwung beitragen. „Wir sehen uns ebenso sehr als Teil der ökonomischen wie der kulturellen Landschaft“, sagt Bibliothekar Paul Hemmings. Dass die Idee oft funktioniert, hat in diesem Frühjahr eine Ausstellung in der Akademie der Künste vor Augen geführt. Unter der Überschrift „Kultur: Stadt“ hat der Berliner Architekt Matthias Sauerbruch gezeigt, wie Kulturbauten ganz unterschiedlicher Größe der Stadtentwicklung entscheidende Impulse geben, die oft knapp als „Bilbao-Effekt“ umschrieben werden. In der Schau wurden auch einige Bibliotheken vorgestellt, Birmingham, dessen Library mit dem frisch renovierten Stadttheater nebenan verbunden ist, Medellin, Rem Kohlhaas’ Bau in Seattle, der als besonders sexy gilt.

Ein Berliner Projekt war ebenfalls darunter: Max Dudlers Grimm-Zentrum, die Bibliothek der Humboldt-Universität, die fast am eigenen Erfolg zu ersticken droht. Dort reißt sich die Generation Computer um die Plätze. Kontrolleure prüfen die Studentenausweise, alle anderen müssen raus. Die Arbeitsatmosphäre in den eleganten Räumen empfinden selbst diejenigen, die zu Hause ein eigenes Arbeitszimmer haben, als inspirierend. Hier treffen sich die „Bipster“, wie Spiegel Online die coolen Bibliotheksbesucher getauft hat. Auch Max Dudler hat die Unibibliothek als öffentlichen Raum konzipiert, zu dem der Vorplatz und die umliegenden Cafés gehören.

Die teuren Stadtbibliotheksgroßprojekte sind nicht unumstritten. Während einerseits repräsentative Flagschiffe hochgezogen werden, werden gleichzeitig – in Großbritannien besonders massiv – kleinere Stadtteilbibliotheken geschlossen. Aber die einen gegen die anderen auszuspielen, wäre fatal, sie erfüllen ganz unterschiedliche Funktionen.

Denn die neuen Bibliotheken sind öffentliche Stadtzentren, überdacht, beheizt und klimatisiert. Die Architektur soll Gemeinschaft stiften. Es gibt kaum einen demokratischeren Ort, in der Bibliothek treffen sich Menschen aller Schichten und Generationen, Villenbewohner wie Obdachlose, Leute mit Gucci-Täschchen und solche mit zerrissener Plastiktüte, Hauptschüler und Akademiker. In Birmingham und Stuttgart sieht man besonders viele Jugendliche mit Migrationshintergrund.

In gewisser Weise sind die neuen Bibliotheken elegante Fortführung der multifunktionalen Stadthallen der 70er Jahre. Hier finden Ausstellungen und Veranstaltungen, Lesungen und Konferenzen statt, Theateraufführungen und Konzerte. Man kann als Verein Räume mieten, an Seminaren teilnehmen, ja, in Stuttgart kann man sogar heiraten. Selbst Brautpaare, die sich nicht hier trauen lassen, kommen fürs offizielle Foto gern in den offenen Galeriesaal, stellen sich auf eine der Treppen, die wie Bühnen wirken. Jeder Besucher, der die Stufen hoch- oder runterläuft, wird zum Schauspieler. Die AOK hat hier schon einen Werbefilm fürs gesunde Treppensteigen gedreht, Modefirmen reißen sich um Shootings. Die Popularität führt zum permanenten Balanceakt: Die Bibliothek legt Wert darauf, immer noch in erster Linie Bibliothek zu sein und keine Location.

Papiermuseum? Die neuen Häuser bieten Hunderte von Computerplätzen, Laptops und freien Zugang zum Internet. Denn auch wenn Netzspezialisten sich das vielleicht nicht vorstellen können: Es gibt noch immer reichlich Menschen, die das nicht haben. Aber ohne Internet kann man weder Wohnung noch Arbeit finden. Und selbst wer bestens vernetzt ist: Der digitale Mensch sehnt sich nach analoger Gesellschaft, einem realen Ort.

Als Kaufhaus hat ein Londoner Architekt die Library of Birmingham bezeichnet, und das war nicht nett gemeint. Mit den zentralen Rolltreppen, den großen offenen Etagen und der rummeligen Atmosphäre erinnert der Bau tatsächlich ein wenig an ein Kaufhaus. In Birmingham ist es, anders als in Stuttgart, nicht so leicht, ein ruhiges Plätzchen zu finden, es brummt fast überall, es gibt kaum geschlossene Räume. Die Großzügigkeit hat ihren Preis. Aber viele von denen, die erst mal nur durchrauschen, kehren als Nutzer zurück.

Das ist ja das Schöne an den neuen Bibliotheken: dass sie gerade keine Kaufhäuser sind. Man muss hier nichts kaufen, kann stundenlang bleiben, ohne zu zahlen. Selbst wenn man etwas konsumiert, dient es einem guten Zweck. In Stuttgart hat man sich keinen Starbucks reingesetzt, das Café wird von der Caritas als Integrationsprojekt betrieben.

Natürlich wird die Bibliothek jetzt nicht völlig neu erfunden, Etliches gibt es in Ansätzen schon in den älteren Gebäuden, nur meist sehr viel gequetscher. Natürlich gibt es auch Interessenkonflikte, angefangen bei demjenigen zwischen dem Architekten, der Offenheit und Minimalismus, vielleicht auch Selbstdarstellung will, und dem Bibliothekar, der seine Bücher unterbringen und Kostbarkeiten vor Licht schützen will. Leser in Seattle beschweren sich über den Gestank der Penner, die Kohlhaas’ Prunkstück zu ihrem Zentrum erkoren haben, den ganzen Tag in den Sesseln dösen. In Stuttgart beklagen sich Ruhebedürftige, dass das neue Haus zu lebhaft sei. In Birmingham hat man an manchen Ecken den Eindruck, dass das Buch dort eher dekorative Kulisse denn Gebrauchsgegenstand ist. Und doch: Die Bilanz ist überwältigend.

Auch Berlin hatte mal einen „People’s Palace“, nur wurde der Palast der Republik abgerissen. Der Schlossplatz wäre der ideale Standort gewesen für eine Zentralbibliothek, die diesen Namen wirklich verdient. Die Chance wurde verschenkt. Die zweitbeste Chance sollte man auf keinen Fall vertun. Oslo wird 2016 seine große neue Bibliothek eröffnen, Helsinki 2017. Berlin ist überfällig.

Die 177 Millionen Euro teure Library of Birmingham wurde eröffnet von Malala Yousafzai, der 16-jährigen Friedensnobelpreiskandidatin, die wegen ihres Engagements für die Schulbildung von Mädchen fast umgebracht wurde, nach Birmingham ins Krankenhaus kam und nun dort lebt. In ihrer Rede sang sie das Hohelied auf die Welt des Wissens und Lernens. Die Architektin Francine Houben übertreibt nicht, wenn sie Bibliotheken „die wichtigsten öffentlichen Gebäude“ nennt.

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