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Christian Streich, Trainer FC Freiburg

© Anja Limbrunner

Christian Streich, Trainer des SC Freiburg: „Ich hab schon einen seltsamen Beruf“

Große Ziele setzt sich Christian Streich nie, er will ja nicht daran scheitern. Warum er die unverbiegbare Natur genießt und Zufall im Fußball minimieren will.

Herr Streich, Toni Kroos ist 24 Jahre alt und gerade von Bayern München zu Real Madrid gewechselt. Dort verdient der frisch gebackene Weltmeister sechs Millionen Euro pro Jahr – netto!

Solche Summen sind kaum vorstellbar, ja. Aber es ist halt so, dass der Fußball materiell viel umsetzt, Millionen sind fasziniert von dem Spiel und schauen es im Stadion oder am Fernseher. Die handelnden Personen in diesem Geschäft, wenn man es so nennen mag, kriegen ganz oben in der Leistungspyramide sehr, sehr viel Geld.

Angela Merkel als Bundeskanzlerin verdient 205 000 Euro, sie müsste 60 Jahre lang Regierungschefin bleiben, um auf dem Konto zu haben, was Kroos in einem einzigen Jahr bekommt.

Es gibt Krankenschwestern, Altenpfleger, Betreuer von Behinderten, die arbeiten alle sehr hart, und wenn man deren Verdienst in Relation setzt, wird’s kompliziert – man kann das als total ungerecht betrachten. Andererseits verhält sich einer wie Kroos ja nicht unethisch.

Der SC Freiburg ist ein eher armer Bundesligist, trotzdem schätzen Insider Ihr Trainergehalt als gut doppelt so hoch wie das der Kanzlerin. Ist das okay?

Ich denke schon oft über den Wert von Arbeit nach. Ich sage mir dann, wir haben auch einiges zu tragen, wie lange kann einer diesen Job im Fußball machen? So relativiert man es für sich selber.

Sie waren jahrelang überaus erfolgreich als Nachwuchstrainer und deutlich schlechter bezahlt als heute. Ist Ihre Arbeit denn so viel besser geworden?

Nein, nein, nein. Ich habe vom zeitlichen Umfang her ebenso viel gearbeitet. Die Intensität war mit der A-Jugend nicht geringer, die Vorbereitungen aufs Spiel waren genauso penibel. Wir müssten da mal weg vom Fußball und eine ganz grundsätzliche Diskussion führen: Wie definiert unser politisches System Arbeit, was wollen wir? Dieses Thema betrifft die ganze Gesellschaft. Was sich bei mir geändert hat durch den Wechsel zu den Profis, ist der Druck. Da kommen 24 000 ins Stadion und wollen so viel Vergnügen wie möglich, und ich bin ein Teil davon, ihnen dieses Vergnügen zu bieten. Es ist nicht ohne, diesem Anspruch gerecht zu werden. Statt 300 schauen jetzt Zehntausende drauf, davon kannst du dich nicht frei machen.

Schlafen Sie schlechter?

Nein.

Empfinden Sie Ihre Popularität als belastend oder beglückend?

Beides. Es ist toll, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen, gelobt zu werden. Mensch, ihr kickt gut, auch wenn ihr mal verliert, ihr gebt alles – das ist eine wahnsinnige Bestätigung. Aber ich werde erkannt, in Hamburg genauso wie in Freiburg. Nur weil ich jede Woche im Fernsehen zu sehen bin. Das erhöht den Spannungsgrad. Ich grüße in alle Richtungen manchmal wildfremde Leute, um nicht als unhöflich zu gelten. Früher wäre ich bei einer Radtour abgestiegen und hätte an einen Baum gepinkelt, das geht nicht mehr. Weil, alle haben ein Handy dabei, überall sind diese Fotos. Das habe ich lernen müssen. Ich wollte mich nicht mit solchen Dingen befassen, ich wollte es nicht. Das war naiv.

Joachim Löw und Sie kommen aus derselben Ecke Südbadens. Löw sagte mal: „Ich habe früh den Drang verspürt, wegzugehen. Ich wollte die Welt kennenlernen.“ Sie sind in der Heimat geblieben.

Ich war auch neugierig und bin als junger Kerl viel gereist. Mit dem Bus durch Mexiko und Guatemala, durch Asien, mit dem Kajak über die masurischen Seen in Polen. Doch meine Bindung zu Freiburg ist eng, als Profi, als Student, ich durfte als Trainer die Fußballschule mit aufbauen.

Sie haben eine ungewöhnliche Karriere gemacht: Hauptschule, Lehre zum Industriekaufmann, Abitur im zweiten Bildungsweg, Fußballprofi, dann Studium der Germanistik und Geschichte. Sind Sie froh, dass dieser Weg möglich war?

"Planen, das klappt eh nicht"

Christian Streich, Trainer FC Freiburg
Christian Streich, Trainer FC Freiburg

© Anja Limbrunner

Es gab keinen anderen. Ich konnte das nicht aussuchen, ich hatte keine Karriereplanung. Wenn ich sagen würde, in drei Jahren möchte ich das und das erreichen, und es tritt nicht ein, dann müsste ich ja denken, ich hätte versagt, das will ich nicht. Ich lebe ziemlich in der Gegenwart. Ich mach was und schau dann, was rauskommt.

Ihr Leben hat sich einfach so ergeben?

Planen, das klappt eh nicht. Das Leben ist unberechenbar. Und man selber ist auch immer wieder unberechenbar, das muss man ehrlich sagen.

Ihr Bild in der Öffentlichkeit sieht so aus: Streich mit wirren Haaren, er fuchtelt an der Seitenlinie mit den Armen, er rollt die Augen, er brüllt – ein Trainer in Ekstase. Wenn Sie sich in der Sportschau sehen, denken Sie: Hey, das bin ich?

Ich bin gar nicht so erpicht, mich im Fernsehen zu sehen. Ich sehe mich jeden Morgen beim Zähneputzen im Spiegel. Eigentlich reicht das. Ich bin mehr interessiert, andere zu sehen als mich selbst.

Die „Welt“ charakterisiert Sie so: „Er wägt jeden Satz ab, besonnen.“ Die „Badische Zeitung“ schreibt hingegen: „Er drückt aus, was ihm gerade durch den Kopf geht. Keine diplomatischen Floskeln.“ Sie sind immer auch das Gegenteil von sich selbst.

Das bringt es ganz schön zum Ausdruck. Der Mensch besteht doch aus vielen emotionalen Zuständen, er ist mal erregt, mal ist er nachdenklich. Es gibt Spiele, da hocke ich mich immer wieder hin, ich hocke ganz lange auf der Bank, dann rufe ich zwei Mal in 90 Minuten etwas ins Spielfeld, garantiert ist dieses Bild am Tag drauf in der Zeitung. Jeder muss einen Weg finden, mit seinen Gefühlen umzugehen, denn ich garantiere Ihnen: Es gibt keinen unemotionalen Trainer, ich kenne nicht einen. Und ehrgeizig sind alle.

Ottmar Hitzfeld bekam Magengeschwüre, Ralf Rangnick meldete sich mit Burnout ab, Thomas Tuchel ist aus seinem Vertrag ausgestiegen wie Pep Guardiola, der ein Sabbatjahr machte, Hermann Gerland von den Bayern klagte über nächtliche Schweißausbrüche. Ist so ein Trainerjob der Tod auf Raten?

Das würde ich nicht sagen. Es ist ein äußerst intensiver Beruf, und all diese Reaktionen sind für mich nachvollziehbar.

Sie sind seit 20 Jahren Trainer, wie bekommen Sie denn den Kopf frei?

Beim Fahrradfahren…

…drehen sich die Gedanken doch wie die Pedale!

Ich steige nicht aufs Tretrad in der Wohnung und starre die Wand an. Was mir immer hilft, ist die Natur, sie gibt mir im wahrsten Sinne des Wortes Luft. Natur ist unverbiegbar, da steht der Baum, da fließt der Bach, und der fließt auch weiter ohne mich, das ist stark und beständig, da sind Vögel und Schmetterlinge. Und das alles gibt Energie.

Haben Sie sich mal während eines Spiels den Puls messen lassen?

Nein, das will ich auch nicht. Ich fahre auch nicht mit dem Rad hier ins Dreisamtal und schaue auf den Tacho: Ah, 18,3 Kilometer. Da wäre ich ja wieder in der Schleife, der ich entrinnen will: messen, vergleichen, gewinnen, verlieren.

Nun ist die WM in Brasilien gerade ein paar Wochen vorbei. Haben Sie davon etwas gelernt?

Die besten Fußballer und so viele gute Mannschaften in kurzer Zeit, klar ist es interessant, sich einige Anregungen zu holen. Doch da wird nichts neu erfunden, es gibt immer nur Trends. Die Systeme, die heute gespielt werden, sind schon 1920 oder 1940 gespielt worden. Chile spielt 3-5-2 mit Außenverteidigern, die eigentlich Stürmer waren, ungeheuer offensiv, man hätte auch 3-3-4 sagen können, das hat es vor 100 Jahren schon gegeben. Oder wenn man Mexiko und Chile gesehen hat, mit einer Mischung aus Raum- und Manndeckung, das geht auf Marcelo Bielsa von Athletic Bilbao zurück.

Was bringt’s Ihnen?

Die Idee, dass Chile das gut gemacht hat gegen vermeintlich individuell bessere Gegner. Dann fragst du dich, wie kann ich gegen so eine Mannschaft taktisch antworten? Und wie kann ich Elemente von denen ins eigene Spiel einbauen?

Wie viele Varianten können Sie mit Ihrer Mannschaft trainieren?

Zwei, drei, bloß nicht übertreiben. Ein System muss lange mit einer Mannschaft eingeübt werden.

Sie haben die WM im Fernsehen verfolgt. Was man da sieht, ist ein von Regisseuren aus drei Dutzend Kameras zusammengemischtes Fußballtheater. Verrät Ihnen das etwas über die Wirklichkeit des Spiels?

Individualtaktisch kann ich einiges erkennen. Verhalten beim Zweikampf. Treten die Innenverteidiger raus, wenn die Stürmer sich zurückfallen lassen und zwischen den Linien schwimmen? Lässt einer den Gegenspieler laufen und bleibt im Raum, oder folgt er ihm 40 Meter? Was fehlt, ist die Vogelperspektive, so lassen wir unsere Spiele filmen, da seh’ ich bei der Analyse alle 22 Spieler.

Panini-Bilder zu sammeln war das Vergnügen dieses Sommers. Waren Sie als Kind auch so verrückt danach?

Komischerweise gar nicht. Ich hatte auch keine Starposter oder Vereinswimpel im Zimmer hängen. Geschwärmt hab ich schon. Beckenbauer, mit welcher Grazie der über den Platz ging, nie hat er gegrätscht. Gerd Müller, mit welchem Instinkt der Tore gemacht hat! Bei der WM 1974 war ich neun Jahre alt, ich habe alle Spiele bei meinem Onkel in der Wirtschaft geguckt. Spieler mit langen Haaren und Locken, wie die mit dem Ball jonglierten. Das hab ich auf dem Hof stundenlang ganz alleine nachgespielt, ich war zwei Mannschaften und mal der und mal der Spieler. Ich sah einen Trick und habe versucht, ihn zu reproduzieren. Ich dachte, das lerne ich nie, und nach zwei Wochen konnte ich’s.

"Wenn sich einer aufplustert, ist er oft nur unsicher"

Man sieht seit der WM Kinder den Ball mit der Brust stoppen und volley schießen.

Klar, die wollen James sein, der Kolumbianer, oder Götze, weil sie deren Tore gesehen haben. Zeitlupe, auch so eine Faszination. Wenn man diese Bewegungsmuster immer wiederholt, das ist gar nicht so blöd, da bleibt was hängen.

Die Presse hat es als Geniestreich von Löw gefeiert, er habe fleißig Eckbälle und Freistöße üben lassen…

Na, sowas!

…und da fragt man sich: Gehört das nicht zum normalen Training?

Da hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, Vorreiter war Barcelona. Die hatten viele kleine Spieler und mussten sich überlegen: Mit welcher Variante spiele ich einen Eckball, damit nach drei, vier Pässen einer zum Abschluss kommt. Diese Variante kennen dann alle Gegner. Deshalb heißt’s, wie kriege ich es hin, dass Spieler ein möglichst großes Repertoire an Ideen haben und schauen – wie steht der Gegner gerade beim Freistoß? –, um dann gemeinsam in schnellen Abläufen den Ball so zu spielen, dass sie größtmöglichen Erfolg bringen. Diese Prozesse werden eingeübt, denn jeder weiß: 35, 40 Prozent der Tore entstehen aus Standardsituationen.

DFB-Chefausbilder Frank Wormuth hat gerade auf einer Trainertagung eine neue Taktik skizziert: Den geplanten Fehlpass. Das kann ja heiter werden.

Denkbar ist das schon. Im Moment versucht ein Spieler, der von drei Gegnern attackiert wird, aus der Situation etwas Vernünftiges zu machen. Er könnte den Ball auch wegschenken und dann den Gegner unter Druck setzen. Man müsste das ganze Handeln und Denken ändern, hin zur Destruktivität, und diese in Konstruktives umwandeln.

Was an Ihnen auffällt, Herr Streich, sind Ihre unermüdlichen Gesten. Sie unterstreichen jeden Satz wie ein Süditaliener mit Fingern, Händen, Armen, die mal den Tisch streicheln, mal durch die Luft fliegen.

Ich muss ja viel erklären, und ich tu es gar nicht immer schlecht, finde ich. Aber ich will es genauer machen, verständlicher. Mit Worten geht das nicht immer. Wenn ich sage „ganz wenig“, dann ist das so…

(Streich hält Daumen und Zeigefinger in zwei Millimeter Abstand)

…und „viel“ ist so…

(die Hände halten ein unsichtbares DIN A-4-Blatt)

…und „richtig groß“ geht halt so.

(beide Arme sind wie Adlerschwingen ausgebreitet)

Sie reagieren auch Ihren Spielern gegenüber arg emotional, Sie umarmen, herzen, küssen auch mal einen auf den Kopf.

Das ist etwas Dankbares, weil sie sich eingesetzt haben, auch etwas Anerkennendes oder Tröstendes, wenn einer schlecht gespielt hat.

Fußballlehrer heißt Ihr Beruf offiziell, Sie sind Pädagoge. Wenn Sie einen Angeber im Team haben, wie bringen Sie den wieder in die richtige Spur?

Christian Streich, Trainer FC Freiburg
Christian Streich, Trainer FC Freiburg

© Anja Limbrunner

Wenn sich einer aufplustert, ist er oft nur unsicher. Er versucht sich zu schützen, indem er die Schuld auf andere schiebt. Ich muss also aufpassen, dass er in seiner Unsicherheit nicht völlig zumacht und blockiert. Er darf nicht das Gefühl haben, ich habe was gegen ihn und schicke ihn gleich weg. Es geht immer um einen konstruktiven Weg. Ich nehme deine Signale so und so wahr, wie siehst du das? Er ist vielleicht vor den Kopf gestoßen, weil er eine ganz andere Wahrnehmung von sich hat. Das braucht einen sensiblen Umgang miteinander.

Hätten Sie eigentlich als Spieler beim heutigen SC Freiburg eine Chance gehabt?

Puuuh, ich glaube nicht. Zu langsam, zu anfällig für Verletzungen, mein Körper hätte das nicht hergegeben.

Die Freiburger Fußballschule ist extrem erfolgreich, das legt den Schluss nahe, Erfolg sei planbar. Nun hat Philipp Lahm gerade seinen Rücktritt von der Nationalmannschaft so begründet: „Wir Sportler befinden uns in einer ständigen Abhängigkeit von Zufällen, von Dingen, die wir nicht beeinflussen können – manches ist einfach auch Glück.“

Vor ein paar Jahren hätte ich noch heftig widersprochen und gesagt, Glück spielt keine große Rolle. Doch du kannst noch so akribisch und empathisch arbeiten – dann kommt eine Krankheit und aus ist. Der Zustand ist dauerhaft fragil, da hat Lahm recht. Letztlich geht es darum, den Einfluss von Glück und Zufall zu minimieren.

Nach dem WM-Erfolg gehört Joachim Löw zu den Unsterblichen , er hat alles richtig gemacht. Hätte Higuain in der 21. Minute des Finales einen Fehler von Kroos zum Tor genutzt, wäre Löw heute womöglich das Weichei, das keinen Titel gewinnen kann.

Für das Erreichen des Finales hätte er Respekt in den Medien bekommen, das musst du erst einmal erreichen. Aber das Team hätte gegen Algerien verlieren können, die waren ja richtig gut, die Algerier, stellen Sie sich das mal vor! Meine Oma sagte gern: „Heute Hosianna und morgen kreuziget ihn.“ An dieses Extrem kann ich mich nicht gewöhnen, ich habe schon einen seltsamen Beruf.

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