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Deutsche Truppen probten die Invasion an der französischen Küste.

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Das Unternehmen "Seelöwe": Warum Hitlers geplante Invasion von England scheiterte

Im Sommer 1940 sollten deutsche Spione auf den britischen Inseln die Invasion vorbereiten. Hitler wollte England „den Fangstoß“ versetzen, seine Agenten scheiterten kläglich. „Wegen ihrer Dummheit“, glaubte man in London lange. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

In der Nacht zum 3. September 1940 landete an der südenglischen Küste ein Schlauchboot, gerudert von zwei Männern, dem Deutschen Jospeh Waldberg und dem Deutsch-Holländer Carl Meier. Einige Stunden zuvor waren sie mit einem Kutter von Boulogne abgesegelt, auf See hatte sie ein deutsches Minenräumboot in Schlepp genommen und in Küstennähe waren sie in das kleine Boot umgestiegen. Ausgerüstet waren sie mit einem batteriebetriebenen Funkgerät, einer Pistole, Landkarten, Geheimtinte und 60 Pfund Sterling in 5-Pfund Scheinen. Außerdem führten sie Lebensmittel mit sich: Wurst, Fleischkonserven, Schokolade und Zigaretten – alles deutsche Produkte. Auf festem Boden angekommen, vergruben sie ihr Funkgerät und verbrachten den Rest der Nacht versteckt in einem Graben.

Am nächsten Morgen lief Meier, der im Unterschied zu Waldberg recht gut Englisch sprach, zum nächstgelegenen Ort Lydd, um etwas zu trinken zu kaufen. Als er im Gasthaus „Rising Sun“ Apfelwein verlangte, wurde die Wirtin misstrauisch: Offensichtlich handelte es sich bei ihm um einen Fremden, der die englischen Schankvorschriften nicht kannte, die den Verkauf von Alkohol am Vormittag untersagten. Als er auf ihren Rat hin später wiederkam, wurde er verhaftet.

Im September sollte die Invasion beginnen

Im Verhör versuchte er sich als holländischer Flüchtling auszugeben, musste aber nach der Untersuchung des Gepäcks zugeben, dass er und Waldberg im Auftrag des deutschen militärischen Nachrichtendienstes, des Amtes Ausland/Abwehr (kurz: Abwehr), gekommen seien, um minenfreie Strände und Fallschirmlandeplätze zu melden. Waldberg stand seit 1937 im Dienst der Abwehr, Meier, ein Mitglied der rechtsextremen „Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland“ war erst vor Kurzem rekrutiert worden. Nach Beginn der Invasion, die ihnen für Mitte September zugesagt worden war, sollten sie sich unauffällig unter die Bevölkerung mischen.

Kurz darauf wurden zwei weitere Männer nicht weit entfernt festgenommen. Die Holländer Charles van den Kieboom und Sjord Pons kamen ebenfalls mit einem Schlauchboot und fast identischer Ausrüstung. Sie liefen einer Küstenpatrouille in die Arme, als sie ihr Gepäck verstecken wollten. Auch sie behaupteten, holländische Flüchtlinge zu sein, auch ihnen glaubte man nicht. Mit Meier und Waldberg wurden sie am 6. September an den britischen Inlandsgeheimdienst MI 5 übergeben. Guy Maynard Liddell, der Direktor der Spionageabwehrabteilung des MI 5, kommentierte verblüfft: „Diese Spione waren ungewöhnlich schlecht angeleitet, und jedem, der nur die geringste Kenntnis von den Verhältnissen in unserem Land besitzt, müsste klar gewesen sein, dass nicht einer von ihnen Erfolg haben würde.“ In der von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen Publikation „British Intelligence in the Second World War“ (1990) heißt es dazu knapp: „Alle vier wurden vor allem wegen ihrer Dummheit gefasst.“

Nivea im Gepäck: Die Fehler der Agenten

Deutsche Truppen probten die Invasion an der französischen Küste.
Deutsche Truppen probten die Invasion an der französischen Küste.

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Diese vier Männer sollten die Vorhut des „Unternehmen Seelöwe“ bilden – der geplanten Invasion der Britischen Inseln. Wenige Wochen zuvor, am 16. Juli, hatte Hitler in seiner „Führerweisung Nr. 16“ verkündet: Da England trotz seiner aussichtslosen militärischen Lage nach dem siegreichen deutschen Westfeldzug keinerlei Verständigungsbereitschaft zeige, solle ein Landungsunternehmen durchgeführt werden, um Großbritannien als Basis für die Fortsetzung des Kriegs gegen das Deutsche Reich auszuschalten. An die drei Wehrmachtteile ging der Befehl, alle notwendigen Vorbereitungen bis Mitte August abzuschließen. Die Abwehr wurde angewiesen, mit Schiffen und Flugzeugen so viele Spione, wie in kürzester Zeit gefunden werden könnten, in Großbritannien einzuschleusen, um der Wehrmacht ein Bild von der britischen Verteidigungsfähigkeit zu vermitteln.

In den folgenden Wochen wurde „Seelöwe“ immer wieder kontrovers diskutiert. Die Heeresleitung begrüßte einen schnellen Angriff und behauptete, zusätzlich zu den 13 Divisionen, die bereits an der französischen Kanalküste mit schwerem Gerät und mehr als 4000 Fahrzeugen ständen, bis Mitte August weitere 34 000 Fahrzeuge und 57 000 Pferde herbeischaffen zu können. Auch die Luftwaffe sprach sich für eine Invasion aus und sagte zu, schon bald 25 000 Mann als Luftlandetruppen sowie 750 Transportflugzeuge und 150 Lastensegler zur Verfügung zu stellen.

Einzig die Marine hatte Bedenken

Die Seekriegsleitung dagegen meldete große Bedenken an: Der Ärmelkanal sei ein tückisches Gewässer mit gefährlichen Untiefen und Strömungen. Dort sei die Royal Navy nicht nur zahlenmäßig der deutschen Kriegsmarine hoch überlegen. Auch benötige man Spezialtransportschiffe mit geringem Tiefgang und neuartige Landungsrampen, die erst noch gefertigt werden müssten. Weiterhin sei die Stärke der Küstenverteidigung völlig ungeklärt und schließlich sei ohne absolute deutsche Luftüberlegenheit das Wagnis viel zu groß und nicht zu verantworten.

Die strittige Diskussion veranlasste Hitler, seinen Angriffstermin auf den 15. September zu verschieben. Vorher sollte die Luftwaffe „verschärfte“ Angriffe gegen die südenglischen Flugplätze fliegen. Höhepunkt dieser Luftangriffe sollte der 13. August sein, der „Adlertag“, wie ihn der neu ernannte Reichsmarschall Göring bezeichnete. Doch am Ende des Tages hatten 62 deutsche Piloten ihr Leben verloren oder waren gefangen genommen worden. Die Royal Air Force blieb weiterhin einsatzfähig.

Ob Hitler damals wegen des ausbleibenden Erfolgs der Luftwaffe und wegen des immer noch ungelösten Rätsels der britischen Verteidigungsstärke die Chancen von „Seelöwe“ als zu gering einschätzte oder ob er wegen der bereits angelaufenen Planung des Unternehmens „Barbarossa“ gegen die Sowjetunion sein Interesse an der Landungsoperation verloren hatte, ist nicht geklärt. Sein für den 11. September erwarteter Befehl zum Start des „Seelöwen“ blieb jedenfalls aus. Er verschob den „Fangstoß“ gegen Großbritannien weiter – zunächst bis zum Frühjahr 1941, dann auf die Zeit nach der von ihm zuversichtlich erwarteten Sieg über die Sowjetunion. Erst am 13. Februar 1942 verzichtete er endgültig auf eine Durchführung von „Seelöwe“.

Das Boot kam vom Kurs ab, die Crew war betrunken

Im Spätsommer 1940 jedoch war bei der Abwehr „Operation Lena“ – der Einsatz von Spionen gegen die Britischen Inseln – schon längst angelaufen. Federführend war die Hamburger Abwehrstelle, zuständig waren ihre Referate I M (Marine) und I L (Luft). I M wollte in zwei Gruppen operieren: Im Süden Englands sollten die Spione unter dem Decknamen „Hummer Süd“, in Schottland als „Hummer Nord“ arbeiten. Meier, Waldberg, van den Kieboom und Pons waren die ersten „Hummer Süd“-Spione, am 23. September wurde das nächste „Hummer Süd“-Kommando verhaftet: Der Kutter „La Part Bien“ mit seinem schwedischen Kapitän Hugo Jonasson und zwei Belgiern wurde von einem britischen Patrouillenboot im Kanal gestoppt. Im Verhör gestanden die drei Männer, von der Abwehr angeworben zu sein. Allerdings waren sie eher unversehens in die britischen Küstengewässer geraten. Eigentlich sollten sie in Le Touquet weitere Spione aufnehmen, waren aber vom Kurs abgekommen, weil sie zu viel getrunken hatten.

Die ersten „Hummer Nord“-Spione wurden am 30. September im schottischen Portgordon aufgegriffen: Vera von Schalburg und Karl Drücke trugen durchnässte Kleidung, obwohl es nicht regnete. Sie gaben sich zunächst als Flüchtlinge aus Norwegen aus, aber ein Funkgerät, eine Mauser 6.35, Landkarten, gefälschte britische Identitätskarten und 400 Pfund Sterling in ihrem Besitz straften auch ihre Legende Lügen.

Über ein zweites „Hummer Nord“-Kommando fällt das Urteil der Historiker F. H. Hinsley und C. A. G. Simkins geradezu vernichtend aus: „Von allen Spionen, die hierhergeschickt wurden, waren sie bei Weitem am schlechtesten vorbereitet. Sie waren nie ausgebildet worden, ihre Anweisungen lauteten nur, per Fahrrad kreuz und quer durch Schottland zu fahren und Telefonleitungen zu kappen, um Verwirrung zu stiften.“

Im Gepäck: eine Dose Nivea

Der Deutsche Otto Joost und die beiden Norweger Gunnar Edvardssen und Legwald Lund landeten mit ihrem Schlauchboot am 25. Oktober an der schottischen Küste, aber wegen ihrer offenkundigen Orientierungslosigkeit fielen sie einem Polizisten auf. Lund war der Einzige, der Englisch sprach. In Joosts Gepäck fand sich dazu eine Dose Nivea-Creme.

Das Hamburger Luftreferat entsandte bis Mai 1941 außerdem mindestens sechs Spione, die mit Fallschirmen über England absprangen. Der erste, ein Schwede mit dem Namen Gösta Caroli, fiel auf, weil seine Krawatte nach „kontinentaler Art“ mit einem großen Knoten gebunden war. Der Däne Wulf Dietrich Schmidt, wie Caroli ein Bewunderer des deutschen Nationalsozialismus, verriet sich mit seinem ungewöhnlichen Akzent, denn er hatte sein Englisch in Kamerun gelernt. Im Verlauf ihrer Verhöre gelang es dem MI 5, die Spione unter Hinweis auf „die zynische Sorglosigkeit ihrer Hamburger Führungsoffiziere bei der Vorbereitung des Einsatzes“ umzudrehen. Als Doppelspione Summer und Tate funkten sie fortan irreführende Informationen an die Abwehr – Tate sogar bis zum Juni 1944.

Nicht einer der circa 20 von der Abwehrstelle Hamburg nach Großbritannien eingeschleusten Spione konnte seinen Auftrag erfüllen. So blieb das Oberkommando der Wehrmacht weitgehend blind, was die britische Verteidigungsfähigkeit betraf.

Scheitern als Chance: Welche Rolle Stauffenberg spielte

Deutsche Truppen probten die Invasion an der französischen Küste.
Deutsche Truppen probten die Invasion an der französischen Küste.

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Verantwortlich für die Spione war Herbert Wichmann, Kapitän zur See und von 1938 bis 1945 Leiter der Abwehr in Hamburg. Er war laut seinem Bruder „seit 1933 anti-Nazi“ und eng mit den Verschwörern um Stauffenberg verbunden. Die wussten, „auf den Kapitän zur See konnte man zählen“, wie der Historiker Peter Hoffmann in seinem Buch „Widerstand – Staatsstreich – Attentat“ schreibt.

Schon früh hatte Wichmann erkannt, dass Hitler den „großen Krieg“ wollte, und im Angriff auf England befürchtete er den verhängnisvollen Auslöser eines Weltkriegs. Mit Gesinnungsgenossen in der Abwehr entschied er sich deshalb, den „Seelöwen“ zu Fall zu bringen.

"Ein guter Deutscher, aber ein schlechter Nazi"

Einer seiner Vertrauten war der Wirtschaftsjournalist Friedrich Karl Praetorius, Leiter des Referats I (Geheimer Meldedienst), der potenzielle Spione aussuchte und sie an den Juristen Harald Mandt weiterleitete. Mandt, der in Oxford studiert und nach dem Krieg wegen seiner langjährigen Freundschaft zu England mit der Ernennung zum „Commander of the British Empire“ ausgezeichnet wurde, entschied mit Wichmann über ihre Einsatztauglichkeit: Kriterien waren gerade nicht gute Sprach- und Landeskenntnisse, sondern Naivität und möglichst ausgeprägte rechtsextremistische Sympathien. Das Training erschöpfte sich in einer kurzen Funkausbildung, dem Lesen von Landkarten und dem Gebrauch von Geheimtinte. Korvettenkapitän Erich Pheiffer, ein guter Freund Wichmanns, der seit dem Westfeldzug die Abwehraußenstelle Brest leitete, fiel die Betreuung der „Hummer“-Spione zu. Vor seinen Untergebenen soll Pheiffer immer wieder empört die „Gangster-Methoden“ der SS als „Verbrechen gegen die Zivilisation“ angeprangert haben. „Er war ein guter Deutscher, aber ein schlechter Nazi“, charakterisierte ihn der MI-5-Offizier, der ihn 1945 verhörte. Unterstützt wurde Pheiffer von zwei Majoren in der Abwehraußenstelle Brüssel, ebenfalls überzeugte Nazi-Gegner. Gemeinsam erfanden sie die durchsichtigen Legenden der Spione, statteten sie mit den verräterischen deutschen Lebensmitteln aus, organisierten ihre Überfahrt und versicherten ihnen, dass sie in höchstens zwei Wochen mit der Ankunft der deutschen Truppen rechnen könnten.

Die Fallschirmspringer-Einsätze wurden von dem Hamburger Major Julius Boeckel vorbereitet, der schon vor dem Krieg beherzt rassisch und politisch Verfolgte unterstützt hatte. Mit ihm kooperierten die in Den Haag stationierten Majore Walter Schulze-Bernett und Carl Merker, die 1941/42 am Unternehmen „Aquilar“ beteiligt waren, mit dem mehrere hundert Juden aus den Niederlanden herausgeschleust werden konnten. Das Einbehalten oder Manipulieren von unter Umständen verräterischen Funkmeldungen besorgte in der Hamburger Funkzentrale, wo alle Funksprüche aus der westlichen Hemisphäre einliefen, der Leiter des Referates Agentenfunk I i, Max Werner Trautmann.

Das Komplott wurde nie entdeckt

Wichmann und seine Freunde hatten das Glück, dass ihr „Lena“-Komplott nie entdeckt wurde. Wäre ihre Verschwörung aufgeflogen, hätte sie die Hinrichtung wegen Landesverrats erwartet. Was sie mit ihrer Aktion erreichten, war auch für sie selbst nur schwer messbar. Ihr Ziel, Hitlers „großen Krieg“ zu verhindern, verfehlten sie, aber zweifellos hatten sie einen beträchtlichen Anteil daran, dass „Seelöwe“ nie realisiert wurde. Wie wenige andere nutzten sie, ohne Rücksicht auf ihr Leben, ihre Position im Militär, um dem Regime Widerstand zu leisten.

Monika Siedentopf

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