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David van Reybrouck

© Stephan Vanfleteren

David van Reybrouck: „Wahlen sind ein primitives Instrument“

David van Reybrouck stürzte über dem Kongo ab, traf Rebellen und Kindersoldaten. Nun will er Europas Parteien entmachten.

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David van Reybrouck, 42, ist Schriftsteller, Poet, Archäologe und Historiker. Der Belgier schreibt auf Flämisch. „Kongo: Eine Geschichte“ (Suhrkamp) wurde zum internationalen Bestseller. Sein neuestes Buch „Against Elections“ erscheint in Kürze auf Deutsch. Er lebt und arbeitet in Brüssel.

Herr van Reybrouck, deutsche Medien titelten zuletzt: „Brüssel rechtfertigt Regulierungsrekord“, „Brüssel nimmt Meister-Ausbildung unter Beschuss“, „Brüssel zaudert, Moskau lacht“... Ihre Heimatstadt hat ein Imageproblem.

Das schmerzt mich. Mit dem Wort Brüssel verbinden viele im Ausland nur diese hassenswerte, bürokratische, kafkaeske Maschine, die Längen von Gurken vorschreibt. Sogar in Belgien ist die Stadt nicht beliebt, weder bei den Flamen noch bei den Wallonen. Sie ist ein Fremdkörper.

Warum leben Sie dann seit 15 Jahren hier?

Brüssel ist Europas bestgehütetes Geheimnis. Insgesamt keine schöne Stadt, aber sie hat fantastisch schöne Plätze und Parks. Die 1890er Jahre haben uns wunderbare Gebäude geschenkt – und die 1960er wunderbar schreckliche. Es ist eine Metropole mit menschlichen Dimensionen, die Sie mit dem Fahrrad durchqueren können, in der mehr als eine Million Leute aus aller Welt leben. 150 Sprachen werden hier gesprochen. Auf Französisch und Englisch heißt es nicht umsonst Bruxelles und Brussels. Im Plural.

Was denken gewöhnliche Brüsseler über das EU-Viertel mit seinen Glaspalästen?

Manche sind glücklich über die Eurokraten, denen sie Wohnungen für viel Geld vermieten können. Für mich ist es eine fremde Welt, die ich selten betrete. Ganz anders als meinViertel Saint-Gilles, das Kreuzberg von Brüssel, mit seinen Buchläden und Cafés. Das EU-Quartier erinnert mich an die Jura-Fakultät meiner Studentenzeit: junge, gut aussehende Menschen in Anzügen. Die EU wird hauptsächlich von Leuten zwischen 35 und 45 am Laufen gehalten, die meisten bleiben ein paar Monate oder Jahre, dann werden sie weggeweht wie Blätter im Herbst. Das Viertel ist nicht nur architektonisch ein windiger Teil der Stadt.

Es soll dort 20 000 Lobbyisten geben.

Hier war mal ein fantastisches Kunstprojekt zu sehen: „Haus der europäischen Geschichte im Exil“, ein fiktives Museum von Thomas Bellinck, das im Jahr 2063 auf das dann gescheiterte europäische Projekt zurückblickt. In einem Raum standen lauter Schmetterlingskästen. Statt der Tiere waren darin Visitenkarten von Lobbyisten aufgespießt.

Sie sind Aktivist und einer der führenden jungen Intellektuellen Europas. Das Europäische Parlament, das wir dieses Wochenende wählen, darf erstmals über den Chef der Kommission entscheiden. Ist das ein Schritt zu mehr Demokratie?

Dass das Parlament mehr Macht einfordert, ist gut. Es gibt dieses Mal Spitzenkandidaten, das wird wahrscheinlich mehr Leute zum Wählen bringen. Dennoch fürchte ich, dass wir auf europäischer Ebene bloß kopieren, was uns auf der nationalen schon lange frustriert: der große Einfluss von Medien, die Debatten prägen und personalisieren, und die Macht der Parteien zerstören die Demokratie. Überall im Westen gehören politische Parteien zu den Institutionen, denen die Leute am wenigsten vertrauen: Sogar im transparenten Norwegen halten 41 Prozent der Menschen sie für korrupt, in Frankreich 73, in Deutschland 65. Wahlen sind ein primitives Instrument mit einer verrückten Logik. Sie führen dazu, dass Politiker Dinge versprechen, die sie nicht halten können. In Wirtschaft, Forschung, Kunst heißt es immer, Innovation sei nötig, nur die Demokratie scheint keine zu brauchen.

Nun fordern Sie mehr Mitsprache für die Bürger. Ihr Modell heißt G 1000. Ein Scherz?

Ja, nach dem Motto: Wir sind nicht gewählt und beanspruchen trotzdem Macht – wie die G 8 oder die G 20. Die Idee entstand, als Belgien anderthalb Jahre ohne Regierung war, weil sich die Politiker nicht einigen konnten. Es gab viele Proteste, manche Männer beschlossen, sich nicht zu rasieren, bis die Krise endlich beendet wäre. Die G 1000 war sicher die konstruktivste Reaktion. Wenn die Politiker keine Lösung finden, lasst es doch die Bürger versuchen! Es begann in meiner Küche und entwickelte sich zu einem nationalen Ereignis.

Die Rolle der Lobbyisten in Brüssel

David van Reybrouck
David van Reybrouck

© Stephan Vanfleteren

Im ersten Schritt konnten die Belgier online über Diskussionsthemen entscheiden. Anschließend haben Sie tausend zufällig ausgewählte Landsleute zu einem Kongress nach Brüssel eingeladen. Es kamen nur 700. Enttäuscht?

Wenn 70 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme geben, gilt die Wahl ja auch als Erfolg! Außerdem: Die Bahn hatte gestreikt, es war ein Feiertag. Zahlen konnten wir auch niemandem was. Das waren Rückschläge, aber die entwerten das Ganze nicht. Wir hatten 80 Tische in einem 4000 Quadratmeter großen Raum, an denen die Menschen über Migration, den Sozialstaat oder die Verteilung von Reichtum diskutiert und nach Lösungen gesucht haben – respektvoll, ohne Streit. Wir haben darauf geachtet, dass beide Geschlechter, alle Generationen und Provinzen vertreten waren. Es gab Akademiker ebenso wie Arbeiter und Obdachlose.

Setzt sich in einer solchen Runde nicht immer der selbstbewusste Akademiker durch?

Die Gefahr besteht, aber weniger als in der Politik, die ja von Akademikern dominiert wird. Darum haben wir Mediatoren eingesetzt und die Zusammensetzung der Tische regelmäßig geändert, die Leute sollten mal zu zweit oder in kleineren Gruppen diskutieren. Für viele Teilnehmer – besonders für ärmere und weniger gebildete – war es eine außergewöhnliche Erfahrung, Gehör zu finden. Wenn sie Menschen wie Wahlvieh behandeln, werden sie sich wie Wahlvieh verhalten. Wenn sie sie wie Erwachsene behandeln, werden sie Erwachsene sein.

Lobbys dürfte es leichtfallen, die schwächeren Teilnehmer einer solchen Veranstaltung zu beeinflussen.

Im Gegenteil. Als Lobbyist in Brüssel müssen Sie nur auf die Wahlergebnisse warten, und Sie wissen, mit wem Sie in den nächsten fünf Jahren zu Mittag essen sollten. Das Parlament ist statisch. In unserem Modell – wir sprechen von deliberativer Demokratie – wechseln die Entscheider viel schneller.

Sie unterschätzen die Leistung von Politikern. Gerade bei komplexen Themen wie Finanzmarktregulierung müssen sie sich lange einarbeiten und haben dann mehr Expertise als zufällig bestimmte Bürger.

Ich will professionelle Politiker nicht abschaffen, der Dialog mit Bürgerforen könnte ihnen jedoch helfen, ihre Arbeit besser zu tun. Sicher wäre nicht jeder Deutsche in der Lage, das Rentensystem zu reformieren. Aber Politiker machen auch nichts anderes, als zu lesen und sich von Experten beraten zu lassen. Ein europäisches Bürgergremium könnte langfristige politische Ziele festlegen – wie die „Millennium-Goals“ der Vereinten Nationen. Das Argument, dass normale Leute nicht über dieses oder jenes entscheiden dürfen, ist ein Echo aus dem 19. Jahrhundert. Schon Aristoteles, Montesquieu und Rousseau waren der Meinung, dass es viel demokratischer wäre, auszulosen, wer Entscheidungen fällt. Wahlen führen zu einer neuen Form der Aristokratie.

Mit Ihrem Modell gäbe es keine Stromtrassen, Atommüll könnte nirgends lagern. Sollen Politiker nicht gerade solch unangenehme Entscheidungen gegen den Willen der Mehrheit treffen?

Der amerikanische Forscher James Fishkin hat im Ölstaat Texas eine repräsentative Gruppe von Leuten zusammengebracht, Thema Windenergie. Vorher überwog die Ablehnung, später hatten viele Gegner ihre Meinung geändert. Heute hat Texas die meisten Windräder in den USA. Ich finde das ermutigend. Er sagt: In einer Umfrage will man schnell wissen, was die Leute denken, wenn sie nicht denken. Wäre es nicht spannender sie zu fragen, wenn sie die Chance hatten, nachzudenken?

Parteien werden ihre Macht kaum abgeben wollen.

Wir fordern jetzt in Belgien ein Ministerium für Bürgerbeteiligung. G 1000 hat gezeigt, dass sich die Menschen engagieren wollen – und können. Alle großen Parteien hier haben das Thema demokratische Innovation aufgenommen. In der brasilianischen Stadt Porto Alegre entscheidet ein Bürgerausschuss über einen Teil des Haushalts, San Francisco kopiert das Modell gerade. In Europa ist Irland am fortschrittlichsten: Die Verfassungsversammlung dort bestand aus 33 Parlamentsabgeordneten und 66 Bürgern. Und in Deutschland? Ihr habt die Theorien von Jürgen Habermas, auf den viel zurückgeht von dem, was wir tun. Aber in der Praxis gibt es kaum etwas.

Europa sieht sich – trotz Agrarsubventionen und restriktiver Asylpolitik – gern als Leuchtturm der Demokratie. Zu Recht?

Wenn es um Demokratie geht, tun wir so, als gebe es nur eine Form davon, so wie den Einheitshaarschnitt in der Armee. Wir schicken das Ikea-Paket von Wahlen im europäischen Sinn um die Welt, und wenn das Billy-Regal der Demokratie wackelt, haben diese Länder es eben schlecht zusammengebaut. Wenn etwa die Afghanen wählen, gibt es Hilfsgelder. Das ist eine neue Form von Missionierung. Meine kongolesischen Freunde sagen: Wahlen haben uns eine Menge gebracht – mehr Gewalt, mehr Korruption, aber keine Demokratie. Man müsste stattdessen an demokratische Institutionen anknüpfen, die es schon gibt in Afrika.

Besuch beim Osama bin Laden Zentralafrikas

David van Reybrouck
David van Reybrouck

© Stephan Vanfleteren

Zum Beispiel?

Der nigerianische Philosoph Kwasi Wiredu schreibt, dass sich ein Mehrparteiensystem für viele afrikanische Gesellschaften fremd anfühlt, weil es Gewinner und Verlierer produziert, es nach dem Verständnis der Menschen dort bei einer Konfliktlösung aber nur Gewinner geben sollte. Nehmen Sie die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika …

… in der einige Verbrechen des Apartheidregimes aufgearbeitet wurden.

Die Kommission basierte auf der Idee, dass es nicht nur darum geht, Einzelne zu bestrafen, sondern die Gesellschaft als Ganzes zu heilen. Wenn es einen Konflikt gibt, setzt man sich zusammen und hört, unter Aufsicht einer Autoritätsperson, jedem zu. Da können wir von Afrika lernen.

Bekannt geworden sind Sie mit Ihrem Buch über den Kongo, einst belgische Kolonie. Hat Sie das Land interessiert, weil Ihr Vater dort vor Ihrer Geburt bei der Eisenbahn arbeitete?

Mein Vater war Ingenieur, er erzählte gern über Volt und Watt auf der Strecke nach Angola. Sonst sprach er nicht viel. Ich fragte ihn: Wie leben die Leute im Kongo? Darauf antwortete er nur: Sie sitzen auf umgedrehten Bierkisten und trinken.

Sie haben auf Ihrer Recherche mehr als 500 Kongolesen interviewt– und sich auch in Gefahr gebracht.

Ich habe den Rebellenführer Laurent Nkunda besucht, den Osama bin Laden Zentralafrikas. Um mich herum seine Kindersoldaten. Und ich habe einen Flugzeugabsturz überlebt. Im Kongo missglückt alles, sogar die Abstürze. Ich habe keine Familie, das prägt meine Einstellung zum Tod.

Die belgische Herrschaft im Kongo war grausam. Unter König Leopold II. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Kongolesen brutal gezwungen, Kautschuk zu ernten.

Später gab es das nicht mehr. Unmittelbar vor der Unabhängigkeit konnten nirgendwo im subsaharischen Afrika so viele Menschen lesen und schreiben wie im Kongo – auch wenn nur 16 Schwarze einen Uniabschluss hatten.

Ist Ihnen viel Abneigung entgegengeschlagen?

Am Anfang war es mir unangenehm, meine Nationalität zu erwähnen. Die Kongolesen brachten mir bei, dass meine postkolonialen Schuldgefühle sinnlos sind, wenn sie keinen neuen Dialog ermöglichen. Viele im Kongo blicken sogar mit Nostalgie zurück. Historisch ist das falsch. Die Leute denken: Damals gab es wenigstens einen Staat. Verständlich, wenn sie in einem Land leben, in dem Bürgerkrieg herrscht und die Gesundheitsversorgung die schlechteste der Welt ist. Ich war beim Auftritt des Königlich Flämischen Theaters im Kongo dabei, dem ersten seit den 50ern. Der Direktor sagte: Wir entschuldigen uns, dass wir damals nur für Weiße gespielt haben. Die Kongolesen erwiderten: Entschuldigt euch lieber dafür, dass ihr euch 50 Jahre lang nicht wieder habt blicken lassen. Die Europäer wollen mit Afrika nichts mehr zu tun haben. Zu Kolonialzeiten haben wir den Mund aufgerissen, danach geschwiegen. Jetzt ist es Zeit zuzuhören.

Herr van Reybrouck, Ihr Heimatland ist tief gespalten. Wenn schon Wallonen und Flamen keine gemeinsame Identität entwickeln können, wie soll das dann in der EU mit ihren 28 Staaten funktionieren?

Eine wachsende Elite besitzt ja schon eine europäische Identität. Es handelt sich leider fast nur um Leute mit Uniabschluss. Die sprechen unterschiedliche Sprachen, sind auf dem ganzen Kontinent vernetzt. Was kann einem Flamen Besseres passieren, als eine Polin zu heiraten? Das Erasmus-Programm …

… das es einfach macht, einen Teil des Studiums in einem anderen europäischen Staat zu absolvieren …

… war da sehr hilfreich. Ich glaube, Europa braucht etwas Ähnliches für Bäcker und Fleischer. Warum soll ein bulgarischer Fabrikarbeiter nicht mal ein Praktikum in Ostende machen? Wenn nicht alle berücksichtigt werden, wird das europäische Projekt scheitern. Dann können Populisten Ressentiments ausnutzen.

In Belgien gibt es ständig Streit um die Landessprachen. Brauchen wir für Europa eine Lingua franca?

Das Fehlen einer Sprachenpolitik ist ein Problem; alle auf dem Kontinent sollten in der Lage sein, sich miteinander zu verständigen. In Frankreich wurden im 19. Jahrhundert Sprachen wie das Bretonische, Flämische oder Deutsche stark zurückgedrängt. Die EU will so etwas nicht tun, sie ist ein sanftes Imperium. Zum Glück, ich bin sehr dafür, Sprachen zu erhalten. Wissen Sie, dass ich einen Text für die Europahymne geschrieben habe? Mit den Wörtern für Brot aus jeder europäischen Sprache: pane, pano, pain …

Sie singen das zu Beethovens 9. Symphonie.

… das Beste ist der Refrain mit all den slawischen Wörtern: Chléb, chlieb, chleb, chlib … Zusätzlich sind Sprachen wie Urdu und Swahili dabei, insgesamt 70. Neulich habe ich einen Preis gewonnen, bei der Verleihung war auch Herman Van Rompuy anwesend, der Präsident des Europäischen Rats. Mein Lied wurde von einer hübschen Sopranistin intoniert, die danach das Publikum aufforderte, gemeinsam zu singen. Alle taten es!

Warum ausgerechnet Brot?

Menschen in aller Welt vereint, dass wir mit drei Dingen arbeiten: Wasser, Feuer und Getreide. Wir Europäer sind alle Nachfahren von Bauern. Vielleicht denke ich so, weil ich vorgeschichtlicher Archäologe bin. Ich habe in der ägyptischen Wüste ausgegraben und übernachtet. Sehr kalt und sehr schön. Zur Politik fühle ich mich verpflichtet, aber meine eigentliche Leidenschaft ist die Natur.

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