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Unerkannt: Schätzungsweise eine halbe Million Menschen leben ohne gültige Papiere in Deutschland.

© Kai-Uwe Heinrich/Montage: Tagesspiegel

Die Geschichte einer Jamaikanerin in Berlin: Heiraten für den deutschen Pass

Sie kam aus Jamaika nach Berlin – mit einem Touristenvisum und einem Plan. Der ging auf. Nun will Rose Aitken auch ihre Töchter verkuppeln. Die drei sind keine Einzelfälle.

Eines Nachmittags geht Rose Aitken (alle Namen geändert) über den Hermannplatz in Berlin, als sie in ihre Handtasche greift und erschrickt: Versehentlich hat sie die Geldbörse ihrer Tochter eingesteckt, darin deren Monatskarte. Sofort zückt Aitken ihr mit Glassteinen gespicktes Handy und ruft ihre Tochter an, gerade noch rechtzeitig – eben will Tasha am Alexanderplatz in die S-Bahn einsteigen.

Eine Fahrkartenkontrolle könnte das Ende ihres Familienglücks in Deutschland bedeuten. Aitkens Töchter, Tasha, 22, und Ricky, 19, haben keine gültigen Papiere. Sie sind mit einem Touristenvisum eingereist, das seit einem Monat abgelaufen ist. Und sie wollen bleiben, um hier in Deutschland einen Mann zu suchen, er wäre ihre Eintrittskarte in die Erste Welt. Aitken steigt in die U-Bahn.

20 Minuten später trifft sie am Alexanderplatz ihre beiden Töchter und ihr Enkelkind. Tashas und Rickys falsche Haare ziehen Blicke an, sie haben sich mit Modegold behängt, tragen enge, halblange Jeans und knappe Tops, die immer wieder über ihren Bauch hochrutschen. Rose Aitken übergibt die Geldbörse mit der Monatskarte, sie ermahnt die Töchter mit strengem Blick. Das hätte auch schiefgehen können.

Sie haben eigentlich nichts vor an diesem Nachmittag, so wie an den meisten anderen Nachmittagen auch. Also brechen sie auf, um sich die Zeit in einer Berliner Beach Bar zu vertreiben. Es gibt dort einen jamaikanischen Stand. „Jamaican Island“ nennen sie den, ihre Homebase in der fremden Stadt.

Während der U-Bahnfahrt zur Bar flirten die Töchter. Sie lächeln fremde Männer an und lassen dabei ihre weißen Zähne blitzen, streichen über ihre Lippen, schütteln das lange, falsche Haar. Tashas Sohn Arjun, drei Jahre alt, sitzt im Baggy. Auf seinen prallen Wangen zeichnen sich getrocknete Salzbahnen ab. Er zerkaut einen Lolly und quiekt im englischen Patwa-Dialekt, der Sprache der Jamaikaner.

Eine halbe Million Menschen ohne Pass in Deutschland

Wie viele Einwanderer in Deutschland ohne gültige Papiere leben, kann niemand sagen. Schätzungen von Migrationsforschern zufolge sind es eine halbe Million Menschen. Ein guter Teil von ihnen flüchtet nicht spektakulär im Boot über das Mittelmeer oder kommt in einem Kofferraum versteckt über die Grenze, sondern reist ganz offiziell mit dem Flugzeug an, mit einem Visum als Student, Au-Pair-Mädchen, Touristin oder Arbeiter. Wenn das Visum abläuft, bleiben sie einfach da – und suchen nach Wegen, aus der Schattenwelt aufzutauchen, um sich Papiere zu besorgen. So wie Rose Aitken.

Es begann mit einem Zufall. Aitkens beste Freundin heiratete einen amerikanischen Wissenschaftler und zog 2009 mit ihm nach Deutschland. Sie war es, die Rose Aitken vom Leben in Deutschland erzählte, von den schüchternen Menschen dort, die sich nicht grüßen, von den sauberen Straßen, dem guten Geld, den vielen Vorschriften, der Sicherheit. Die Singlemutter Aitken lässt ihre beiden 14- und 17-jährigen Töchter in der Heimatstadt St. Elizabeth zurück und reist im Mai 2010 als Touristin mit ihrer Freundin und gut 1000 Dollar in der Tasche ein. „Wenn wir einmal die Chance haben, nach Europa zu kommen, dann greifen wir zu“, sagt Aitken.

Eine Irrfahrt durch Berlin

Was sie nicht weiß: Der Amerikaner und ihre Freundin haben sich überworfen, die beiden streiten eigentlich nur. Nach drei Tagen in Deutschland flüchten Aitken und die Freundin vor dem Mann, der ihre Freundin angeblich schlägt und droht, sie umzubringen. Die Irrfahrt durch die Szene der Papierlosen und Asylsuchenden in Berlin beginnt.

Nach einem Monat ist Aitkens Geld aufgebraucht, nach einem weiteren ihr Visum abgelaufen. Die Frauen spielen „catch up“ mit verschiedenen Männern: Sie bandeln an und lassen sich durchbringen. Oder sie schlafen heimlich in den Unterkünften von Asylsuchenden.

Aitken ist Mitte 40, aber sie sieht jünger aus, sie ist klein und drall und hat ein hübsches Gesicht. Hohe Absätze, lange, knallpinke Fingernägel, eine Perücke mit glatten, braunen Haaren. Ihre Schönheit ist ihr Kapital, und sie setzt es klug ein, um ihre Ziele zu erreichen.

Asyl, Hochzeit oder Kind

Wer ohne Geld aus einem armen Land kommt, hat nur wenige Möglichkeiten, sich dauerhaft in Deutschland aufhalten zu können: Man stellt einen Asylantrag. Oder heiratet. Oder bekommt ein Kind mit jemandem, der einen EU-Pass besitzt.

Asyl wird Jamaikanern fast nie gewährt. Aitken sagt, nur Homosexuelle bekämen den Schutzstatus: „Schwule werden in Jamaika erschossen oder verbrannt.“ Aitken braucht einen Mann mit gültigen Papieren. Am besten einen gebürtigen Deutschen, den Jackpot. Aitken macht sich auf die Suche, im Internet, in Bars. Im Frühling 2012 lernt sie in einem Irish Pub am Kurfürstendamm einen verschlossenen Steuerberater kennen, sie betrinkt sich mit ihm und schläft bei ihm. Am nächsten Tag bekommt sie zum ersten Mal einen Schlüssel für eine Berliner Wohnung.

Auch die Töchter sollen sich einen der lautlosen Deutschen angeln

Unerkannt: Schätzungsweise eine halbe Million Menschen leben ohne gültige Papiere in Deutschland.
Unerkannt: Schätzungsweise eine halbe Million Menschen leben ohne gültige Papiere in Deutschland.

© Kai-Uwe Heinrich/Montage: Tagesspiegel

Ein Jahr lebt sie gemeinsam mit dem Steuerberater – ohne Papiere. Dann beantragt sie Asyl, wohl wissend, dass sie abgelehnt wird. Aber sie muss ein Fall für die Akten werden, um heiraten zu können. Während die Behörde ihren Antrag prüft, darf sie bleiben. Die deutschen Behörden wollen die Trauung nur zulassen, wenn sie ganz sicher sind, dass es Liebe ist. Unzählige Papiere und Aussagen müssen Aitken und ihr Partner einreichen. Die Behörden wollen es genau wissen: Woher kennen sie sich, und wie lange sind sie ein Paar? Die Ausländerbehörde lässt Nachbarn und die Familie ihres Verlobten befragen, erzählt Aitken. Dann endlich, im Frühjahr 2013, dürfen sich die beiden trauen.

Ob der Ehemann mit ihr glücklich ist, wie sich die Ehe nach zwei Jahren anfühlt und ob sie eine Zukunft zusammen haben werden, darüber redet Rose Aitken nicht gern. Zu dem Steuerberater fällt ihr nicht viel ein, der solle seine Sachen machen, blockt sie ab.

Der erste Teil von Rose Aitkens Plan ist aufgegangen: Besuchervisum, deutscher Mann, Heirat und Aufenthaltserlaubnis. Nun ist sie nur noch einen Schritt von einem vollwertigen Status als Bundesbürgerin entfernt: Drei Jahre muss sie mit ihrem Mann aushalten, so will es das Gesetz, danach könnte sie sich von ihm trennen und trotzdem bleiben. Das wäre in einem Jahr.

Von Kellnerin und Zimmermädchen in Jamaika zur vollversorgten Hausfrau – ein sozialer Aufstieg auf der Überholspur, vorbei an all den Flüchtlingen, die oft Jahre in Baracken hausen müssen und nicht arbeiten können.

Jetzt folgt der zweite Teil des Plans von Rose Aitken: Ihre beiden Töchter sollen nachkommen, samt Enkelsohn Arjun. Auch sie sollen sich einen der lautlosen Deutschen angeln.

Es sind Jahre vergangen, in denen Tasha und Ricky in Jamaika ohne ihre Mutter auskommen müssen. Zusammen leben sie in einer kleinen Wohnung, werden von ihren beiden Vätern, von Freunden in Jamaika und aus Deutschland unterstützt. Tasha wird schwanger von einer Zufallsbekanntschaft, bei der Geburt ist der Vater längst weitergezogen, aber das ist in Jamaika nicht ungewöhnlich.

Nachts hören Tasha und Ricky Schüsse, tagsüber sehen sie, wie betrunkene Männer mit Messern kämpfen. „In Jamaika hat jeder Probleme“, sagen die Schwestern. Besonders stört sie, dass sie in Jamaika wenig Bildung und keine Ausbildung bekamen. Sie hätten weder richtig schreiben noch schwimmen noch sonst irgendetwas gelernt. Wie lange sie eigentlich die Schule besucht haben, wissen sie selbst nicht mehr so genau.

Die Mädchen nehmen viele stundenlange Fahrten nach Kingston, der jamaikanischen Hauptstadt, auf sich, um dort teure Papiere einzureichen. Sechs Anläufe brauchen sie für ihre Visa. Von dem Geld, dem Aufwand, hätte Mutter Aitken ihnen eine Wohnung in Jamaika kaufen können, sagen sie. Die Botschaft befürchtet, dass die Mädchen nicht zurückkommen werden, und verweigert immer wieder die Reise.

Schließlich bringen die Schreiben des deutschen Steuerberaters bei der Botschaft die Entscheidung. Ganz kurzfristig werden Reisepapiere ausgestellt, mit der Auflage, nur einen Tag später zu fliegen, erzählt Rose Aitken. Die Botschaft rechnet wohl nicht damit, dass Tasha und Ricky bereit sind, alles zurückzulassen. Doch das sind sie.

Wie viele Menschen mit abgelaufenem Visum in Deutschland leben, kann niemand sagen. Visa werden bei deutschen Botschaften im Ausland beantragt. Wer bis zu drei Monate bleiben will, erhält das Visum recht unproblematisch, für längere Aufenthalte braucht man Genehmigungen deutscher Innenbehörden wie den Ausländerbehörden. Das Auswärtige Amt weiß nur, wie viele Visa von deutschen Botschaften im Ausland ausgestellt wurden, nicht aber, wie viele Menschen tatsächlich ihre Reise antreten. 2014 wurden knapp zwei Millionen Kurzzeit- und gut 200 000 Langzeitvisa vergeben. Auch Bundespolizei und Innenministerium haben keine Ahnung, wie viele Menschen mit abgelaufenem Visum es in Deutschland gibt. Für präzise Daten müsste im Schengenraum eine einheitliche Zählung eingerichtet werden, darüber wird in der EU zurzeit diskutiert.

Sehnsucht nach der Heimat? Da winken sie ab.

Unerkannt: Schätzungsweise eine halbe Million Menschen leben ohne gültige Papiere in Deutschland.
Unerkannt: Schätzungsweise eine halbe Million Menschen leben ohne gültige Papiere in Deutschland.

© Kai-Uwe Heinrich/Montage: Tagesspiegel

Menschen, die ihre Papiere ablaufen lassen, bleiben wegen der Liebe, so wie eine junge Frau, die sich als Au-Pair in ihren Gastvater verguckt, den Chauffeur hochrangiger Politiker in Berlin. Viele Jahre soll er sie versteckt haben.

Oder sie bleiben wegen Freundschaft oder einfach, so wie viele Asiaten und Amerikaner, um nach dem Auslandssemester noch ein paar Jahre in den deutschen Großstädten zu jobben und in ihren Communitys unterzuschlüpfen.

Oder sie werden im hohen Alter von Verwandten nach Deutschland geholt, damit sie hier von der Familie gepflegt werden können, so sollen es einige muslimische Gemeinschaften machen.

Oder sie kommen eben, um sich einen deutschen Partner zu suchen. Das ist nicht ohne Risiko: Würden deutsche Männer Frauen ohne gültige Papiere schlagen oder sie in Schulden treiben, wären sie ausgeliefert. Sie könnten sich an keinen Polizisten und keinen Anwalt wenden.

Als Tasha, Ricky und der kleine Arjun im Februar 2015 in Berlin Tegel landen, schneit es. Es sind die ersten Flocken, die beide Mädchen sehen. Rose Aitken und ihr Mann nehmen sie in Empfang. Ihre Kinder treten ein in eine neue Welt im bürgerlichen Charlottenburg mit seinen schönen Häusern und noblen Läden. Die Familie besichtigt Berlin, besucht den Zoo, den hohen Turm, die bunten Kieze. Ein idyllischer Familienurlaub im reichen Deutschland, so scheint es zumindest für Aitkens Mann, den Steuerberater.

Die Zeit ist schnell vorüber, das Besuchervisum läuft ab. Aitkens Mann setzt die Schwestern in ein Taxi zum Flughafen. Dort werden die Mädchen nie ankommen. Stattdessen finden Tasha und Ricky Unterschlupf bei einem Bekannten der Mutter. Ihr Mann, der Steuerberater, soll nichts von den Plänen mitbekommen. Er hat Angst, geradestehen zu müssen, wenn auffällt, dass die beiden Mädchen in Deutschland untergetaucht sind, sagt Rose Aitken. Er hat eine Verpflichtungserklärung gegenüber der Ausländerbehörde abgegeben und müsste für die Damen haften, falls sie auftauchen und Sozialhilfe beantragen würden.

„Die deutschen Behörden zwingen uns regelrecht, schwanger zu werden oder zu heiraten“, sagt Aitken. Tasha hat noch in Jamaika einen deutschen Mann im Internet kennengelernt. Sie arbeiten daran, den Mann bei Laune zu halten. Ricky, die Jüngere, weiß nicht so recht, wo sie mal hinwill. Paris wäre gut. „Ist doch in Deutschland, oder?“ Die Damen fragen unverblümt nach Singlemännern, mit denen man zusammenleben könnte und die noch keine Kinder haben. Über einen Mann mit arabischen Wurzeln denken sie kurz nach: „Das sind die, die ihre Frauen verhüllen, oder?“ Die mögen sie weniger.

In der Beach Bar suchen sie erst einmal nach neuen Schlafplätzen für die kommenden Nächte. Aktuell wohnen sie bei Bekannten, aber sie suchen eine Beziehung, je eher, desto besser. Ihre Suche wirkt recht wahllos, vermutlich wäre jeder Mann Recht, es geht hier schließlich um eine größere Sache, um deutsche Papiere, die in ihren Augen höchsten Güter der Welt.

Trennungsschmerz oder Sehnsucht nach der Heimat? Kennen die Jamaikanerinnen nicht. Vermissen sie ihre Freunde und Bekannten? Sie winken ab. Freunde findet man überall, außerdem gibt es ja Skype, und es wird immer billiger, in die Heimat zu telefonieren. Haben sie erst die deutschen Papiere, können sie ja auch mal in die Heimat fliegen, wenn das Geld dazu da ist.

Auch die beiden Töchter werden wohl eine Zweckehe eingehen, die erst mal nach großer Liebe aussieht, zumindest drei Jahre lang. Und weil auch sie hübsch sind, dürfte es ihnen nicht schwerfallen, einen deutschen Mann zu finden. Dem vielleicht etwas vorgespielt wird, der sich aber drei Jahre lang an ihrer Jugend und ihrer Schönheit erfreuen darf. Ist das ein fairer Deal? Und was wird nach den drei Jahren? Sind die beiden Mädchen vorbereitet auf das Leben hier? Und selbst wenn nicht, wer wollte ihnen verwehren, ihr Glück in diesem Land trotzdem zu versuchen? Menschen finden immer Wege, Grenzen zu durchdringen und ihre Träume zu leben, egal, was es kostet – Menschen sind frei. Damit müssen wir rechnen.

Dieser Text entstand in Kooperation mit dem gemeinnützigen Recherchebüro Correctiv, Hintergrundinfos zu Menschen ohne gültige Papiere: hier.

Benedict Wermter

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