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Kischs Karrierestart: Der Spion des Zaren

Der Fall des Oberst Redl ist eine Sensation: Es geht um Verrat, schwulen Sex, Prunksucht. 1913 wird der Offzier zum Suizid gedrängt. Für die Reporterlegende Egon Erwin Kisch ist es der Start einer großen Karriere.

Im Morgengrauen des 25. Mai 1913, einem Sonntag, fand man erwartungsgemäß die Leiche von Oberst Alfred Redl. Sie lag im Zimmer 1 des Wiener Hotels Klomser, Herrengasse/Ecke Bankgasse, gleich gegenüber vom legendären Café Central.Erwartungsgemäß, weil die Kollegen ihn am Abend zuvor dort aufgesucht hatten. „Oberst Redl wird blaß wie ein Toter, denn er weiß, daß er ein Toter ist“, beschreibt Egon Erwin Kisch später die Szene. Die Delegation hatte Redl die Selbsttötung nahegelegt, zu diesem Zweck einen Colt Typ Browning mitgebracht, zusammen mit einer Gebrauchsanweisung. Redl war zwar Generalstabschef des VIII. Armeekorps in Prag, trotzdem soll er nicht gewusst haben, wie man mit einer Pistole umgeht.

Am 26. Mai erschien im „Neuen Wiener Tageblatt“ eine Meldung über den „Freitod“ Redls. Einer „der tüchtigsten und verwendbarsten Offiziere des Generalstabs“ habe offenbar in einem „Anfalle von Geistesstörung“ Hand an sich gelegt. Einen Tag später vermuteten die Wiener „Zeit“ und die Prager „Bohemia“, dass der Tod mit einem Spionagefall in Zusammenhang stehe. Das Militär tat alles, um die Geschichte zu verschleiern. Bereits am nächsten Tag ließ man Redl heimlich beisetzen. Doch das löste erst recht eine Welle von Recherchen, Gerüchten und Erfindungen aus, die eine der größten Spionageaffären am Vorabend des Ersten Weltkriegs ans Licht brachten.

Ein oberster Spionjäger entpuppt sich als Oberspion! Seine Kameraden versuchen zu verbergen, dass Italien, Frankreich, allen voran aber Russland und durch Russland auch das höchst brisante Serbien von oberster Stelle über Pläne für den Ernstfall informiert wurden! Möglicherweise mit der Folge, dass Österreichs Position im Krieg von Anfang an entscheidend geschwächt war!

Bis in die Gegenwart hat die Affäre Redl wie nur wenige andere Spionagefälle ihre Faszination bewahrt. Die Zutaten des Falls waren einfach zu verlockend: Spionage und Verrat, Homosexualität, Luxus und Verschwendung, ein kopflos agierendes Militär, ein mehr als peinlich berührtes Kaiserhaus und eine unnachgiebig recherchierende, freilich auch wild spekulierende Presse.

Fest steht der Verrat. Fest steht, dass Redl homosexuell war und ein für seine Verhältnisse völlig überdimensioniertes Luxusleben führte. Fest steht, dass man in seiner Wohnung über 400 Filme mit Aufnahmen von militärischen Geheimdokumenten fand, dass er für seine Dienste allein von Russland nach heutigem Kurs mindestens 500 000 Euro, wahrscheinlich eher das Doppelte erhielt. Auf die Spur kam man ihm nur durch Zufall, schließlich durchsuchte eine Militärkommission seine Prager Wohnung, forderte ihn in Wien zum Suizid auf.

Vor allem die Vertuschungsversuche, internen Zwistigkeiten und die Konfrontation des im folgenden Jahr in Sarajevo ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand mit seiner Generalität trugen zu interessegeleiteten Versionen bei. Das Militär legte es darauf an, den angerichteten Schaden nicht ruchbar werden zu lassen.

Hat Redl tatsächlich die gesamten Aufmarschpläne gegen Russland verraten oder „nur“ die Ernstfallmaßnahmen in Galizien, Truppenstärken und Eisenbahnkontingente, Mobilmachungs- und Festungspläne? Ist er wegen seiner Homosexualität erpresst worden oder hat er aus Gier und Hang zum Luxus gehandelt, einer von unzähligen „Selbstanbietern“, die der russische Geheimdienst in seinen Akten verzeichnete? Verena Moritz und Hannes Leidinger kommen in ihrer 2012 erschienenen, bisher seriösesten und solidesten Darstellung des Falls aufgrund von russischen Archivfunden zur Annahme, dass die Russen nichts von Redls Homosexualität wussten, der sich vielmehr von selbst und unter Decknamen angeboten habe.

Erpresst worden ist Redl tatsächlich – von einschlägigen Partnern. Gewiss ist, dass er am Ende durch einen postlagernden Brief mit Geld aus Russland überführt wurde. Aber ob ihn darauf drei oder vier Personen aufsuchten, ob in Zivil oder Uniform, ob er einen Zettel mit der Zeile „Ich bitte um Nachsicht und Schonung!“ oder drei Abschiedsbriefe hinterließ, alles das ist ebenso wenig klar wie wem genau zu verdanken ist, dass der Skandal der Spionage wie der der Vertuschung nach und nach ans Licht kam. Eins jedenfalls ist klar: Egon Erwin Kisch war es nicht.

Genau Kisch aber war es, der die vermeintlich definitive Auflösung lieferte. Seine 1924 in einem Büchlein der Reihe „Außenseiter der Gesellschaft“ erschienene Version gilt bei vielen noch immer als die verbindliche Darstellung des Falls Redl, der nie an die Öffentlichkeit gekommen wäre, hätte der raffinierte Reporter sich nicht seiner angenommen. Kisch hat damit nicht nur ganz entscheidend seinen Ruf als „rasender Reporter“ gesichert, sondern auch zahlreiche nachfolgende Darstellungen inspiriert. Doch war es allenfalls teilweise so, wie Kisch überliefert hat, und seine Rolle war nicht mehr als die eines dreisten Trittbrettfahrers.

So kann man heute zusätzlich zum Fall des Oberst Redl einen – exemplarischen – Fall Kisch studieren.

Die Geschichte ist für sich genommen zeitsymptomatisch und tragisch genug. Redl wurde 1864 im galizischen Lemberg als eins von sieben Kindern geboren, der Vater, ein Eisenbahnoberinspektor, legte Wert auf eine dreisprachige Erziehung – polnisch, ukrainisch und deutsch. Obwohl Alfred Redl nur eine einfache Kadettenschule besucht hatte, machte er schnell Karriere, führte 1907 das „Kundschaftsbüro“ und avancierte rasch zum stellvertretenden Leiter des „Evidenzbüros“, wie die Österreicher ihren militärischen Nachrichtendienst nannten. Im Mai 1912 stieg er zum Generalstabschef in Prag auf.

Hinterher wollten alle gewusst haben, dass Redl schwul war, obwohl die Presse zunächst noch nach einer Frau an seiner Seite fahndete. Delikate Details wurden nach und nach breitgetreten, sein Besitz von pornografischen Bildern ebenso wie die Inventarliste seiner Leibwäsche. Kisch zum Beispiel schrieb ihm die monströse Zahl von 400 Paar Glacéhandschuhen zu.

Redl war als Spionjäger erfolgreich gewesen, Ankläger in zahlreichen Prozessen, mischte sich aber auch derart ein, dass man ihn später verdächtigte, er habe von sich ablenken wollen. Er, dem man eine glänzende Karriere vorausgesagt hatte, bekam nun jedwede Charakterschwäche attestiert. Offenbar war er tatsächlich äußerst eitel, wollte überdecken, dass er nicht von Adel war. Er fuhr einen sündhaft teuren Daimler mit Prinz-Heinrich-Karosserie, versehen mit einem vermeintlich adligen Wappen, spendierte seinem Geliebten einen fast ebenso teuren Wagen, hielt sich zwei Chauffeure, drei Diener und etliche Reitpferde. Niemandem seiner Kameraden soll das ungewöhnlich vorgekommen sein? Mag sein, dass er nicht unmittelbar wegen seiner Homosexualität zur Spionage gepresst worden war. Doch die „physische Abnormität“, wie es in einer offiziellen Verlautbarung heißt, stand unter Strafe, war gerade im Militär verpönt. Unschwer vorstellbar, wie das sein Leben prägte, seine Geltungssucht ebenso wie all die ständigen Vertuschungsmanöver und die kleinen, miesen Erpressungen, denen er sich ausgesetzt sah.

Redl, bald zum „Unredl“ gestempelt, fand öffentlich keine Gnade. Noch im Juni 1913 wurde sein Grab von „aufgebrachten Bürgern“ geschändet. Man spekulierte, ob er Protegé eines mächtigen Schwulenrings gewesen sei, nahm ihn als Exempel einer verschworenen Kaste. Kaiser Franz Joseph wiederum soll ihn als eine jener „Kreaturen“ bezeichnet haben, die die neue Zeit hervorbringe, Exempel für die fatale bürgerliche Aufweichung des adligen Stabsoffizierstums. Den Sozialisten war er ein Beispiel für die Dekadenz der Monarchie, der Kirche für sündhafte Gottesferne.

Sicherlich ist sein Fall Beispiel dafür, wie Korpsgeist blind machte, wie eine unfähige Militärkaste von einem Debakel ins nächste und in die große Katastrophe trieb. Nachdem der dilettantische Versuch missglückt war, den Verrat zu verheimlichen, ging man mit dosierten Informationen an die Öffentlichkeit. Nicht nur seinen unmittelbaren Vorgesetzten war der Fall gefährlich, auch dem umstrittenen Stabschef Conrad von Hötzendorf kam er höchst ungelegen, fürchtete er doch neuerliche Unruhen in Ungarn. Vor allem das Ausmaß des Verrats wurde heruntergespielt, auch gegenüber Kaiser und Thronfolger.

Tatsächlich war Redl nur ein besonders spektakulärer von mehreren Verratsfällen in den Offiziersrängen. Damals muss geradezu Spionagehysterie geherrscht haben. Ständig wurden neue Fälle ruchbar, Verdächtigungen laut. Russland, England, Italien, Österreich und Deutschland spionierten in jedweder Richtung. Selbst die eng liierten deutschen und österreichischen Armeen hielten ihre Erkenntnisse und Geheimnisse voreinander verborgen. Anfang 1913 war übrigens ein deutscher Unteroffizier enttarnt worden, dessen Berichte nach Russland noch gravierender als die Redls gewesen sein sollen – jedenfalls nach Ansicht von Maximilian Ronge, Schüler Redls und nachmaliger Leiter des Evidenzbüros. Keine überraschende Einschätzung, diejenigen, die 1913 Redls Verrat kleingeredet hatten, begannen ihn schon 1914 und vollends nach 1918 aufzubauschen. Redl diente nun als Sündenbock für eigenes Versagen.

„So einzigartig der Kriminalfall Redl auch scheinen mag – er wird sich immer in irgendeiner Form wiederholen. Denn die Staaten sind selbst Auftraggeber dieses Verbrechens, das die Staaten selbst bestrafen, mit dem Tod durch den Strang oder mit der Verbannung nach der Teufelsinsel oder mit dem Kommando zum Selbstmord“ – so Egon Erwin Kisch 1924 über den „Weltskandal“. Für den bekennenden Kommunisten war Redl symptomatischer Exponent eines irreparablen Systems. Entsprechend hat er damals seinen „Tatsachenbericht“ aufbereitet. Und dabei sich selbst so hemmungslos inszeniert, dass das Buch fortan als exemplarisch für couragierten investigativen Journalismus galt.

Kisch hat sich zunächst der weithin bekannten Fakten bedient, Hintergrundgespräche und Interviews mit den maßgeblich Beteiligten suggeriert und zahlreiche unbekannte Details beigebracht, schließlich aber einen besonderen Coup offeriert: Die Durchsuchung von Redls Prager Wohnung sei nur offenbar geworden, weil er, Kisch, in der Fußballmannschaft einen Schlosser hatte, der von den Militärs zur Öffnung der Wohnung herangezogen worden war. Der Schlosser habe beim Spiel gefehlt und folglich habe man verloren. Zum Beleg zitiert Kisch eine Zeitungsmeldung. Allerdings existiert die nicht, wie auch sonst so gut wie nichts an der Geschichte stimmt.

Der seinerzeit einzig nachweisliche Beitrag Kischs ist ein Artikel vom Juni 1913, in dem er einen Besuch bei Redls Zahnarzt schildert. Umso lebhafter hat er die Fakten aufmontiert und sich selbst als Akteur mitten hinein. Allein die zahlreichen Versionen, die er zwischen 1924 und 1942 lieferte, widersprechen sich immer wieder. Namen sind erfunden oder falsch wiedergegeben, Artikel werden zitiert, die es so nicht gegeben hat. Er fantasiert das Codewort für den postlagernden Brief: „Opernball 13“, das dann in weiteren Darstellungen anderer Eingang fand. Auf Wikipedia ist die Story gleichwohl noch zu lesen, immerhin mit Hinweis auf Zweifel daran. Ganz augenscheinlich hat Kisch Dinge vom Hörensagen ausgeschmückt und aufgeputzt, aber auch Gespräche für seine Zwecke umgedeutet.

Eine wahrheitsgetreue Rekonstruktion der Geschehnisse wird es nie mehr geben können – dazu sind von vornherein die Vertuschungen und Spekulationen der Beteiligten zu vielfältig gewesen. Es bleiben die vielen Geschichten und Bilder, die sich in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben haben. So wird für viele wahrscheinlich Redl seit István Szabós Film von 1985 das Gesicht von Klaus Maria Brandauer tragen. Und es bleibt ein Lehrstück über ein marodes System am Vorabend des Ersten Weltkriegs, zugleich ein Lehrstück über die Verquickung von Fakten und Fiktionen zu Mythen. Darin darf denn auch das nicht fehlen: Nicht erst die Nazis, aber vor allem sie, erklärten den Verräter Redl zum Juden. 1944 entfernten sie seinen Grabstein.

Erhard Schütz

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